Jochen Hippler

Verhandeln ist nicht immer eine Option -
Verhandlungen und politische Lösungen in Gewaltkonflikten

 

Verhandlungen in Kriegssituationen führt man mit seinen Gegnern oder mit Feinden, nicht mit Freunden. Friedensverhandlungen erfordern Kommunikation und Verständigung gerade mit denjenigen, mit denen man nicht übereinstimmt, sondern sich sogar im Kriegszustand befindet. Gegenargumente, dass solche Verhandlungen falsch und unangebracht seien, weil der Gegner schließlich Gewalt anwende, sind deshalb zuerst einmal unsinnig - gerade deshalb sind solche Verhandlungen ja notwendig. Und außerdem führt die eigene Partei den Krieg ebenfalls nicht nur mit Worten, sondern mit den Mitteln militärischer Gewalt. Auch politische oder ideologische Gegensätze können kein Argument gegen Friedensverhandlungen sein, da man von seinem Feind kaum als Gesprächsvoraussetzung verlangen kann, er müsse erst so werden wie man selbst.

Diese einfachen Wahrheiten implizieren allerdings nicht, dass Verhandlungen zur Beilegung eines Gewaltkonfliktes oder Krieges immer, mit jedem und zu jedem Zeitpunkt sinnvoll oder möglich wären. Verhandlungen können aussichtslos sein, weil man selbst oder der Gegner sie nur als Mittel anderer Zwecke betrachtet - etwa zur Propaganda, oder um Zeit zu gewinnen, die Kriegführung später effektiver fortsetzen zu können. Häufig werden Verhandlungsangebote auch mit Vorbedingungen belastet, die vom Gegner gar nicht erfüllt werden können: Die Gegenseite solle die Waffen niederlegen, während man die eigenen behält - das ist in Kriegssituationen kaum mehr als die freundliche Aufforderung zu Kapitulation. Oder aber, wenn man in einem Bürgerkrieg verlangt, die Gegenseite solle zuerst einmal die "geltende Verfassungsordnung akzeptieren" - die aber gerade umstritten ist und gewaltsam bekämpft wird. Hier wird deutlich, dass schon das Reden über Verhandlungen ein Teil der Kriegführung sein kann, nämlich den Versuch darstellt, den Gegner, wenn nicht militärisch, so doch politisch und ideologisch zu entwaffnen oder zu schwächen, indem man ihn delegitimiert.

Besonders offensichtlich sind solche Probleme, wenn ein Gewaltkonflikt oder Krieg "asymmetrisch" geführt wird, also zwischen Großmächten und Kleinstaaten, oder insbesondere zwischen Regierungen und nicht-staatlichen Gewaltakteuren. Tatsächliche Verhandlungen setzen in der Regel eine minimale Gleichheit der Verhandlungspartner voraus - eine prinzipielle Machtgleichheit (keine Seite kann die andere militärisch besiegen) und/oder eine vergleichbare Legitimationsstärke. Ein legitimer Staat - oder was sich dafür zu halten beliebt - kann mit einer Verbrecherbande keine "Friedensverhandlungen" führen, ohne den Anspruch auf seine Legitimität als Staat aufzugeben und sich auf eine gleiche Ebene mit der Verbrecherbande zu stellen. Bereits die öffentliche Erörterung einer möglichen Verhandlungslösung kann deshalb die Legitimität der Konfliktparteien und die Konfliktdynamik beeinflussen. Auch deshalb sind Verhandlungen zwischen Ungleichen zur Beilegung von Gewaltkonflikten so schwierig - beide Seiten können bereits dadurch politisch gewinnen oder verlieren, indem sie sich nur öffentlich auf Verhandlungen einlassen.

In der Debatte um Gewaltkonflikte hört man häufig das Argument, dass "Gewalt keine Lösung" sein könne. Wenn dies stimmen würde, wären Krieg inzwischen den Weg der Dinosaurier gegangen - er wäre ausgestorben. Natürlich können Kriege und Gewalt - unter bestimmten Bedingungen - eine Lösung sein, sonst würde kaum eine Konfliktpartei noch Gewalt einsetzen, kein Aggressor einen Krieg beginnen. Allerdings bedeutet eine gewaltsame Konfliktlösung in aller Regel ein beträchtliches Maß an Blutvergießen und Zerstörung. Nicht allein der Tod vieler Menschen, sondern auch die Zerstörung ganzer Gesellschaften können das Ergebnis sein, wie der syrische Bürgerkrieg erneut demonstriert. Auch wenn Gewalt also pragmatisch unter bestimmten Bedingungen "funktionieren" kann (gemessen an ihren Zielen), so sollte sie doch unter normativen Gesichtspunkten nicht in Betracht kommen.

Ein Problem besteht darin, dass die aus normativen wie pragmatischen Gründen berechtigte Ablehnung gewaltsamer oder militärischer Konfliktlösung nicht automatisch impliziert, wie Gewaltkonflikte sonst gelöst werden können oder sollten. Häufig wird vorgebracht, dass eine "politische Lösung" an die Stelle der Gewalt treten sollten - eine ebenso sympathische wie prinzipiell richtige Forderung. Allerdings ist oft nicht klar, was der Begriff "politische Lösung" genau bedeutet, und meist wird er synonym mit "Verhandlungslösung" verwandt. Diese Einengung ist allerdings alles andere als hilfreich, weil sie einerseits andere politische Optionen ignoriert, und andererseits die Erfolgschancen von Verhandlungen unterstellt, ohne den konkreten Kontext und die Erfolgsvoraussetzungen zu prüfen. Viele Erfahrungen, etwa die Verhandlungen zwischen Israel und der PLO bzw. der palästinensischen Autonomieregierung, die der US oder afghanischen Regierung mit den Taliban oder die zur Beendigung des Bürgerkrieges in Sri Lanka demonstrieren, dass Verhandlungen nicht immer zu einer Lösung führen, und dass eine Verhandlungslösung noch nicht automatisch bedeutet, dass sie auch umgesetzt würde oder zum Frieden führt. Es sind viele Kontexte vorstellbar, in denen Verhandlungen kaum aussichtsreich wären. Dazu gehören:

  • Situationen, in denen das Machtungleichgewicht so groß ist, dass eine Seite Kompromisse nicht nötig zu haben glaubt;

  • Situationen, bei denen eine Seite ihre existentiellen Ziele erreicht hat, die andere nicht;

  • Situationen, in denen die politisch Verantwortlichen oder die Verhandlungsführer aufgrund von Widerstand im eigenen Lager nicht über den nötigen Kompromiß- und Handlungsspielraum verfügen;

  • Situationen, bei denen die Konfliktparteien besonders fragmentiert oder die jeweiligen Seiten im jeweils "eigenen" Lager untereinander verfeindet sind;

  • Situationen, bei denen keine wirksame Kontrolle über die bewaffneten Einheiten durch die politischen Führungen besteht; oder

  • Situationen, in denen eine Seite aus nachvollziehbaren Gründen eine baldige schrittweise oder plötzliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse zum eigenen Gunsten erwartet.

Offensichtlich können mehrere dieser Kontexte zugleich gegeben sein, womit die Wahrscheinlichekit von Erfolgen noch dramatisch sinkt - siehe die jahrzehntelangen Versuche, den Palästinakonflikt durch Verhandlungen beizulegen. Insgesamt erfordern Verhandlungslösungen (a) den Willen aller relevanten Konfliktparteien, eine Einigung zu erreichen,was (b) eine ausreichende Überlappung der Interessen der Konfliktparteien voraussetzt; dazu (c) einen erfolgreichen Verhandlungsprozess, der externe oder interne "Spoiler" marginalisiert; und (d) die fortdauernde Bereitschaft unf Fähigkeit der Konfliktparteien und ggf. einflußreicher Dritter, die Verhandlungsergebnisse tatsächlich umzusetzen bzw. Verstöße wirksam zu sanktionieren. Keine dieser Voraussetzungen darf immer als gegeben unterstellt werden.

Betrachten wir zur Illustration die Frage der Verhandlungen mit den afghanischen Taliban. In den Jahren 2002 bis ca. 2005 wären erfolgversprechende Verhandlungen vermutlich möglich gewesen: Die Taliban waren nach ihrem Sturz politisch wie militärisch schwach, ihr früheres Prestige im Land und ihre Legitimität waren schwer beschädigt, und nach der schnellen militärischen Niederlage bestand in der afghanistschen Gesellschaft und bei ihnen selbst nicht die Erwartung, dass sie bald in eine starke Machtposition zurückkehren könnten. Ein politisches Verhandlungsangebot, dass ihnen eine - durchaus begrenzte - Machtbeteiligung oder zumindest Duldung im neuen politischen Rahmen abgeboten hätte, hätte zu einer zumindest teilweisen Integration ins politische System führen können. Damals allerdings waren weder die afghanische Regierung noch die USA und ihre Verbündeten zu einer solche Politik - und zu irgendwelchen Gesprächen oder gar Verhandlungen - bereit, weil sie triumphalistisch und überheblich glaubten, so etwas nicht nötig zu haben. Zu dieser Zeit war schon der Begriff "Verhandlungen" auch in Deutschland noch tabuisiert, wie es ja auch tabu war, den Krieg einen Krieg zu nennen. Das Ergebnis war, dass den Taliban keine andere politische Option blieb, als sich außerhalb und gegen das neue politische System zu organisieren.

Als sich ab 2005 das Blatt wendete und langsam immer klarer wurde, dass die Taliban militärisch doch nicht zu schlagen waren, dass sie sogar zu einer ernsten Bedrohung wurden und die Sicherheit auch nicht durch die ausländischen Truppen zu erreichen war, und dass die Regierung Karzai ein Teil des Problems und nicht die Lösung war - da führten das Scheitern der westlichen Afghanistanpolitik und die blanke Not dazu, auf eine Verhandlungslösung zu setzen. Allerdings: Nun hatten die Taliban ernsthafte Gespräche oder Verhandlungen nicht mehr nötig. Aus ihrer Sicht konnten sie dazu beitragen, als legitimer - und prinzipiell ebenbürtiger - Gesprächspartner akzeptiert und politisch gestärkt zu werden. Darüber hinaus boten sie kaum etwas von Interesse: Insbesondere nachdem in den USA und Westuropa die Diskussion über einen Abzug der eigenen Truppen aus Afghanistan begonnen hatte, bestanden auf Seiten der Taliban weder ein Interesse an massiven und riskanten Militäroffensiven noch zur Beendigung des Bürgerkrieges durch einen Kompromiß - aus ihrer Sicht waren Geduld und Abwarten die richtige Strategie. Wenn die afghanische Regierung nicht mit Hilfe der NATO-Truppen zu einem Sieg über die Taliban in der Lage gewesen war, wie sollte dies ohne die ausländischen Soldaten gelingen? Die Taliban zielten darauf, den Druck auf die Regierung und die fremden Truppen sowie die allgemeine Situation der Unsicherheit aufrecht zu erhalten und punktuell noch zu erhöhen, dabei aber den Truppenabzug nicht zu gefährden - zugleich konnten Gespräche der Taliban mit der Regierung oder den USA diesen Abzug in den westlichen Ländern innenpolitisch erleichtern. Darüber hinaus hatten die Taliban kein Interesse an einem Verhandlungskompromiss, da die Zeit für sie arbeitet und weder die Regierung Karzai noch die von Präsident Ashraf Ghani über legitime und effektive Governance Strukturen verfügen, die die Taliban hätten politisch marginalisieren können. Nach dem Abzug der ausländischen Truppen und der später zu erwartenden Verminderung der finanziellen Unterstützung aus dem Ausland würden die afghanische Regierung weiter geschwächt und ein Erfolg der Taliban - etwa durch eine Fragmentierung der Regierung und des Staates - wahrscheinlicher. Umgekehrt darf nicht übersehen werden, dass auch die afghanische Regierung bisher keinen wirklichen Anreiz hat, den Bürgerkrieg durch einen Verhandlungskompromiss zu beenden. Solange sie sich dem Westen gegenüber als das einzige Bollwerk gegen die Taliban präsentieren kann, darf sie sich Hoffnungen auf militärische und finanzielle Unterstützung machen - ein Machtverlust oder auch nur eine Machtteilung durch Verhandlungen würde die politische und materielle Unterstützung der Anti-Taliban-Kräfte in Frage stellen - und damit deren Kerninteressen und ihren Zusammenhalt bedrohen.

Eine Verhandlungslösung in Afghanistan würde nur zu einer realistischen Option, wenn sich dort zwei (oder sehr wenige), halbwegs geschlossene Konfliktparteien gegenüberstünden, die beide keine Aussicht auf einen politischen oder militärischen Erfolg haben, die aber zugleich beide stabil genug sind, um keine Niederlage fürchten zu müssen. Eine solche Situation ist allerdings nicht in Sicht.

Etwas anders sieht es in Bezug auf den sogenannten "Islamischen Staat" aus. Gegenwärtig gibt es erste, noch vorsichtige Vorschläge, mit ihm Gespräche und Kontakte zu pflegen. (Z.B.: "Die Anbahnung von Kontakten zum IS sollte nicht von vornherein aus den Möglichkeiten des Konfliktmanagements ausgeschlossen werden" - Friedensgutachten 2015, S. 12)

Soweit sich dies auf humanitäre Notsituationen bezieht (Versorgung der Zivilbevölkerung, Geiselnahmen), wäre gegen solche Kontakte und Gespräche nichts einzuwenden. Wenn man sich allerdings Hoffnungen auf eine Konfliktbeilegung (bzw. ein "Konfliktmanagement") in Syrien oder dem Irak machen sollte, wäre Zurückhaltung angebracht. Der bisherige Erfolg des "Islamischen Staates" (IS) beruht auf seiner kompromisslosen Brutalität, die er zum Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen anderen politischen und militärischen Gruppen entwickelte. Gerade diese Eigenschaft trägt zur Anziehungskraft des IS bei, insbesondere auf ausländische Kämpfer im arabische Raum und in Westeuropa. Während viele jihadistische Gruppen, auch al Qaida, sich durch oft langatmige theologische Belehrungen profilieren wollen, setzt der IS bei seiner Propaganda auf "Aktion", auf Offensive, Kompromisslosigkeit, Brutalität und Sieg. Dies wirkt auf bestimmte Personengruppen anziehend, während Gegner eingeschüchtert werden. Der "Islamische Staat" erhebt den Anspruch, nicht nur irgendein Staat zu sein, sondern der Staat aller Muslime - er definiert sich als "Kalifat", also als zugleich oberste religiöse und politische Instanz mit globalem Machtanspruch. In diesem Sinne ist der IS im eigenen Verständnis nicht einfach irgendein Staat neben anderen, sondern allen anderen nichtstaatlichen Akteuren - und Staaten - übergeordnet. Wer sich dem IS nicht unterwirft, ist automatisch aus der Gemeinschaft göttlicher Legitimität ausgeschlossen und Ketzer.

Beide Aspekte - der pragmatische und der ideologische - stellen ernsthafte Hindernisse für Gespräche oder gar Verhandlungen dar: Das Geschäftsmodell des IS auf dem politischen Markt des Jihadismus beruht gerade auf brutaler Kompromisslosigkeit - und würde durch Dialoge und Gespräche infrage gestellt. Zugleich sind Gespräche und Verhandlungen kaum möglich, wenn man nicht bereit ist, Andere zumindest als legitim zu betrachten und als prinzipiell gleichwertig zu akzeptieren.

Nun ließe sich einwenden, dass der IS nach Durchlaufen eines erfolgreichen Staatsbildungsprozesses aus pragmatischen Gründen eine "normale" Staatlichkeit herausbilden wird, vielleicht nach dem Muster von Saudi Arabien, das eine salafistische Ideologie mit diplomatischem Verkehr in Einklang bringt. Dies kann tatsächlich nicht ausgeschlossen werden - allerdings, sollte ein solcher Prozess der Mäßigung tatsächlich einsetzen, dürfte er in ferner Zukunft liegen. Es gibt keine Anzeichen, dass er weniger Zeit als eine oder zwei Generationen brauchen würde. Ein Vorschlag, so lange mit Gesprächen oder Verhandlungen zu warten, wäre politisch absurd - insbesondere, weil die kompromisslose Brutalität des IS bis dahin so viele Opfer gekostet und die Menschenrechtssituation dauerhaft so katastrophal sein dürfte, dass dies unter humanitären Gesichtspunkten skandalös wäre.

Das Problem im Umgang mit dem "Islamischen Staat" besteht darin, dass eine primär militärische Lösung (etwa durch Waffenlieferungen an seine Gegner, Luftangriffe, Ausbildung des irakischen Militärs, westliche Bodentruppen) nicht erfolgversprechend, dass aber eine "politische Lösung" im Sinne von Verhandlungen mit dem IS eine absurde Vorstellung ist. Tatsächlich käme es darauf an, in vielen Gewaltkonflikten den wichtigen Begriff einer "politischen Lösung" weiter zu fassen. Wenn ein Konflikt nicht militärisch, sondern nur politisch gelöst werden kann, bedeutet das nicht, automatisch eine "Verhandlungslösung" zu favorisieren, der in vielen Situationen die Voraussetzungen fehlen. Eine politische Lösung wird tatsächlich oft auf einer anderen Ebene ansetzen müssen: So wäre es beispielsweise entscheidend, im Irak eine Politik zu betreiben, die die arabischen Sunniten nicht marginalisiert, sondern wieder in den nationalen Politikprozess reintegriert. Solange die Sunniten sich von der Regierung in Bagdad oder den schiitischen Milizen stärker bedroht fühlen als vom IS, wird der Krieg nicht beendet werden können, weder durch Bombardierungen noch durch "Verhandlungen". Die Ansatzpunkte für eine politische Lösung finden sich nicht in aussichtslosen und schädlichen Gesprächen mit dem "Islamischen Staat", sondern in der Arbeit daran, in den betroffenen Gesellschaften Bedingungen herzustellen, die ihm gesellschaftlich und politisch durch Delegitimierung den Boden entziehen. Erst dann können andere Politikinstrumente mit Aussicht auf Erfolg angewandt werden.

 

Quelle:

Jochen Hippler
Verhandeln ist nicht immer eine Option,
in: Wissenschaft und Frieden, 3/2015, S. 14-17