Beispiel: Afghanistan.

In Afghanistan ist es in seiner ganzen Geschichte noch nie gelungen, einen legitimen und funktionierenden Staat zu schaffen. In relativ friedlichen Zeiten beschränkten sich Regierung und Staatsapparat meist darauf, über die gesellschaftlichen Widersprüche und regionalen Autonomien zu präsidieren, anstatt das Land tatsächlich “regieren” zu wollen. Sobald eine Regierung allerdings versuchte, Afghanistan zu regieren - oder gar zu reformieren - brach das fragile Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft zusammen; gesellschaftliche Unruhen und Aufstände zeigten dann dem Staat seine Grenzen auf und verwiesen ihn auf eine eher passive Rolle.

Dieses immer wieder erfolgende auch gewaltsame Zurückdrängen des Staates lag einerseits an der fehlenden Bereitschaft der Gesellschaft, sich aus einer fernen Hauptstadt regieren zu lassen - aber zugleich daran, dass ein unreifer Staatsapparat geradezu schockierend dumme Fehler beging: So waren Versuche, die Frauen zu “befreien”, indem man ihnen durch Soldaten gewaltsam ihre Verschleierung herunterreißen ließ (so in der frühen Herrschaft der “Demokratischen Volkspartei”) oder den, beim Aufbau “demokratischer” Herrschaft sich wesentlich mit auf kriegsverbrecherische und korrupte Warlords zu stützen (nach dem Sturz der Taliban durch die vom Westen protegierte Regierung Karzai) sicher nicht dazu geeignet, sich in der Gesellschaft beliebt zu machen.

Ausländische Interventionen - erst die Sowjetunion, dann die westlichen Länder - verschärften das Problem. Statt zur Lösung des Grundproblems beizutragen pumpten sie riesige Mengen an Ressourcen und Waffen ins Land und vertieften und verewigten so die lokalen Konflikte. Zusätzlich schufen sie in den Augen der Afghanen eine weitere Dimension legitimer Gewalt: Den Kampf gegen fremde Besatzer.  

Dass auch die westliche Politik trotz aller militärischen Anstrengungen und entwicklungspolitischen Bemühungen es nicht vermochte, mehr als einen Potemkin’schen Staatsapparat zu schaffen, der außerhalb der städtischen Mittelschichten kaum über Legitimität verfügte, wurde spätestens im August 2021 deutlich, als er nach Abzug der ausländischen Truppen in wenigen Wochen fast widerstandslos zusammenbrach, als die Taliban trotz ihrer relativen militärischen Schwäche bald vor Kabul standen. Die offensichtliche Frage allerdings, wie es der Westen vermocht hatte, seinen frommen Selbstbetrug von einer erfolgreichen Afghanistanpolitik so lange aufrecht zu erhalten, wurde viel zu wenig öffentlich diskutiert.  

Seitdem wird Afghanistan von einer losen Allianz reaktionärer Gruppen beherrscht, deren Fähigkeit das Land dauerhaft zu beherrschen, sich erst noch erweisen muss. Der Versuch des sogenannten “Islamischen Staates”, aus der neuen Situation Vorteile zu ziehen und die Frage, ob die Unterschiede und Konflikte innerhalb der jetzt vorherrschenden Koalition zu neuen Gewaltausbrüchen führen werden, dürften sich mit dem alten Problem verknüpfen, ob diese Kräfte in der Lage sein werden, trotz aller wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten Afghanistan überhaupt zu regieren.