Jochen Hippler

 

Wahlen im Nahen und Mittleren Osten

  

 

 

1          Politische Rahmenbedingungen

 Die Region des arabischen Nahen und Mittleren Ostens (wobei die Türkei, der Iran und Israel also unberücksichtigt bleiben), ist von autoritären bis diktatorischen Regierungsformen geprägt, die republikanisch oder monarchisch verfaßt sind. Grundlegende Bürgerrechte – etwa Presse- oder Versammlungsfreiheit – sind deutlich eingeschränkt oder fehlen ganz, Menschenrechte werden nur teilweise oder gar nicht respektiert. In einem solchen Rahmen politischer Restriktionen kommt es in den meisten (nicht in allen) Ländern der Region zu Wahlen (Präsidentschafts-, Parlaments- oder Kommunalwahlen), die allerdings häufig unter Bedingungen stattfinden, die oppositionellen Kräften kaum eine Chance lassen und sich in einem Bogen zwischen verzerrten Wettbewerb und einer bloß akklamativen Funktion bewegen.  

Zu den politischen Rahmenbedingungen gehören in den meisten Ländern - neben dem repressiven Charakter der jeweiligen Staatsapparate – häufig leistungsschwache oder inkompetente Bürokratien, wirtschaftliche Krisen und schwache Bildungssysteme, Korruption, außenorientierte, egoistische und verknöcherte soziale und politische Eliten, eine politische Bedrohung des Status-quo durch die Kräfte des Politischen Islam (Islamismus), die langjährige Konfrontation mit Israel und die Besetzung Palästinas, und der prägende Einfluss westlicher Länder, insbesondere der USA und (im Maghreb) Frankreichs, dabei in den letzten Jahren insbesondere die von der US-Regierung proklamierte Politik einer „Demokratisierung“ der Region und der Krieg gegen und die Besetzung des Irak.

Dieses Bündel wirtschaftlicher und politischer Probleme bildet ein ernsthaftes Hemmnis bei der Entwicklung demokratischer Strukturen und fairer, partizipativer Wahlmechanismen. Zugleich führt es zur zunehmenden Notwendigkeit politischer und wirtschaftlicher Veränderung. Dabei verlaufen im Nahen und Mittleren Osten die Debatten um „Reformen“ und „Demokratisierung“ selten als Einheit, sondern häufig als Gegensätze: „Reformen“ sollen nicht zur Demokratie führen, sondern diese gerade durch eine Modernisierung gesellschaftlicher und vor allem wirtschaftlicher Strukturen vermeiden helfen. Die meisten politischen Eliten der Region denken intensiv darüber nach, wie sie ihre durch den gesellschaftlichen Problemstau und die islamistische Opposition bedrohte Machtstellung verteidigen können – und begreifen Demokratie nicht als Lösung, sondern als zusätzliche Bedrohung. Reformen und Versuche wirtschaftlicher Modernisierung sollen hier einen Ausweg eröffnen, da es bei ihnen um die Reform und Modernisierung der bestehenden Machtverhältnisse, nicht um die Neuverteilung der Macht gehen soll.

Dies ist auch der Grund dafür, dass Wahlmechanismen in der Region häufig ebenfalls nicht im Kontext von Demokratie oder Demokratisierung begriffen werden müssen, sondern – durch ihr sorgfältiges Design und subtile bis robuste Manipulation – als Versuche, die Machteliten zu sichern und dabei höchstens ein begrenztes Ventil für die Opposition zu öffnen.  

Lassen wir die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte hier beiseite und konzentrieren uns auf drei zentrale politische Rahenbedingungen. 

  1. Im Zusammenhang mit dem Palästinakonflikt entwickelte sich aus der fortgesetzten Erfahrung von Niederlagen und Besatzung ein politischer Diskurs, nationale Befreiung und die Zurückweisung kolonialer oder nachkolonialer externer Einflüsse als Voraussetzung interner Demokratisierung zu betrachten. Externe Bedrohung und Besatzung wurden als Gründe eines Aufschiebens interner Öffnung und Demokratisierung betrachtet: Häufig wurden sie von Regierungen zum Vorwand genommen, sich selbst an der Macht zu halten und dauerhaft diktatorisch zu etablieren. Diese Position ließe sich in der Formel „Erst nationale Befreiung (incl. die Palästinas), dann Demokratisierung“ zusammenfassen. Das Gefühl der Schwäche und eines Quasi-Belagerungszustandes führt zu einer defensiven und konservativen Mentalität, die politischen Veränderungen gegenüber extrem zurückhaltend ist. In diesem Sinne stellt der Palästinakonflikt einen objektiven und subjektiven Faktor dar, eine Demokratisierung arabischer Länder dauerhaft aufzuschieben.

  2. Der Aufschwung des Islamismus seit der Niederlage arabischer Länder im Sechs-Tage-Krieg von 1967 (der den politischen Bankrott der Ideologie und Politik des Arabischen Nationalismus symbolisierte) und der islamischen Revolution im Iran 1978/79 entwickelte sich zur Bedrohung der säkularen autoritären und diktatorischen Regime der Region. In diesem Kontext nutzen diese das Argument, den Islamismus auch mit repressiven und diktatorischen Mitteln bekämpfen zu müssen, um dessen anti-demokratische und repressive Tendenzen zu bekämpfen. Dieses Argument wurde von Teilen der Gesellschaften, vor allem aber den westlichen Regierungen akzeptiert, obwohl es aufgrund des repressiven Charakters der bedrohten Regime selbst auf einem schwachem Fundament beruhte. Auf jeden Fall half – und hilft – das Argument einer islamistischen Bedrohung bei der Rechtfertigung repressiver und diktatorischer Regime.

  3. In den letzten Jahren wuchs in einer Reihe von arabischen Ländern das Drängen nicht allein auf die ökonomische Reform der Gesellschaften, sondern auch nach Demokratisierung, trotz teilweise schwacher Zivilgesellschaften. Die wachsende Diskrepanz zwischen den ideologischen Ansprüchen der Regime und ihrer Repression, Korruption und Inkompetenz ließen das Bedürfnis nach Mitsprache, Rechtsstaatlichkeit und einer Rechenschaftspflicht der Regierenden wachsen. Dabei entstand das Problem, dass diese innergesellschaftliche Tendenz eines Strebens nach Demokratisierung auf einen außenpolitischen Kontext traf und weiter trifft, der von einer ideologischen und politischen Offensive der US-Regierung zugunsten von „Demokratisierung“ des Nahen und Mittleren Ostens und zugleich den Kriegen und der Besatzung Afghanistans und des Irak gekennzeichnet ist. Beides tendiert dazu, jeden Demokratisierungsdiskurs in den arabischen Ländern zu schwächen oder zu diskreditieren, da der Demokratisierungsbegriff oft als US- (oder westliches) Exportprodukt zur Steigerung des eigenen Einflusses und zugleich als Demagogie wahrgenommen wird, die von der Irakpolitik (etwa den Folterskandalen von Abu Ghraib) und der traditionellen Unterstützung lokaler, pro-westlicher Diktaturen dementiert wird. Rechtsstaatlichkeit, Mitsprachemöglichkeiten und Transparenz wurden also zunehmend als wichtige Ziele vertreten, aber der Begriff der „Demokratisierung“ nicht selten als fremde Verschwörung zurückgewiesen. 

Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Region des arabischen Nahen und Mittleren Ostens aufgrund der inneren Krisen und externen Drucks politisch in Bewegung geraten ist.[1] Es ist ein inneres Öffnungs- und Demokratisierungspotential entstanden, das von außen sowohl unterstützt, als auch behindert wird. Dabei kommt es, in der Regel stärker aufgrund taktischer Erwägungen denn einer prinzipiellen Entscheidung, zunehmend zur Einführung oder Reform von Wahlmechanismen. Ob dieser Trend sich verfestigen kann und zu einer Dynamik der Demokratisierung führend wird, ist gegenwärtig allerdings fraglich, da die meisten internen Eliten nicht daran denken, sich selbst zur Disposition zu stellen.  

 

2          Grundtypen des Umgangs mit Wahlmechanismen

 In der Region des arabischen Nahen und Mittleren Ostens lassen sich vereinfacht vier Grundtypen von Wahlprozessen bzw. Parlamenten unterscheiden.  

  • Das Fehlen von Wahlen insgesamt, wie in den Vereinigten Arabischen Emiraten und – von einem jüngerem Experiment mit Kommunalwahlen abgesehen – Saudi-Arabien;

  • Regelmäßige, von oben kontrollierte Wahlen zu allerdings bedeutungslosen Parlamenten, die über keine eigene Macht verfügen, wie in Tunesien, Libyen oder Syrien;

  • gelenkte Wahlen mit gewissen Freiheitsspielräumen, die aber zu keiner Änderung der Regierung führen (können), wie etwa in Ägypten, Algerien oder dem Yemen; und

  • relativ freie und faire Wahlen unter Bedingungen militärischer Besatzung, also bei eingeschränkter oder fehlender staatlicher Souveränität, wie in Palästina und dem Irak.

 

Diese Grundtypen kommen allerdings nicht in Reinform, sondern häufig hybrid vor, so dass manche Länder nicht eindeutig zugeordnet werden können. Außerdem lassen sich in den letzten Jahren in vielen Ländern Reformprozesse beobachten, die den Repressionsgrad vermindern, zu größerem Pluralismus führen und manchmal gezielt Wahlmechanismen stärken, ohne deshalb bisher zu Demokratien zu führen. Von daher ist die Zuordnung zu den genannten Typen nicht immer einfach, und es gibt durchaus Ansätze zur Entstehung neuer Varianten, etwa in den kleineren Golfstaaten. Die folgenden Länderbeispiele folgen den vier erwähnten Grundtypen.

  

3          Fallbeispiele[2]

3.1     Absolute Monarchien

Am Persischen Golf gibt es heute eine große Bandbreite unterschiedlicher Verfahrensweisen bei Wahlprozessen. Ein Pol besteht in einer schrittweise politischen Öffnung von oben, die in manchen Ländern (z.B. Kuwait, Bahrain) bis hin zur Einführung allgemeiner Wahlen reicht (siehe unten), das Gegenmodell in weiter bestehenden absoluten Monarchien, die Wahlen weiterhin für schädlich oder überflüssig halten und höchstens in eng umgrenzten Fällen mit ihnen experimentieren (punktuelle Kommunalwahlen in Saudi-Arabien). Der klassische Fall eines Landes ohne jede Wahlmechanismen sind die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE).

3.1.1      Die Vereinigten Arabischen Emirate

Die Vereinigten Arabischen Emirate (Unabhängigkeit von Großbritannien 1971, fortan: VAE) werden vom absoluten Herrscher, dem Scheich von Abu Dhabi, gemeinsam mit einem Rat aus allen Emiren der Föderation regiert. Der Präsident (der Emir Abu Dhabis) ernennt den Ministerpräsidenten und die Minister, wobei er auf die Interessen der anderen Emirate, tribale Loyalitäten und wirtschaftliche Interessen Rücksicht nimmt, aber prinzipiell an keine Einflussnahme durch ein Parlament oder die Bevölkerung gebunden ist. Sei 1972 verfügen die VAE über ein beratendes, parlamentsähnliches Gremium (40 Mitglieder), dessen Mitglieder allerdings nach wie vor ausschließlich von den erblichen Herrschern der sieben einzelnen Emirate aufgrund eines Verteilungsschlüssels nach der Bedeutung des jeweiligen Emirats für zweijährige Amtszeiten ernannt werden. Parteien existieren nicht, und auch aufgrund des wirtschaftlichen Erfolgs der VAE fehlt nennenswerter Druck aus der Gesellschaft zur Einführung von Wahlen. Die Regierung der VAE verfolgt insgesamt einen Kurs, der einschneidende wirtschaftliche Modernisierung und Diversifizierung erfolgreich betont, während die Ausdehnung politischer Freiheits- und Partizipationsrechte abgelehnt wird. 

3.1.2      Saudi Arabien

Auch Saudi Arabien ist eine absolute, erbliche Monarchie. Anfang der 1990er Jahre erließ der König eine Reihe von Dekreten, die dem politischen System einen formellen Rahmen gaben. Offiziell ist der Koran die Verfassung des Landes, aber faktisch tragen auch diese Erlasse Verfassungscharakter. Damals wurde dem Ministerrat eine Beratende Versammlung an die Seite gestellt, deren Mitglieder allerdings nicht gewählt, sondern vom König ernannt werden. 2003 entschied der König, Gemeinderäte aus jeweils 14 Mitgliedern einzuführen, von denen die Hälfte (durch nur männliche Wähler) gewählt werden sollten. Diese Wahlen fanden zum ersten Mal von Februar bis Mai 2005 statt. Dabei setzten sich überwiegend islamische und gemäßigt islamistische Kandidaten mit technischer Fachkompetenz durch. Politische Parteien bleiben verboten. Die saudische Regierung legitimiert sich primär religiös, hat dies in der Vergangenheit allerdings durch Verteilung wirtschaftlicher Wohltaten flankiert. Wirtschaftliche Probleme und vor allem die außenpolitische Allianz mit den USA (z.B. bezogen auf Afghanistan und den Irak) haben die innenpolitische Legitimität der Regierung allerdings untergraben, so dass diese nun über sehr behutsame Möglichkeiten einer begrenzten und kontrollierten politischen Öffnung nachdenkt, ohne allerdings an Macht einbüßen zu wollen. Das politische System bleibt eine absolute Monarchie, wenn auch in innenpolitisch schwierigerer Lage als in den benachbarten VAE. 

 

3.2     Demonstrationswahlen

Andere Länder, häufiger in Nordafrika und im Nahen Osten als am Golf, verfügen seit längerem über Parlamente und regelmäßige Wahlen. Diese sind aber häufig bedeutungslos, da sie weder erkennbaren Einfluss auf die politische Machtverteilung haben, noch zu einem Regierungswechsel führen können. Typische Beispiele sind Tunesien und Syrien, aber unter anderen Rahmenbedingungen könnte man auch Libyen zu dieser Gruppe zählen. Hier sollen Wahlen nicht der Allokation von Macht und Ämtern, sondern der Demonstration von Unterstützung der Bevölkerung für eine autoritäre oder diktatorische Regierung dienen.

3.2.1      Tunesien[3]

Tunesien stellt den klassischen Fall einer autoritären, präsidial geprägten Einparteienherrschaft dar, die durch die Lizenzierung einiger (gegenwärtig sieben) kleinerer, handverlesener und mit geringer Bedeutung ausgestatteter oppositioneller bzw. schein-oppositioneller Parteien nur notdürftig verhüllt wird. Parteien, die über eine eigene soziale Basis verfügen und zur Machtalternative werden könnten (vor allem die islamistische en-Nahda Partei), bleiben verboten, politische Oppositionelle werden verfolgt. Seit 1994 ist nicht mehr allein die Regierungspartei Rassemblement Constitutionelle Démocratique (RCD) im Parlament vertreten. Bei den letzten Parlamentswahlen (Oktober 2004, fünfjährige Wahlperiode) gewann die RCD 152 von 189 Sitze, bei den gleichzeitig stattgefundenen Präsidentschaftswahlen der RCD-Kandidat Ben Ali (Präsident seit 1987 durch einen Putsch) 94,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Bei den letzten Kommunalwahlen erhielt die Partei 93,9 Prozent. 22,7 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Frauen.[4]

Der wichtigste Mechanismus der Herrschaftssicherung besteht nicht in einer offenen Fälschung der Wahlen – obwohl es immer wieder entsprechende Kritik bzw. Wahlboykotte von Oppositionsparteien in dieser Hinsicht gibt – sondern in der fortgesetzten Schaffung von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Wahlen in ein enges Korsett pressen: reglementierte und staatlich kontrollierte Medien, Unterdrückung bzw. eine strenge Kontrolle aller zivilgesellschaftlichen oder potentiell regimekritischen Organisationen, Einschüchterung und Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte und Versuche, auch durch positive Politikelemente wie einen niedrigen Grad an Korruption und selektive Sozial- und Gesellschaftspolitik eine breitere soziale Basis zu gewinnen gehören zu den Instrumenten.  

3.2.2      Syrien[5]

Nicht wesentlich anders sieht es in Syrien aus, obwohl hier aufgrund der dortigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, eines weit größeren Maßes an Korruption und der Nachbarschaft zu Israel und dem Libanon andere Rahmenbedingungen bestehen. In Syrien gibt es Kommunal- und Parlamentswahlen (zuletzt 2003) und Referenden zur Präsidentschaft, bei der der einzige Kandidat zuvor durch die Arabische Sozialistische Baath Partei bestimmt wird (zuletzt 2000, Wahlergebnis 97,3 Prozent). Es besteht Wahlpflicht. Neben der Baath Partei existieren sieben (bzw. offiziell neun) von der Regierung lizenzierte Blockparteien, die gemeinsam mit der Staatspartei in der Nationalen Progressiven Front zusammengeschlossen sind. Der Baath Partei wird von der Verfassung weiterhin eine „Führungsrolle“ übertragen. Von den 250 Parlamentssitzen dürfen seit 1980 offiziell maximal 83 von „unabhängigen“ Kandidaten besetzt werden, die restlichen 167 stehen mindestens der Nationalen Progressiven Front zu, von denen bei den letzten Wahlen 137 durch die Baath Partei „gewonnen“ wurden. Von den „unabhängigen“ Abgeordneten sind allerdings nur eine Handvoll tatsächlich oppositionell oder regimekritisch. Es kommt periodisch zur Inhaftierung kritischer Abgeordneter. 30 Abgeordnete (alle von der Baath oder den Blockparteien) sind Frauen. Im April 2005 beschloss die Regierung ein neues Verfahren für die für 2007 geplante Kommunalwahl, nach dem die geschlossenen Listen der Nationalen Progressiven Front abgeschafft werden.

Meinungs-, Versammlungs- oder Organisationsfreiheit besteht nicht, der Grad der Repression durch die Sicherheitskräfte schwankt seit dem Tod Hafiz al-Asads (dem Vater des gegenwärtigen Präsidenten Bashar al-Asad), bleibt aber insgesamt hoch.  

3.2.3      Libyen[6]

In Libyen gibt es keine offizielle Staatspartei (Parteien sind verboten, wenn auch eine Arabische Sozialistische Union, ASU, parteiähnliche Funktionen erfüllt, insbesondere die Bevölkerung politisch mobilisieren soll), sondern wird von Muammar al-Ghadddafi kontrolliert, der offiziell keinerlei Staatsamt bekleidet, als „Bruder“ und „Führer“ den staatlichen Organen informell aber wirksam übergeordnet ist. Diese informelle Diktatur funktioniert seit 1969 durch eine geschickte Manipulation tribaler und anderer gesellschaftlicher und politischer Gruppen, sie wird durch staatliche und parastaatliche Repression (z.B. durch die „Revolutionskomitees“) abgesichert. Wahlen erfolgen zu den „Volkskongressen“, wobei die Offenheit auf der untersten Ebene (Basisvolkskongresse) noch am größten ist, sich nach oben aber schnell verliert. Die oberste Ebene ist der „Allgemeine Volkskongress“ (760 Mitglieder mit dreijähriger Wahlperiode), der als Scheinparlament fungiert und indirekt, nämlich durch die unteren Volkskongresse gewählt wird. Die letzte Wahl zu den Volkskongressen erfolgte im Juli und August 2004, wobei die Wähler aus rund 11.000 Kandidaten auswählen konnten. Dem Augenschein nach ist der Anteil von Frauen relativ hoch.  

 

3.3     Halbkompetetive Wahlen

 In einer Reihe von Ländern des Nahen und Mittleren Ostens kommt es zu relevanten Wahlprozessen, die zugleich Elemente von Wettbewerb enthalten, nicht insgesamt gefälscht sind und doch Aspekte beinhalten, die ihre Abläufe und Ergebnisse im Sinne der Regierung manipulieren. Es wäre unzutreffend, solche Wahlen als demokratisch, gleich und fair zu bezeichnen, aber sie unterscheiden sich doch deutlich von durchgängigem Wahlbetrug oder rein demonstrativen oder akklamativen Wahlen im Rahmen erweiterter Einparteienstaaten. Oppositionelle Kräfte können kandidieren und eine signifikante Anzahl von Sitzen gewinnen, ohne allerdings über die gleichen Ausgangsbedingungen wie Regierungsparteien zu verfügen. Beispiele sind Algerien, Ägypten oder der Yemen.

 3.3.1      Algerien[7]

1988 bis 1991 erlebte Algerien eine kurze Phase der Demokratisierung, in der die islamistische Opposition wichtige Wahlerfolge errang, insbesondere bei den Kommunalwahlen von 1990. Als die Islamische Erlösungsfront FIS 1991 in der ersten Runde der Parlamentswahl 188 von 231 Parlamentswahlen gewann, putschte das Militär und es kam nach dem Verbot des FIS zu einem Bürgerkrieg, der schätzungsweise 150.000 Menschen das Leben kostete. Die 1990er Jahre waren von einer verhüllten Militärdiktatur und Repression einerseits und einer brutalen Gewaltkampgange islamistischer Gruppen andererseits gekennzeichnet. Eine 1999 durchgeführte Präsidentschaftswahl wurde vom durch das Militär unterstützten Kandidaten Abdelaziz Bouteflika durch Manipulation und Fälschung gewonnen. Seitdem sind Schritte einer politischen Öffnung erfolgt, die auf die Versöhnung mit Teilen der islamistischen Opposition (gipfelnd in einem Referendum über eine Charta für Frieden und Nationale Versöhnung, im September 2005, mit 97,4 Prozent Zustimmung) und eine begrenzte demokratische Öffnung zielen. Im Oktober 2002 kam es zu Kommunalwahlen (die in der Kabylei weitgehend boykottiert und dort im November 2005 wiederholt wurden), im September 2002 zu Parlamentswahlen.[8] Diese brachten den beiden Regierungsparteien etwa 63, den islamistischen Oppositionsparteien rund 21 Prozent der Stimmen (das Parlament verfügt über 389 Mandate bei fünfjähriger Wahlperiode). Zusätzlich zum Unterhaus existiert eine zweite Kammer („Rat der Nation“), deren 144 Mitglieder zu zwei Dritteln indirekt gewählt, zu einem Drittel vom Präsidenten ernannt werden.

Die Präsidentschaftswahl im April 2004 ergab 83,5 Prozent für Präsident Bouteflika. Diese Wahlen, insbesondere auch die Präsidentschaftswahl, fanden in einem Umfeld statt, das durchaus von lebhafter öffentlicher Debatte und der Berichterstattung kritischer Medien, von aktiver Betätigung und Wahlkampf auch oppositioneller Parteien und einem eher geringen Maß an repressiver Einschüchterung gekennzeichnet war. Der Grad an Menschenrechtsverletzungen ging seit 1999 erkennbar zurück. Zugleich allerdings war die Zeit vor den Wahlen von Einschüchterung von Journalisten und kritischen Medien, von der Benachteiligung mancher Kandidaten und Parteien sowie Manipulation bei der Kandidatenaufstellung gekennzeichnet. Insofern stellte die Präsidentschaftswahl von 2004 einen Schritt in Richtung auf freie und faire Wahlen dar, ohne dies bereits zu sein.

 3.3.2      Ägypten[9]

Nach der Ermordung des damaligen Präsidenten Sadat 1981 wurde in Ägypten der Notstand verhängt, der bis heute in Kraft ist. Trotzdem kam es in den letzten Jahren aufgrund wachsender Unzufriedenheit und externen Drucks zu begrenzten Reformen des Wahlrechts. Auch wurde bei den Wahlen von 2000 und 2005 zum ersten Mal eine prinzipiell unabhängige Wahlbeobachtung (durch ägyptische Richter) zugestanden, so dass offene Wahlfälschung erschwert wurde.

Das ägyptische Parlament besteht aus 454 Mitgliedern, von denen bis auf 10 vom Präsidenten zu ernennende alle gewählt werden. Bei den Wahlen vom November 2005 erreichte die regierende Nationaldemokratische Partei 326 Mandate, während mit den islamistischen Muslimbrüdern verbundene Kandidaten 88 (oder rund 20 Prozent) erreichten, nachdem sie 2000 nur 17 gewonnen hatten. Dieser Erfolg wog umso schwerer, als die Muslimbrüder weiter verboten sind und der Wahlkampf mit ihnen verbundener „unabhängiger“ Kandidaten durch juristische Mittel, Verhaftungen, Einschüchterung und direkte Gewalt schwer behindert worden war. Während des Wahlkampfes gab es 12 Tote, was die angespannte politische Situation unterstreicht. Einschließlich der vom Präsidenten ernannten Abgeordneten sind nur neun Frauen im Parlament vertreten.

Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden im September 2005 statt. Dabei waren zum ersten Mal Gegenkandidaten erlaubt, während in der Vergangenheit der einzige Kandidat vom Parlament (und damit von der dominierenden Partei) vorgeschlagen werden musste und von den Wählern nur noch in einer Art Referendum bestätigt werden konnte – was zu Wahlergebnissen von zwischen 96 und 99,9 Prozent führte. Diesmal erreichte Präsident Mubarak 88,6 Prozent, wobei die anderen Kandidaten massiv benachteiligt und behindert wurden, und der mit 7,6 Prozent Zweitplazierte nach der Wahl verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Insgesamt haben die Wahlen des Jahres 2005 einen gewissen Spielraum für oppositionelle Kräfte geschaffen, waren aber alles andere als gleich und fair.[10]

3.3.3      Bahrain, Qatar und Kuwait

In einigen Golfstaaten, insbesondere in Bahrain, Qatar und Kuwait, aber auch in Oman waren zwischen den frühen 1990er Jahren und dem Beginn des neuen Jahrhunderts durch erbliche Monarchen Reformen eingeleitet worden, die teilweise auch die Einführung von Wahlen beinhalten. Dabei kann es durchaus dazu kommen, dass in nennenswertem Umfang Kandidaten gewählt werden, die den Herrschern selbstbewusst und kritisch gegenüberstehen, etwa aus dem islamistischen Spektrum (insbesondere Kuwait). Allerdings sichern sich die Monarchen weiterhin die Macht, indem sie die Rechte der Parlamente begrenzen (z.B. werden die Regierungen weiterhin nicht gewählt, sondern von den Herrschern ernannt) oder durch fragliche Verfahren unerwünschte Wahlergebnisse ausschließen. In Bahrain wurde etwa durch einen willkürlichen Zuschnitt der Wahlkreise sichergestellt, dass die schiitische Bevölkerungsmehrheit keine Chancen auf einen Wahlsieg hatte, was schiitische Parteien zum Wahlboykott veranlasste.

  

3.4     Wahlen unter Besatzungsbedingungen

 Es ist kennzeichnend für die geringe Entwicklung demokratischer Wahlprozesse in der arabischen Welt, dass ausgerechnet in Palästina und dem Irak relativ offene Wahlen stattfinden konnten.

3.4.1      Palästinensische Autonomiegebiete

Im Januar 1996 fanden im den palästinensischen Autonomiegebieten zum ersten – und bisher einzigen – Mal Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Abgesehen von einem Wahlboykott der islamistischen Hamas Islamic Jihad und kleinerer säkularer Parteien waren sie im Wesentlichen fair und frei, was durch zahlreiche internationale Beobachter bestätigt wurde. Die Fatah erreichte 55 von 88 Mandaten, Yassir Arafat wurde mit 88,2 Prozent zum palästinensischen Präsidenten gewählt.[11] Die Hauptprobleme dieser Wahlen lagen nicht in den juristischen oder praktischen Aspekten ihrer Durchführung, sondern im politischen Kontext: Das palästinensische Autonomiegebiet ist bis heute kein tatsächlicher Staat, und die gewählten Instanzen verfügten zu keinem Zeitpunkt über Souveränitätsrechte, sondern in politischen Schlüsselbereichen nur über einen eingeschränkten, von außen (durch Israel) abhängigen Entscheidungs- und Handlungsspielraum, der später durch die militärische Zerstörung eines großen Teils der palästinensischen politischen Infrastruktur weiter reduziert wurde. Darüber hinaus ist fraglich, ob und in welchem Maße Wahlen unter Bedingungen militärischer Besatzung trotz formal sauberer Durchführung demokratischen Charakter tragen können. Schließlich muss berücksichtigt werden, dass aufgrund politischer Rahmenbedingungen seitdem keine neue Wahlen möglich waren und auch die für den Januar 2006 geplanten noch fraglich sind und unter extremem externen Druck stehen – bis zu dem Aspekt, dass die israelische Besatzungsmacht massiv darauf drängte, bestimmte Parteien von der Wahl auszuschließen.

3.4.2      Irak

Ähnlich stellt sich die Situation im Irak nach dem Kriegsende von 2003 dar. Während in den Jahren zuvor, unter der Diktatur Saddam Husseins, Wahlen und Referenden rein deklamatorischen Charakter trugen, änderte sich dies grundlegend nach Kriegsende, als bei den Wahlen zu einem provisorischen Parlament (Januar 2005; 275 Abgeordnete) die Vereinigte Irakische Allianz (von den schiitischen Parteien SCIRI und Dawa dominiert) 48,2 Prozent und die Demokratische Patriotische Allianz von Kurdistan 25,7 Prozent erzielten. Ein rundes Drittel der Sitze wurde von Frauen gewonnen, mehr als die vorher festgesetzte Quote von 25 Prozent. Die Wahl litt unter einem Boykott der meisten arabisch-sunnitischen Parteien, kann aber sonst insgesamt als fair betrachtet werden, was ähnlich auch für das Referendum über eine provisorische Verfassung (Oktober 2005) gilt. 78,7 Prozent der Wähler stimmten ihr zu, wenn auch erneut die arabisch-sunnitischen Parteien entweder nicht teilnahmen oder ablehnten. Die Wahlen zu einem neuen, nicht länger provisorischen Parlament im Dezember 2005 fanden unter Beteiligung der meisten arabisch-sunnitischen Parteien statt, die allerdings noch vor Bekanntgabe des Wahlergebnisses zahlreiche Beschwerden über Manipulationen und Wahlfälschung vorbrachten.

Auch wenn die Wahlprozesse im Nachkriegsirak insgesamt aufgrund einer fairen Wahlgesetzgebung und bei einem geringen Manipulationsgrad erfolgten, so bleibt doch ihr fairer und freier Charakter zweifelhaft. Der Kontext von militärischer Besatzung, Bürgerkrieg, eines Klimas der Gewalt und z.T. Einschüchterung (bis hin zur Tatsache, dass Kandidaten anonym kandidierten, um sich keiner Gefahr auszusetzen), die nicht allein von Aufständischen und Terroristen, sondern zunehmend auch von Gruppen in Verbindung mit den an den Wahlen teilnehmenden Parteien ausgingen, lassen einen demokratischen Charakter der Wahlen fraglich erscheinen – auch wenn diese ansonsten eine wichtige politische Funktion erfüllten.[12]

 

 

4          Akteure und deren Intentionen

 Betrachten wir die Wahlprozesse im Nahen und Mittleren Osten insgesamt, lassen sich unterschiedliche Akteursgruppen mit divergierenden Interessen unterscheiden. Zuerst zu nennen sind autoritäre oder diktatorische Regierungen, die Wahlen entweder als Bedrohung empfinden und deshalb unterbinden oder manipulieren wollen, oder Wahlen aktiv betreiben, um Unzufriedenheit zu dämpfen, ihre politische Basis zu verbreitern, externen Druck aufzufangen oder potentielle bzw. tatsächliche Opposition in einen politischen Prozess zu integrieren. Dabei geht es solchen Regierungen erkennbar nicht um die grundlegende Demokratisierung ihrer Gesellschaften, was die Gefahr des eigenen Machtverlustes beinhalten würde. Tatsächlich sollen kontrollierte Wahlen gerade der mittelfristigen Machtsicherung von Machteliten dienen, wenn sie nicht unterbunden oder gefälscht werden können. Dabei kommt es den Organisatoren darauf an, gezielt begrenzte Freiräume zu eröffnen, um Anreize zur Mäßigung und Integration von Sektoren der Opposition zu schaffen. Häufig besteht ein Ansatz auch darin, die Opposition in „gemäßigte“ bzw. integrationsbreite und „radikalere“, die weiter marginalisiert, verboten und repressiv behandelt werden können, zu spalten. Da solche Strategien mittelfristiger Machtsicherung durch selektive Öffnung des politischen Prozesses und Kooption bestimmter bisher randständiger Gruppen nicht risikofrei sind, kommt es häufig zu einem Pendeln zwischen integrativer und repressiver Politik oder gar dem Abbruch von Wahlexperimenten. Ein wichtiger Faktor besteht auch in der Erwägung, ob ein solcher begrenzter Öffnungsprozess die Stabilität und Geschlossenheit der bisherigen Eliten gefährdet, und welche Risiken eine Fragmentierung der Eliten eröffnet. Entscheidend aus der Sicht der regierenden Eliten ist letztlich die Aussicht, den gesteuerten Öffnungsprozess unter Kontrolle halten zu können.

Ein zweiter Akteur in der Region sind die islamistischen Parteien, die in vielen Ländern die aktuell oder potentiell wichtigsten Oppositionskräfte darstellen. Wie die meisten säkularen Kräfte haben auch die islamistischen einen häufig eher taktischen oder instrumentellen Bezug zu Wahlprozessen. Allerdings lassen sich deutliche Veränderungen erkennen, indem in einigen Ländern manche islamistische Parteien (oder Sektoren islamistischer Strömungen) einen darüber hinausgehenden grundsätzlich positiven Bezug auf freie Wahlen entwickelt haben (so in Ägypten, Palästina und Syrien), wobei sie manchmal gemeinsam mit säkularen Kräften agieren, manchmal von diesen getrennt. Diese Entwicklung bleibt allerdings noch vorläufig und ist noch nicht abgeschlossen.[13]

Drittens sind säkulare Parteien und zivilgesellschaftliche Akteure zu nennen, die in ihrem Bezug zu Wahlen deutlich widersprüchlich sind. Während manche Kräfte einen prinzipiell positiven Bezug zu demokratischen Wahlen haben (und oft von externen Akteuren gefördert werden), bleibt dieser bei anderen rein rhetorisch oder taktisch, z.B. bei manchen mit arabisch-nationalistischer Ideologietradition. Es darf nicht vergessen werden, dass gerade nationalistisch-säkulare Kräfte in der Region in der Vergangenheit (und z.T. noch heute) die repressivsten Diktaturen hervorbrachten, etwa in Tunesien, Syrien, Irak unter Saddam Hussein.

Viertens sind Wirtschaftseliten oft zentrale Akteure, wobei diese oder Teile von ihnen häufig mit den autoritären oder diktatorischen Regimen verknüpft sind. Allerdings besteht hier auch ein Potenzial, das der Einführung stärker integrativer oder pluralistischer Regierungsstrukturen offen gegenübersteht, insbesondere, wenn ein Regime den wirtschaftlichen Interessen dieser Gruppen nicht entgegenkommt oder den Modernisierungswünschen mancher ihrer Sektoren nicht entspricht. Je stärker wirtschaftliche Eliten unterschiedliche Formen von Renteneinkommen beziehen (entweder über Korruption, Staatsrenten durch Lizenzen, garantierte Aufträge etc. oder den Ölexport), desto geringer ist ihr Interesse, dies durch Experimente mit Wahlprozessen zu gefährden.

Als (potentielle) Wählerinnen und Wähler und potentieller oder realer Machtfaktor ist auch die Bevölkerung insgesamt ein Akteur, der allerdings sehr unterschiedlich und oft diffus auf Wahlprozesse reagiert. Insgesamt besteht in arabischen Bevölkerungen ein positiver Grundbezug auf demokratische Wahlen, wie Befragungen eindeutig ergeben haben. So sind in Marokko und im Libanon 83% und in Jordanien 80% der Menschen der Meinung, dass Demokratie nicht allein in westlichen Ländern, sondern auch für ihr Land die beste Staatsform sei.[14]

Dieser verbreitet positive Grundbezug auf demokratische Werte und Wahlen wird allerdings häufig dann gebrochen, wenn „Demokratie“ und Wahlen als westliches, insbesondere US-Exportprodukt gelten und dem Verdacht ausgesetzt sind, vor allem auf eine Vergrößerung des westlichen Einflusses zu zielen. Die Kriege in Afghanistan und dem Irak haben dieses Misstrauen massiv gestärkt.

Zugleich ist erkennbar, dass das Interesse der Bevölkerung an Wahlen insgesamt stark davon abhängt, ob sie als von oben kontrollierte Propagandainstrumente wahrgenommen werden, oder ob man glaubt, tatsächlich Einfluss auf den politischen Prozess nehmen zu können. Deshalb war die Wahlbeteiligung in Palästina und im Irak trotz schwerer Bedingungen hoch (im Irak rund 60 Prozent im Januar 2005 trotz verbreiteter Gewalt und Wahlboykott im sunnitischen Dreieck; in arabisch schiitischen und kurdischen Gebieten bis zu 90 Prozent; in Palästina lag die Wahlteilnahme trotz verschiedener Boykottaufrufe in der Westbank bei 73, im Gaza-Streifen bei 88 Prozent). Dagegen ist die Wahlbeteiligung in Ländern wie Algerien und Ägypten gering: Den offiziellen Angaben zufolge beteiligten sich an den letzten Parlamentswalen in Algerien (2002) nur 46,2, in Algier nur 32 Prozent. In Ägypten lag die Wahlbeteiligung an den Präsidentschafts- bzw. Parlamentswahlen 2005 nur bei 23 bzw. 24,9 Prozent. Diese Zahlen belegen, dass das Interesse an Wahlen stark davon abhängt, ob sie für relevant gehalten werden.

Schließlich wird die Frage von Wahlen im Nahen und Mittleren Osten nicht allein von innergesellschaftlichen Akteuren, sondern auch von regionalen Diskursen[15] und äußerem Druck bestimmt. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer bemühen sich seit über einem Jahrzehnt, im Rahmen des Barcelona-Prozesses auch Pluralismus und Demokratie in der Region zu fördern, auch wenn Zweifel an der Wirksamkeit dieses Mechanismus nicht von der Hand zu weisen sind. Insbesondere seit dem 11. September 2001 ist die US-Regierung zunehmend offensiv für regionale Demokratie (und damit die Stärkung von Wahlprozessen) eingetreten.[16] Allerdings wird diese Politik höchst widersprüchlich betrieben. Ihre Glaubwürdigkeit in der Region ist gering, da der Irakkrieg, die dortigen Folterskandale, die weiter intensive Kooperation mit repressiven Regimen im Rahmen des „Krieges gegen den Terrorismus“ und die direkte oder indirekte Unterstützung der israelischen Besatzungspolitik in Palästina das öffentliche Eintreten für eine Demokratisierung der Region fraglich erscheinen lässt. Die Widersprüchlichkeit westlicher Politik ist zum großen Teil dadurch zu erklären, dass sie sich einerseits aus prinzipiellen und pragmatischen Gründen (Hoffnung auf mittelfristige Stabilisierung) an der Demokratieförderung orientieren, zugleich aber die Beziehungen und Stabilität traditioneller Partnerregime (etwa Saudi Arabien, Tunesien) nicht gefährden möchte. Faire Wahlen in der Region könnten durchaus zu Regierungen führen, die westlichen Interessen gegenüber skeptisch oder feindselig wären, was die Begeisterung etwa der US-amerikanischen und französischen Politik für sie dämpft.

 

 5          Fazit

 Wahlen im Nahen und Mittleren Osten dürfen nicht isoliert und unter eher technischen Gesichtpunkten primär daraufhin analysiert werden, ob ihre Vorbereitung und Durchführung allgemein akzeptierten Regeln der Demokratie entspricht. So wichtig dieser Teilaspekt auch ist, so greift er doch zu kurz. Wahlprozesse sind vor allem politische Akte, sie dienen der Allokation und Legitimation von Ämtern und Macht. Deshalb muss eine Analyse von Wahlen in der Region die dortigen Machtverhältnisse, ihre Grundlagen, Brüche und Bedrohungen zum Ausgangspunkt machen, weil Wahlen nur innerhalb dieses Kontexts verständlich werden. Auch wenn die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Systeme in der Gesamtregion sehr breit variieren – und man bevölkerungsschwache Öl exportierende Länder am Persischen Golf kaum mit ressourcenschwachen und bevölkerungsreichen Ländern in Nahen Osten vergleichen kann – so lässt sich insgesamt doch feststellen, dass die Staatsapparate der Region in der Regel ineffizient bis inkompetent, wenig partizipativ, mild bis stark repressiv und häufig korrupt sind. Dies gilt nicht in allen Ländern im gleichen Maße, so sind Jordanien, Tunesien und vor allem die VAE sicher weit weniger korrupt als Länder wie Ägypten, Syrien oder der Libanon, während der Grad an Partizipation in den VAE , Syrien oder Saudi Arabien noch deutlich unter denen in Algerien oder Ägypten liegt. Trotzdem lässt sich die Region insgesamt so kennzeichnen.

Der Arab Human Development Report 2004 kennzeichnet die arabischen Staatsapparate so:

„The general features of this Arab model, which some have named the ‘authoritarian state’ (…) and which has been described at length in a number of studies (…), are captured in the recent comments of an Arab journalist and activist. The latter describes governance in his country as a system in which there are no free and transparent parliamentary elections, resulting in a ‘monochrome’ parliament. Under that particular system, press freedom is also restricted, as is political and human rights activity, the judiciary is used to make an example of opponents and the constitution establishes a regime that is ‘unlimited by time and not subject to the control of parliament or the judiciary.’ In such a regime, even the ruling party becomes a mere piece of administrative apparatus run by ‘civil servants with neither enterprise nor efficiency’ (…). We can call this the model of the ‘black-hole State’, likening it to the astronomical phenomenon of extinguished stars which gather into a ball and are converted into giant magnetic fields from which even light cannot escape. The modern Arab state, in the political sense, runs close to this model, the executive apparatus resembling a ‘black hole’ which converts its surrounding social environment into a setting in which nothing moves and from which nothing escapes. Like the astronomical black hole, this apparatus in turn forms into a tight ball around which the space is so constricted as to paralyze all movement.”[17]

Es ist offensichtlich, dass in einem solchen politischen Kontext von Staatlichkeit Wahlen weniger bedeutsam sind als in Staaten, die sich durch gesellschaftliche und politische Offenheit, Partizipationsmöglichkeiten, wirtschaftliche und soziale Effizienz und Bevölkerungsorientierung auszeichnen. Solange hier der Charakter von Staatlichkeit – und damit die gesellschaftlichen Machtverhältnisse – nicht grundlegend geändert werden, bleiben Wahlen wenig relevant für das Leben der Menschen, und damit deren Interesse an ihnen zu Recht gering. In einem solchen Kontext zu wählen, wird oft nur dazu führen, was in einem etwas anderen Kontext bereits einmal eine „Demokratisierung der Machtlosigkeit“ genannt wurde.[18]

Bei der Analyse von Wahlprozessen in der Region fällt auf, dass diese auf vier Ebenen in Richtung des von den jeweiligen Machteliten angestrebten Ergebnisses beeinflusst werden, soweit sie nicht insgesamt unterbunden werden.

  • Direkte Wahlfälschungen, also Manipulationen bei der Auszählung oder bezüglich der Angabe der Wahlbeteiligung, oder der faktische oder rechtlich geregelte Ausschluss der Opposition von der Wahl;

  • selektive oder punktuelle Manipulationen, die einen gewissen Wettbewerb im Wahlkampf und bezüglich des Wahlergebnisses zwar gestatten, die Wahlchancen durch gerrymandering (der willkürliche Zuschnitt von Wahlkreisen, um das Ergebnis zu beeinflussen), ungleichen Zugang zu den Medien, Repression gegen oppositionelle Kandidaten, deren Parteien oder Unterstützer, restriktive oder manipulative Bedingungen einer Wahlteilnahme und andere Methoden zugunsten der herrschenden Eliten aber verzerren; und

  • repressive und andere Maßnahmen, die dem eigentlichen Wahlkampf vorgelagert sind und auf die politische Marginalisierung oppositioneller Kräfte zielen. Wenn der Opposition in Nicht-Wahlkampfzeiten die politische Partizipation, öffentliche Artikulation, politische Organisation und andere Betätigung verweigert wird, kann auch eine nicht gefälschte, bei nur einem Minimum an Repression und Manipulation während des Vorwahlkampfs und Wahlkampfes durchgeführte Wahl nicht „fair“ verlaufen, da die Kandidaten in den Augen der Öffentlichkeit politisch weniger gewichtig und „glaubwürdig“ sind, als die aktuellen Amtsträger mit ihrem dauernden Medienzugang und Amtsbonus. Die so bestehenden Nachteile an Organisations- und Finanzkraft, politischer Wahrnehmbarkeit und Glaubwürdigkeit als Politikalternative können in der Regel nicht in wenigen Wochen oder Monaten ausgeglichen werden.

  • Schließlich werden Wahlen auch dadurch von demokratischer Substanz entleert, dass die gewählten Institutionen vor allem akklamativen oder beratenden Charakter erhalten oder über sehr eingeschränkten Handlungsspielraum verfügen.

Nicht in allen Ländern werden offensichtlich alle diese Wege zugleich beschritten. Aber in der Regel kommt es zur Mischung verschiedener Ansätze zur Sicherung kontrollierter Wahlprozesse. Die in der Einleitung dieses Bandes (siehe S. XXX) angesprochenen Funktionen von Wahlen sollen sichergestellt werden, soweit es um die Legitimitätsproduktion und eine selektive Integration politischer und sozialer Gruppen in den politischen Prozess geht, während eine graduelle Reduzierung des Wettbewerbsgrades und der politischen Reichweite garantieren sollen, dass es zu keiner Schwächung herrschender Eliten oder gar zum Machtverlust und politischer Destabilisierung kommt.

 

  

Quelle:

Jochen Hippler
Die Macht der Eliten sichern: Wahlen im Nahen und Mittleren Osten,
in: Thomas Heberer / Claudia Derichs (Hrsg.), Wahlsysteme und Wahltypen – Politische Systeme und regionale Kontexte im Vergleich,
Wiesbaden 2006, S. 258-277


Anmerkungen

[1] Zur regionalen Diskussion siehe: Ulrich Vogt, Die Demokratisierungsdebatte, in: Sigrid Faath (Hrsg.), Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nah- und Mittelost – Inhalte, Träger, Perspektiven, Deutsches Orient-Institut, Mitteilungen Band 72, Hamburg 2004, S. 273-294

[2] Zu den in diesem Kapitel angegebenen Zahlen bezüglich einzelner Länder siehe die jeweiligen Länderkapitel in: United Nations Development Programme (UNDP), Programme on Governance in the Arab Region (POGAR), Official Website: http://www.pogar.org/; und: Freedom House, Freedom in the World 2005, Washington 2005, hier nach: http://www.freedomhouse.org/template.cfm?page=15&year=2005; Central Intelligence Agency, World Fact Book 2005, Washington 2005, hier nach: http://www.odci.gov/cia/publications/factbook/index.html; The Economist Intelligence Unit, Special Report: The dynamics of democracy in the Middle East, London, March 2005. Alle zuletzt abgefragt am 28.12.2005

[3] in Ergänzung zu den in Fußnote 2 angegebenen Quellen siehe: Angrist, Michele, Country Report Tunisia, in: Freedom House, Countries at the Crossroads 2005, Washington 2005, hier nach: http://www.freedomhouse.org/modules/publications/ccr/modPrintVersion.cfm?edition=2&ccrpage=8&ccrcountry=102; und: Mack, David L., Democracies in Muslim Countries and the Tunisian Case: What is Essential, What is Nice and What Works?, Manuskript, Middle East Institute, June 16, 2005, http://www.mideasti.org/articles/doc389.pdf, letzter Zugriff 28.12.2005

[4] Elections News, Women hold more than 22% of seats in Parliament, Tunis, 27 October 2004, unter: http://www.tunisiaonline.com/elections2004/nouvelles/271004-1.html, letzter Zugriff 28.12.2005

[5] in Ergänzung zu den in Fußnote 2 angegebenen Quellen siehe: Lesch, David W., Country Report Syria, in: Freedom House, Countries at the Crossroads 2005, Washington 2005, hier nach: http://www.freedomhouse.org/modules/publications/ccr/modPrintVersion.cfm?edition=2&ccrpage=8&ccrcountry=106

[6] in Ergänzung zu den in Fußnote 2 angegebenen Quellen siehe: Al-Baddawy, Alison, Country Report Libya, in: Freedom House, Countries at the Crossroads 2005, Washington 2005, hier nach: http://www.freedomhouse.org/modules/publications/ccr/modPrintVersion.cfm?edition=2&ccrpage=8&ccrcountry=90

[7] in Ergänzung zu den in Fußnote 2 angegebenen Quellen siehe: Dillman, Bradford L., Country Report Algeria, in: Freedom House, Countries at the Crossroads 2005, Washington 2005, hier nach: http://www.freedomhouse.org/modules/publications/ccr/modPrintVersion.cfm?edition=2&ccrpage=8&ccrcountry=75

[8] dazu auch: International Crisis Group, Diminishing Returns: Algeria’s 2002 Legislative Election, Middle East Briefing, Algiers/Brussels, 24 June 2002

[9] in Ergänzung zu den in Fußnote 2 angegebenen Quellen siehe: Sullivan, Denis J., Country Report Egypt, in: Freedom House, Countries at the Crossroads 2005, Washington 2005, hier nach: http://www.freedomhouse.org/modules/publications/ccr/modPrintVersion.cfm?edition=2&ccrpage=8&ccrcountry=84

[10] zu einer politischen Wertung der Wahl siehe: Hamzawy, Amr / Brown, Nathan J., Can Egypt’s Troubled Elections Produce a More Democratic Future?, Carnegie Endowment for International Peace, Policy Outlook, December 2005

[11] Palestinian National Authority (PNA), Authority Palestinian Elections, Election-Day Survey, 20 January 1996, offizielle website der PNA, http://www.pna.gov.ps/Government/gov/Elections_in_Palestine.asp, letzter Zugriff: 27. Dezember 2005

[12] Ottaway, Marina, Iraq: Without Consensus, Democracy Is Not the Answer, Carnegie Endowment for International Peace, Policy Brief 36, Washington, March 2005

[13] Knudsen, Are, Political Islam in the Middle East, Chr. Michelsen Institute - Development Studies and Human Rights, R 2003: 3, Bergen/Norway, pp 7-11

[14] Pew Global Attitudes Project, Support for Terror Wanes Among Muslim Publics – Islamic Extremism: Common Concern for Muslim and Western Publics, 17-Nation Pew Global Attitudes Survey, Washington, July 14, 2005, p. 2, hier nach: http://pewglobal.org/reports/pdf/248.pdf

[15] Yacoubian, Mona, Promoting Middle East-Democracy II: Arab Initiatives, United States Institute of Peace, Special Report 136, Washington, May 2005; siehe auch Anmerkung 1

[16] Haass, Richard N., Toward Greater Democracy in the Muslim World, The Washington Quarterly, Vol. 26, No. 3, Summer 2005, pp. 137–148; In Support of Arab Democracy: Why and How, Report of an Independent Task Force, Sponsored by the Council on Foreign Relations, New York 2005

[17] United Nations Development Program (UNDP), Arab Human Development Report 2004, New York 2005, S. 126

[18] Hippler, Jochen (Hrsg.), Die Demokratisierung der Machtlosigkeit - Politische Herrschaft in der Dritten Welt, Hamburg 1994