Das internationale System.

Seit der zweiten Hälfte der 1940er bis zum Ende der 1980er Jahre war das internationale System bipolar, also vom Gegensatz zwischen den USA und der Sowjetunion, beziehungsweise zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt bestimmt. Diese Zeit des “Kalten Krieges” endete mit dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch der Sowjetunion, der sich lange angedeutet hatte und 1989/1990 abgeschlossen war.

Es folgte ein historischer “unipolarer Augenblick”, der von einer einseitigen, überwältigenden Dominanz der USA im Weltsystem gekennzeichnet war. Der schnelle Sieg der USA gegen den Irak 1991 zur Befreiung Kuwaits wurde zum Symbol dafür, dass die internationalen Machtverhältnisse nun geklärt waren. Allerdings war damals bereits klar, dass die US-Dominanz nicht von Dauer sein würde. Bereits seit den 1950er Jahren waren im Schatten der USA wirtschaftliche Kraftzentren entstanden, die die USA zwar nicht direkt herausforderten, aber zumindest ökonomische Gegengewichte darstellten: Japan und die spätere Europäische Union. Auch China und einige andere Schwellenländer standen bereits in den Startlöchern, um ihren Rückstand aufzuholen.

Die drei Jahrzehnte vom Anfang der 1990er bis zum Beginn der 2020er Jahre, also während des “unipolaren Augenblicks” brachten schrittweise zwei Veränderungen: Einmal scheiterten die USA spektakulär bei der Gestaltung der energiereichen Schlüsselregion des Nahen und Mittleren Ostens und seiner direkten Umgebung. Sie mussten 2012 ihre Truppen aus dem Irak abziehen, ohne ihre Kriegsziele nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 erreicht zu haben - und stattdessen dem feindseligen Iran beträchtlichen Einfluss im Irak überlassen. Den USA gelang nicht einmal ansatzweise, die Entwicklung in Syrien und Libyen zu prägen, und sie waren nach zwanzig Jahren Krieg nicht in der Lage, die afghanischen Taliban zu besiegen, sondern überließen ihnen 2021 die Macht in Afghanistan. Es gelang den USA trotz mehrerer Anläufe nicht, den Palästinakonflikt zu lösen, und auch in anderen Regionen sah es nicht besser aus, etwa in Bezug auf Venezuela. Zweitens: Neben diesen regionalen Fehlschlägen bzw. Niederlagen kam es auf der globalen, strategischen Ebene zu einer massiven Schwächung der US-Position: Der kometenhafte wirtschaftliche und dann militärische Aufstieg der Volksrepublik China ließ das Land zu einem mittelfristig ernsthaften Machtgegenpol der USA werden, und eine Reihe von Mittel- oder größeren Mächten demonstrierten deutlich, eine US-Führungsrolle nicht mehr zu akzeptieren. Der Iran, Brasilien, die Türkei, Russland und andere Länder betrieben eine nationalistische Politik, die auf andere oft keine Rücksicht mehr nahm. Damit blieben die USA zwar noch die wirtschaftlich und militärisch stärkste Macht, waren aber nun nicht mehr allein, sondern hatten auf eine ganze Reihe anderer, aufstrebende Mächte Rücksicht zu nehmen, die sich nicht mehr einfach dominieren ließen.

Nach dem stählernen Korsett des Kalten Krieges befinden wir uns heute an der Schwelle eines neuen multipolaren Systems, das von der Konkurrenz einer ganzen Reihe regionaler und zunehmend auch globaler Mächte geprägt ist. Der globale, kooperative Multilateralismus der 1990er Jahre ist entscheidend geschwächt und nur noch punktuell und regional von Bedeutung. Stattdessen nimmt das neue internationale System teilweise Züge an, die an das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert erinnern: Rabiate und konfliktbereite nationalistische Mächte, die ihre Interessen auf Kosten ihrer Nachbarn durchzusetzen bereit sind und dabei auch vor Gewaltanwendung nicht zurückschrecken. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist die Fanfare, die den historischen Rückschritt unterstreicht.