Jochen Hippler

Anstatt einer notwendigen Satire:
Eine kleine Polemik zum Clash of Civilizations nebst einigen Anmerkungen zum Islamismus

Ein Gespenst geht um in Europa, schon wieder. Aber diesmal handelt es sich um eine ganze Gespensterfamilie, und diese beschränkt ihre teils erheiternden, teils erschreckenden Aktivitäten nicht auf Europa. Als Familienoberhaupt werden entweder „der Islam“ oder der islamische „Fundamentalismus“ ausgemacht, je nach Geschmack und Bedarf. Nachdem das Gespenst des Kalten Krieges sich auf sein verdientes Altenteil in die Historie abgemeldet hat, herrscht an Gespensterdebatten kein Mangel. „Furchterregendes Spukwesen“ - so definiert der Duden ein Gespenst. Und genau darum handelt es sich auch beim Clash of Civilizations, beim „Krieg der Zivilisationen“, wie Bassam Tibi zu formulieren beliebt.1 Nun ist diese Formulierung nicht der Titel eines neuen Science Fiction Filmes aus Hollywood, sondern einer politischen Debatte mit politikwissenschaftlichem Anspruch, die in den prestigeträchtigen Seiten der Zeitschrift Foreign Affairs begann. Deshalb muß der Versuchung widerstanden werden, sich dem Thema auf angemessene Weise zu nähern, nämlich satirisch.

Das allgemeine Gespenster-Sehen (Duden: „Dinge sehen, die gar nicht da sind“) wurde im Sommer 1993 durch den amerikanischen Politikwissenschaftler Samuel Huntington und seinen Aufsatz in der bereits erwähnten Zeitschrift eröffnet. Seine Kernthese faßte er so zusammen:

"It is my hypothesis that the fundamental source of conflict in this new world will not be primarily ideological or primarily economic. The great divisions among humankind and the dominating source of conflict will be cultural. Nation states will remain the most powerful actors in world affairs, but the principal conflicts of global politics will occur between nations and groups of different civilisations. The clash of civilisations will be the battle lines of the future."2

Darüber läßt sich reden.3 Allerdings, bevor sich darüber reden ließe, stellen sich einige naheliegende begriffliche Fragen. Wenn Huntington explizit nicht von ideologisch begründeten, sondern von kulturellen Konflikten spicht, dann stellt er „Ideologie“ einerseits der „Kultur“ und „Zivilisation“ andererseits gegenüber. „Ideologie“ wird damit nicht als eng verknüpft mit „Kultur/Zivilisaton“ oder als deren Teil aufgefaßt, sondern als deren Gegensatz. Deshalb stellt sich die Frage, was Huntington eigentlich unter seinem Begriff der „Zivilisation“ versteht. Seine Antwort:

„A civilization is a cultural entity. ... A civilization is [...] the highest cultural grouping of people and the broadest level of cultural identity people have short of that which distinguishes humans from other species. It is defined both by common objective elements, such as language, history, religion, customs, institutions, and by subjective self-identification of people.“4

Diese Begriffsbestimmung ist sehr allgemein und wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Wie etwa Sprache, Religion oder Sitten und Gebräuche als „objektive Kriterien“ einer Zivilisationsbestimmung gelten könnten, bleibt das Geheimnis des Verfassers. Auch wie all dies, plus die „subjektive Selbst-Identifikation“ der Subjekte vom Bereich der Ideologie getrennt und dem gerade entgegengestellt werden kann, bleibt naturgemäß unklar. Etwas später gibt Huntington noch einmal seine Unterscheidungskriterien an:

„Civilizations are differentiated from each other by history, language, culture, tradition, and most important, religion.“5

Damit läßt sich schon etwas anfangen, insbesondere die Betonung der zentralen Rolle der Religion ist nicht nur interessant, sondern auch erfreulich klar formuliert. Es zeigt sich aber sehr schnell, daß diese Definition nicht ernst gemeint ist und immer wieder sofort fallengelassen wird, wenn sie unbequem wird. So unterscheidet Huntington zwischen „seven or eight major civilizations“: den westlichen, konfuzianischen, japanischen, islamischen, hinduistischen, slawisch-orthodoxen, lateinamerikanischen und, „möglicherweise“, afrikanischen Zivilisationen. Wenn nun Sprache, Geschichte, Tradition, und - vor allem - Religion die entscheidenden Unterscheidungskriterien sind: wieso wäre dann Argentinien ein Repräsentant einer gesonderten „lateinamerikanischen Zivilisation“, obwohl dort der Katholizismus wie die spanische Sprache Kern der Nationalkultur sind? Warum soll das gesamte christliche, spanisch- oder portugisischsprechende Lateinamerika kein Teil des christlichen westlichen Kulturkreises sein? Und: wenn die Religion das wichtigste Kriterium darstellt, warum wird das orthodoxe Christentum auf eine Fremdheitsstufe mit dem Hinduismus gestellt, und wie verortet man die ungemein katholischen Philippinen? Wie gelangt Huntington dazu, eine Zivilisation der englischsprachigen Karibik zu proklamieren. Aus sprachlichen oder religiösen Gründen? Auch die Ausgliederung Griechenlands aus dem Westen und seine Zurechnung zu einem christlich-orthodox/islamischen Kulturraum ist wenig plausibel.

Huntingtons Zivilisationsbegriff ist eine intellektuelle und logische Geisterbahn: ein Popanz wird aufgebaut, bei Bedarf umgestoßen und durch einen anderen ersetzt. Ein Feuerwerk prachtvoller Formulierungen wird vor uns abgebrannt. Aber wenn sich der Rauch verzogen hat, bleibt nichts zurück. Nun, das ist bedauerlicherweise nicht ganz richtig. Wenn zwar nichts von analytischer Bedeutung bleibt, so um so mehr von politischer Relevanz.

Freund-Feind-Zurechnung als Identitätsstiftung[1]

Es geht Huntington nämlich überhaupt nicht um abstrakte Probleme allgemeiner Zivilisationen, sondern um konkrete außenpolitische Konfliktlinien. Er entdeckt eine "Confucian-Islamic connection that has emerged to challenge Western interests, values, and power"6 und meint "a central focus of conflict for the immediate future will be between the West and several Islamic-Confucian states."7

Damit hat er sein Thema gefunden. Die kurze Fingerübung luftiger Begriffsbestimmung war nur ein Köder für die Feuilletonchefs, Mediengurus und Freunde einer modisch kulturalistischen Debatte. Jetzt erst wird es ernst, wenn er seine „konfuzianisch-islamische Connection“ präsentiert. Wir erinnern uns, daß der Begriff Connection aus der Drogenszene stammt, über die berüchtigte French Connection in den Sprachgebrach eingeführt wurde. So stimmungsvoll kann Politikwissenschaft sein.

Innerhalb der anti-westlichen Doppelfront aus Islam und Konfuzionismus scheint Huntington die islamische Zivilisation als die noch gefährlichere einzuschätzen. Dafür ist zum Teil die Last der Geschichte verantwortlich. "Conflict along the fault line between Western and Islamic civilizations has been going on for 1300 years." Huntington spricht in diesem Zusammenhang von einer "warfare between Arabs and the West", die 1990/91 im Golfkrieg kulminiert sei.8

Der von ihm proklamierte zivilisatorische Gegensatz zwischen „Islam“ und dem „Westen“ (nicht zwischen dem Nahen Osten und Europa, oder zwischen Islam und Christentum) wird mit einer langen Geschichte des Krieges begründet. Dabei kommt es ihm nicht einmal ansatzweise in den Sinn, daß die Kriege innerhalb der beiden Kulturkreise wesentlich häufiger und wesentlich blutiger gewesen sind als die zwischen ihnen. Die beiden Weltkriege beispielsweise sind nicht zwischen den Kulturkreisen ausgefochten worden, sondern waren europäische Bürgerkriege, auch wenn sie die Grenzen Europas weit hinter sich ließen. Schon eine grobe Liste der europäischen Kriege der letzten einhundert oder eintausend Jahren würde deutlich machen, daß „islamisch-christliche“ Kriege zwar existierten, aber bei weitem nicht an die inner-“christlichen“ heranreichten. Huntingtons These erinnert an dieser Stelle fatal an das frühere Gerede von einer „unvermeidlichen deutsch-französischen Erbfeindschaft“, die aus einer nie endenden Reihe von Kriegen begründet sei.

Zur Begründung seiner islamischen Gefahr verweist er auf die gegenwärtigen Konflikte in Europa und Asien, wenn er einen "crescent-shaped Islamic bloc of nations from the bulge of Africa to Central Asia" erwähnt. "Violence also occurs between Muslims, on the one hand, and Orthodox Serbs in the Balkans, Jews in Israel, Hindus in India, Buddhists in Burma and Catholics in the Philippines.“ Wo Moslems als Täter und wo als Opfer in Erscheinung treten hält er für wenig interessant. Stattdessen zählt nur eines: „Islam has bloody borders."9

Diese Art von Konflikten sind für ihn in der Zeit nach Ende des Kalten Krieges strukturbestimmend für das internationale System. Dabei allerdings ist die von ihm wahrgenommene Frontstellung des Islam gegen den Westen nur Teil einer größeren Problematik. Eigentlich gehe es um den Kampf "The West against the rest".

Huntingtons Bild vom Islam (oder anderen asiatischen Kulturen) ist wenig originell. Es folgt den gängigen Stereotypen und Klischees der Populärliteratur und mancher Medien. Er versteht es aber meisterlich, diese aufgewärmten Ängste pseudowissenschaftlich zu verbrämen und ideologisch zu überhöhen. Sein Erfolg besteht darin, die alten Klischees in der außenpolitischen Debatte hoffähig zu machen.

Der Kern der Übung besteht in einer neuen Freund-Feind-Zurechnung in der Zeit nach dem Kalten Krieg, in der Schließung der Identitiätslücke, die durch den Ausfall der Sowjetunion als Gegenpol entstanden ist. Schon seine Formel „The West Against the Rest“ ist ja identitätsstiftend, da sie „uns“, den Westen, allen anderen gegenüberstellt. Was aber macht dabei den Westen aus?

Es sind natürlich nicht Interessen, sondern „westlichen Ideen“, die die Substanz westlicher politischer Identität bilden sollen. Westliche Ideen sind für ihn:

„individualism, liberalism, constitutionalism, human rights, equality, liberty, the rule of law, democracy, free markets, the separation of church and state Individualismus, Liberalismus, Verfassungsmäßigkeit, Menschenrechte, Gleichheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, der Freie Markt, die Trennung von Kirche und Staat.“10

Wir wollen nicht kleinlich daran herummäkeln, daß hier manches schief ist (so macht die „Trennung von Kirche und Staat“ sowieso nur in christlichen Gesellschaften Sinn, da „Kirche“ ein christlicher Terminus ist, der dem Judentum, Islam, Buddhismus oder Hinduismus wie zahllosen anderen Religionen in unterschiedlichem Maße fremd ist). Aber es muß doch angemerkt werden, daß dadurch, diese „Ideen“ (ist der Freie Markt eine „Idee“, ein „Wert“, eine moralische Kategorie?) zu westlichen zu erklären, sie anderen Kulturen abgesprochen und verweigert werden. Denn wenn es sich um universelle Werte handeln würde, ergäbe ja ein „Kampf der Zivilisationen“ keinen Sinn, der ja gerade durch die Verschiedenheit der Kulturen bedingt sei. Freiheit und Demokratie sind also, neben den anderen Substantiven, Kerne westlicher Identität, und die Menschen im Süden werden so intellektuell vor die Scheinalternative gestellt, entweder sich selbst für „westlich“ halten zu müssen, wenn sie für Freiheit und Demokratie sind, oder gegen beide Werte opponieren zu müssen, wenn sie nicht westlich sein wollen. Über solchen intellektuellen Imperialismus könnte man sich wohl lustig machen, wenn er nicht in breiten Kreisen ernstgenommen worden wäre.

Der Kern der Übung ist aber innerwestliche Identitätsstiftung nach dem Ende des Kalten Krieges. Wir, der Westen, sind erstens eine Einheit (diesmal kulturell), zweitens von außen bedroht, und drittens moralisch und kulturell überlegen (Demokratie und die anderen hohen Werte sind schließlich „westliche“ Werte). Solche Übungen mögen bei Menschen im Westen, die mit ihrem Feindbild des Kalten Krieges ein Stück ihrer Identität verloren haben, eine neue Behaglichkeit bewirken, für den Süden sind sie eher bedrohlich. Ein westlicher Export von Demokratie würde in diesem Kontext nämlich nicht bedeuten, daß die so oft von Diktatoren unterdrückten Menschen des Südens sich endlich selbst regieren könnten - er müßte als Export einer westlichen Ideologie, als ideologische Waffe gegen den „Rest der Welt“ aufgefaßt, als Strategie der Verwestlichung gebrandmarkt werden. In dieser Konsequenz trifft sich Huntington mit den chinesischen Marktstalinisten, anderen Diktatoren Ostasiens, und islamistischen Demokratiefeinden etwa Algeriens, vor denen er ja solche Angst zu haben sich entscheidet. Wenn Demokratie im Kern ein westlicher Wert wäre, dann wäre Demokratieexport ideologischer Imperialismus.

Was tun?

Es geht Huntington nicht um eine Analyse von Interessen von Ländern oder politischen Kräften des Mittleren Ostens. Das ist weitgehend überflüssig, da ja ohnehin eine unüberbrückbare Kluft und prinzipielle Feindschaft zwischen beiden Kulturen bestehe. Daraus leiten sich auch seine politischen Vorschläge ab:

"to limit the expansion of the military strength of Confucian and Islamic states; to moderate the reduction of Western military capabilities and maintain military superiority in East and Southwest Asia; to exploit differences and conflicts among Confucian and Islamic states; to support in other civilizations groups sympathetic to Western values and interests; ..."

Auf den Punkt gebracht bedeutet das für den Westen, "to maintain the economic and military power necessary to protect its interests in relation to these civilizations."11

Huntingtons ganzes Gerede über Islam und Zivilisationen steckt voller Widersprüche und Oberflächlichkeiten. Aber das ist unwesentlich, weil es nur als Verkaufsargument für die politische Argumentation gedacht ist, die westliche Überlegenheit auf allen Gebieten zu sichern. Deshalb muß der Islam gefährlich und unversöhnlich sein, und deshalb darf der Westen nach dem Ende des Kalten Krieges nicht übergebührlich abrüsten. Er muß sich gegen die Bedrohung wappnen. Das ist der Kern der Thesen Huntingtons, und alles andere, auch die Gesetze der aristotelischen Logik, werden dem konsequent untergeordnet. Das Besondere ist aber, daß er zur Begründung seiner Bedrohungsangst nicht von einer Analyse der Interessen oder Politik von Ländern oder politischen Kräften im Mittleren Osten ausgeht, sondern von seinen widersprüchlich formulierten "zivilisatorischen" Grundkategorien. Nicht Interessenunterschiede führen zu Konflikten, sondern die bloße Tatsache der Andersartigkeit von Kulturen beinhaltet die Kriegsgefahr. In gewissem Sinne könnte man seine Argumentation "kulturrassistisch" nennen. Die Moslems (bzw Chinesen) sind anders als wir, und genau deshalb gefährlich. Die Andersartigkeit wird allerdings nicht mehr wie im klassischen Rassismus genetisch begründet, sondern kulturell. Die Werte und Denkweisen seien so verschieden, daß eine Verständigung oder gar wechselseitige Befruchtung kaum denkbar ist. Nur militärische Lösungen versprechen Erfolg.

Der pakistanische Außenminister Sardar Aseff Ahmad Ali hat die Sorgen vieler Beobachter im Nahen und Mittleren Osten zu dieser Diskussion sehr undiplomatisch auf den Punkt gebracht. Er formulierte:

„And the thesis of [a clash of] civilizations which is propounded by Harvard Professor Huntington is indeed shocking. It is full of racial undertones. It might easily have been written by Adolf Hitler. I find very little difference between Adolf Hitler’s „Mein Kampf“ and Professor Huntington’s thesis of civilizations going to war. He views the world in very miopic and very narrow terms. This is not the way civilizations have evolved or clashed in the past. Why should it happen in the future? He perceives international relations in total racial terms, that the brown man and the yellow man are going to gang up against the white Christian World, against the white man. And by doing this we are totally rejected. It is a thesis based on false premises, and it is a very dangerous one. But what is shocking to us is not that such a thesis has come about. In the last 100 or 200 years in the world of academia there have been always such mad scenarios, written by eccentric scholars. But why is this thesis given so much of importance? This is shocking to us. ... We are astounded, we are absolutely astounded, that the West which stands for values, human values of human equality and justice should now start propagating a thesis which is totally and shamelessly racialist.“12

Aber genau hier liegt die Originalität der Huntingtonschen Thesen: die frühere Spaltung der Diskussion zwischen einer oft hysterische Feindbildproduktion in Teilen der Medien und einer realpolitisch kühlen Debatte im außenpolitischen Establishment ist aufgehoben, die Klischees und Stereotype, das alte Feindbild sollen zum Ausgangspunkt westlicher Außenpolitik werden. Und das alles ausgerechnet zur Verteidigung westlicher Rationalität und anderer Werte der Aufklärung. Für eine westliche Außenpolitik kann das zweierlei bedeuten. Entweder benutzt sie diese Thesen zur Rechtfertigung ihrer Politik, ohne sie inhaltlich zu akzeptieren. Man würde sich also weiterhin zweckrational von den eigenen imperialen Interessen leiten lassen, die Interessen anderer Akteure (etwa im Mittleren Osten) analysieren, und den vorgeblichen Kampf der Zivilisationen nur für den Hausgebrauch instrumentaliseren, um innenpolitisch Unterstützung für diese Politik zu gewährleisten.

Eine solche Praxis wäre zwar zynisch, aber noch die erfreulichere Variante. Gefährlich würde es, wenn die außenpolitischen Eliten des Westens Huntingtons Thesen wirklich ernst nähmen und zu einer Richtschnur ihres Handelns machten. Dann nämlich wäre eine massive Re-ideologisierung der Außenpolitik die Folge, die sich weniger von den Realitäten oder Interessen, um so mehr aber von den eigenen Hirngespinsten leiten ließe. Man würde sich genau so verhalten, wie man es so gern islamischen Fundamentalisten unterstellt. Und das mögliche Ergebnis könnte darin bestehen, daß die Länder Europas und Nordamerikas tatsächlich eine Politik nach dem Motto verfolgten: "The West Against the Rest". Genau dies müßte aber überall in der Dritten Welt als "westliche Verschwörung" zur Beherrschung des Globus interpretiert werden - und würde vermutlich Konflikte drastisch verschärfen, die entlang der Linien Schwarz versus Weiß, Christlich versus Islamisch, der Westen gegen die Dritte Welt verlaufen. Eine self-fulfilling prophecy muß nicht originell oder vernünftig sein, um verheerende Ergebnisse zu zeitigen. Wer den Kulturrassismus zum Leitmotiv seiner Außenpolitik erhebt braucht sich nicht zu wundern, wenn sich in anderen Kulturen als Reaktion darauf Tendenzen zur Isolierung und zur anti-westlichen Konfrontation breitmachen. Ein Gespensterwahn ist auch dann gefährlich, wenn es Gespenster gar nicht gibt. Auch der Wahn selbst kann real werden, materielle Kraft gewinnen, wenn ihn nur genug teilen und nach ihm handeln.

Selbst- und Fremdbild

Nun bedeutet die Zurückweisung der Thesen von Huntington und Tibi natürlich nicht, daß es zwischen dem Westen und einigen Ländern im Nahen und Mittleren Osten keine scharfen Konflikte gäbe. Ebensowenig läßt sich leugnen, daß unter dem Firmenschild des Islam Akte der Intoleranz, des Fanatismus, der Gewalt und des Terrors begangen werden. Es kann also nicht darum gehen, „den Islam“ oder den Islamismus unter einen intellektuellen Naturschutz zu stellen und jeder Kritik zu entziehen. Ganz im Gegenteil: so wie es nützlich ist, die christlichen Traditionen des Westens immer wieder auf ihre Rationalität, auf ihre Beschränktheit, ihren Nutzen oder ihre Erstarrung und Entleerung zu prüfen, so nützlich ist dies auch für andere religiöse Traditionen wie den Islam. Dabei sollte es allerdings um eine kritische Analyse gehen, nicht um Feindbildproduktion. Eine solche Analyse hat auch gleiche Maßstäbe nach allen Seiten anzuwenden.

Häufig allerdings stehen in der westlichen Debatte - im Nahen Osten gibt es fast spiegelbildlich ebenso absurde Vorstellungen - die Ergebnisse der Betrachtung schon von Vornherein fest: der Westen ist „modern“, der Islam „mittelalterlich“, auf jeden Fall altmodisch und anachronistisch. Der Westen ist „rational“, der Islam irrational und gefühlsgeleitet. Der Westen ist „säkular“, der Islam - „religiös“. Zum guten Teil lebt der Charme dieser bequemen Gegensatzpaare davon, daß der Islam eben nicht mit dem Christentum verglichen wird, sondern mit „dem Westen“. Nicht die Gesellschaften des Nahen Ostens und Europas werden verglichen, auch nicht die jeweils vorherrschenden Religionen, sondern eine Religion (die dann mit den Gesellschaften identifiziert wird) mit einer Region, die dann ideologisch überhöht und nicht-religiös interpretiert wird.

Es ließe sich lange darüber diskutieren, ob der Westen tatsächlich so rational und säkular ist wie er das von sich gern glauben möchte. Gerade die Diskussion um das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gibt hier viel Anlaß zum Nachdenken. Dazu ist hier nicht der Ort, dies ist auch bereits an anderer Stelle geleistet worden.13

Die eine Seite der gängigen Gegensatzpaare („rational, modern“) reflektiert das westliche Selbstbild, das Wunschbild des Westens von sich selbst. Um analytische Kategorien handelt es sich nicht. Die Gegenseite („mittelalterlich, religiös, irrational“) besteht ebenfalls nicht aus analytischen Kategorien, sondern aus der Projektion dessen, was man selbst überwunden haben möchte auf ein Gegenüber. In der Konfrontation des Anderen bekämpft man so symbolisch seine eigene Vor-Modernität, aber nicht in sich selbst, sondern im Anderen. Das erklärt auch die erstaunliche Emotionalität der westlichen Islamperzeption. Diese geht nicht von einer Analyse von Interessen, gesellschaftlichen Konstellationen und Kräften und politischen, ökonomischen, sozialen Konflikten aus, sondern von religiösen Kategorien. Sie glaubt den Islamisten unkritisch ihre religiöse Selbstrechtfertigung und nimmt all die religiöse Rhetorik zum Nennwert. „Religion und Politik sind im Islam untrennbar“ - solche Positionen mögen jeder Empirie ins Gesicht schlagen, denn seit Jahrhunderten (mindestens seit der Zeit nach dem vierten Khalifen) sind beide getrennt, wird die diese von jener instrumentalisiert und manipuliert (oder umgekehrt) - was deren Trennung offensichtlich voraussetzt. Gerade die Trennung von Politik und Religion ist ja der Hintergrund, vor dem erst deren Aufhebung lautstark verlangt werden kann. Dies ist vom palästinensischen Wissenschaftler Azmi Bishara ausführlich dargelegt worden.14 Selbst in fundamentalistischen Regimen wie dem iranischen oder dem saudiarabischen kann von einer Identität von Politik und Staat einerseits und Religion andererseits ernsthaft keine Rede sein - unabhängig davon, was uns deren Ideologen weismachen möchten. Trotz der eindeutigen empirischen Befunde wird die islamistische Rhetorik aber von den meisten westlichen Beobachtern „geglaubt“, weil das das bequeme Bild von einem „religiösen“, vormodernen islamischen Kulturkreis bestätigt.

Der Islamismus

Der Islamismus - vulgo: der islamische Fundamentalismus - selbst ist trotz seiner Verklärung der islamischen Frühzeit nicht „mittelalterlich“, sondern erstens selbst ein Phänomen der Moderne, und zweitens eine Strategie, die gerade auf die Erzwingung der Modernisierung in Nahen Osten zielt.15 Die Islamisten sind die Gegenspieler der traditionellen Theologen. Sie sind im Gegensatz zu manchen Annahmen meist gerade nicht die Vertreter der marginalisierten Bevölkerung in den städtischen Slums oder auf dem Land, sondern die der (teilweise deklassierten) Mittelschichten. Genauer gesagt, handelt es sich bei den Kadern häufig (etwa in Ägypten) um Söhne ländlicher Familien, die in den Städten (oder sogar im Ausland) Universitäten besucht haben - und dann mit ihrer „modernen“ Bildung aufgrund der sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen kaum etwas anfangen können. Es handelt sich oft um Leute, die zur Integration in die westliche Variante der „Moderne“ bereit waren, aber von dieser (kulturell, über den Arbeitsmarkt, oder auf andere Weise) zurückgewiesen wurden. Der Anteil von Ärzten, Rechtsanwälten, Ingenieuren, Lehrern in der ersten Generation unter den islamistischen Kadern ist beträchtlich. Hier ist keine prinzipielle Ablehnung einer westlich geprägten Moderne am Werk, sondern die Frustration über deren Scheitern in der eigenen Gesellschaft. Nicht die Modernität als solche wird bekämpft, sondern ihre Monopolisierung durch den Westen und ihr Fehlschlag im Nahen Osten. In vielen Fällen ist der Islamismus sehr Technik- und wissenschaftsfixiert und beklagt gerade, von diesen Fortschrittsinstrumenten durch westliche und imperiale Politik ausgeschlossen zu sein. Der alte Liberalismus habe den eigenen Gesellschaften weder Fortschritt noch Entwicklung gebracht, der Arabische Nationalismus, der Arabische Sozialismus und der Marxismus-Leninismus seien daran gescheitert. Deshalb sei dieses Ziel nur durch Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln und durch eigene Anstrengung zu erreichen, nicht durch ideologische Importe. „Der Islam“ gewinnt seine ideologische Attraktivität vor allem durch das offensichtliche Scheitern seiner säkularen Alternativen.

Die tatsächliche Basis des islamischen Fundamentalismus ist politisch und nicht „religiös“. Ohne das Scheitern westlicher Entwicklungskonzepte und ehemals osteuropäischer, staatssozialistischer Vorstellungen gäbe es ihn nur als historische und politische Marginalie. In der Regel zeichnen sich die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens durch das Zusammentreffen dreier grundlegender Faktoren aus: durch das Scheitern wirtschaftlicher Entwicklung mit den entsprechenden sozialen Folgen (etwa eine Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 Prozent); einen zugleich repressiv und bürokratisch-inkompetenten, diktatorischen Staatsapparat, der für die wirtschaftliche Misere verantwortlich gemacht wird; und drittens die Existenz imperialer, äußerer Mächte, die nur an den Ressourcen der Region interessiert seien und die lokalen Diktaturen stützen. Der Westen (oder im Afghanistan der achtziger Jahre die Sowjetunion) werden mit den lokalen Diktaturen und der Wirtschaftskatastrophe identifiziert, und letztlich für beide verantwortlich gemacht.

Der Islamismus mag die Interessen westlicher Außenpolitik bedrohen, er mag in vielen Fällen auch eine Gefahr für säkulare Frauen, Intellektuelle und insgesamt nicht-religiöse Menschen im Nahen und Mittleren Osten darstellen. Aber die tatsächliche Konfliktline verläuft nicht zwischen „dem Westen“ und „den Islam“ (oder dem Fundamentalismus), sondern innerhalb der nahöstlichen Gesellschaften. Da aber diese inzwischen häufig selbst stark „verwestlicht“ sind und andererseits im Westen Millionen muslimischer Migranten leben, und der Westen den Nahen und Mittleren Osten als seine Einflußzone mit großem wirtschaftlichen und strategischem Gewicht betrachtet, erscheinen die Konflikte zwischen Islamismus, traditioneller Theologie, Volksreligiosität und säkularen Lebensformen im Nahen Osten zugleich als Konflikt mit dem Westen. Dabei werden die Differenzierungen der religiösen Erscheinungen mit zunehmender Entfernung verwischt, ein sozialer Konservatismus mitunter mit religiösem Fundamentalismus verwechselt. Selbst der Islamismus ist aber in Wirklichkeit kein homogenes Phänomen: zu ihm gehört jede konsequente Form religiöser Neubesinnung und Reformbewegung, sobald sie die traditionelle, orthodoxe Theologie sprengt. Praktisch heißt das, daß der Islamismus von befreiungstheologischen Positionen bis zu religiösen Spielarten des Faschismus reicht.

Und nun?

Was bedeutet das für den Westen? Zuerst einmal ist es absurd, sein Bild vom „Islam“ ausgerechnet von den Islamisten zu beziehen, um dann den fundamentalistischen Charakter des Islam zu beklagen. Der Islam als Religion ist nicht mittelalterlicher oder reaktionärer als das Christentum, und seine Spannbreite ist ebenso groß. Die Lebenswirklichkeiten in islamisch geprägten Kulturen können ebenso säkular sein wie die in christlich geprägten. Ob sie das aber sind - das hängt nicht vom Koran oder der Theologie ab, sondern vom Stand der gesellschaftlichen Entwicklung und Debatte. So konstant die Texte des Koran und der Bibel auch sein mögen: was die Muslime und Christen unter ihrer jeweiligen Religion zu verstehen belieben ist höchst flexibel und ändert sich.

Es wäre wünschenswert, wenn der Westen eine konsistente Politik zugunsten der Menschenrechte und Demokratie zustandebrächte, nicht die leere Rhetorik und zynische Manipulation der Begriffe, der sie zu Waffen in der politischen Auseinandersetzung macht. Dann könnte man sich nämlich gegen Repression, Menschenrechtsverletzungen, diktatorische Verhaltensweise wenden - unabhängig davon, ob sie religiös oder säkular begründet werden. Ob eine Person oder politische Bewegung terroristische Mittel anwendet ist unabhängig davon ein Verbrechen, ob diese christliche, islamische, marxistisch-leninistische, liberale, säkulare oder sonstige Rechtfertigungen vorbringt. Ob ein Folterknecht an Gott glaubt, ob er dies in seiner muslimischen, jüdischen oder christlichen Variante tut - das ist seine Privatsache. Unabhängig davon muß er zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn Fanatiker in Algerien 16-jährigen Mädchen die Kehle durchschneiden müssen sie vor Gericht gestellt und bestraft werden - nicht weil sie radikale Muslime sind, sondern weil sie ein scheußliches Verbrechen begangen haben. Und wenn säkulare westliche Politiker und Regierungen in Algerien oder Pakistan die Demokratie oder freie Wahlen untergraben oder verhindern, dann ist das genauso schlimm, als wenn dies Islamisten unternehmen.

Der Islam ist ebenso wenig ein Problem wie das Christentum, selbst wenn ich beiden gegenüber skeptisch eingestellt bin. Das Problem besteht im Scheitern der politischen Systeme im Nahen Osten, in der ökonomischen Katastrophe dort, in der Verzweiflung und Perspektivlosigkeit, der sozialen und politischen Polarisierung, die sich opportunistisch eine zweckmäßige ideologische Ausdrucksform sucht. Früher war diese Ausdrucksform der Arabische Sozialismus oder der Marxismus-Leninismus, heute, unter weiter zugespitzten Bedingungen, ist es der Islamismus. Morgen, nach dessen Scheitern, wird es etwas Anderes sein. Sich hier auf die grundlegenden Probleme statt nur deren Ausdrucksformen zu konzentrieren wäre eine gute Idee. Der Islamismus kommt nicht von Gott, er entspringt aus den verzweifelten Bedingungen.

Anmerkungen

1 so der Titel eines seiner Bücher, Hamburg 1995

2 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs, Vol. 72, No. 3, Summer 1993, p. 22

3 es ist auch viel darüber geredet und geschrieben worden. Zuerst erschien in Foreign Affairs (September/October 1993) eine Reihe knieweicher Erwiderungen, dann eine Antwort Huntingtons (November/December 1993). Erfrischend dann ein Beitrag von: Richard E. Rubenstein/Jarle Crocker, in Foreign Policy (Fall 1994) unter dem Titel: „Challenging Huntington“, zu dem Huntington eine Antwort ablehnte. Der Widerhall der Debatte in den Medien - auch den deutschsprachigen, war von sehr gemischter Qualität, aber beträchtlich.

4 ebenda, S. 23, 24

5 ebenda, S. 25

6 einige der folgenden Passagen stammen in überarbeiter Fassung aus: Jochen Hippler, The Islamic Threat and Western Foreign Policy, in: Jochen Hippler / Andrea Lueg (Eds.), The Next Threat - Western Perceptions of Islam, London 1995, pp. 147 - 150; in der deutschen Fassung des Buches („Feindbild Islam“, Hamburg 1993) waren sie nicht enthalten, da Huntingtons Aufsatz noch nicht erschienen war.

7 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs, Vol. 72, No. 3, Summer 1993, p. 45

8 p. 48

9 p. 31

10 p. 34/35

11 p. 40

12 p. 49

13 Tonbandmitschnitt eines Gespräches mit dem Verfasser, am 9.3.1994 im Außenministerium in Islamabad

14 siehe dazu ausführlich: Jochen Hippler, Die deutschen Mullahs proben den Aufstand, oder: Wie einmal das Abendland vor dem Untergang gerettet wurde; unveröffentlichtes Manuskript

15 Azmi Bishara, Religion und Politik im Nahen und Mittleren Osten, in: Jochen Hippler/Andrea Lueg (Hrsg.), Feindbild Islam, Hamburg 1993, S. 92 - 141

16 dazu: Jochen Hippler, Kein Kampf der Zivilisationen - Anmerkungen zu Islamismus und Islam, in: epd-Entwicklungspolitik, 11/1995 (Juni), S. 22-26

 

 

Quelle:
Jochen Hippler
Anstatt einer notwendigen Satire: Eine kleine Polemik zum “Clash of Civilizations” nebst einigen Anmerkungen zum Islamismus,

in: Martina Haedrich/Werner Ruf (Hrsg.), Globale Krisen und europäische Verantwortung - Visionen für das 21. Jahrhundert, (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, AFK, Bd. XXIII), Baden-Baden 1996, S. 169-178