Legitimationsdefizite und deformierte Staatlichkeit -

Pakistan und seine Stabilitätsprobleme

  

Jochen Hippler

  

Ende 2014 wird die NATO ihre Kampftruppen aus Afghanistan zurückziehen. Die Zukunft des Landes ist vor diesem Hintergrund mehr als unsicher: Wenn es der Regierung in zwölf Jahren nicht gelang, mit Hilfe der USA und der NATO die Aufständischen zu besiegen, dürfte dies ohne oder bei weit geringerer Unterstützung noch unwahrscheinlicher werden. In der letzten Zeit hat sich die Sicherheitslage weiter verschlechtert, eine Stabilisierung ist nicht absehbar. Wachsende Instabilität in Afghanistan dürfte sich auf das Nachbarland Pakistan auswirken - selbst ein instabiles Land mit 190 Millionen Einwohnern und Atomwaffen. Die Auswirkungen eines staatlichen Scheiterns Pakistans würden aber die Bedeutung eines gescheiterten Afghanistans bei weitem in den Schatten stellen. Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, die Stabilität Pakistans zu analysieren.

  

Übergang zur Demokratie

Das erste Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende stellte für Pakistan eine schwierige Periode dar. Sie war gekennzeichnet von einer zuerst beliebten, dann verhassten Militärdiktatur (unter General Musharraf, 1999-2008) und der Beteiligung am "Krieg gegen den Terrorismus". Beides untergrub die Stabilität des Landes und förderte religiösen Extremismus, der sich auch zunehmend der überkommenen Steuerung und Instrumentalisierung durch staatliche Organe entzog. Die zunehmende Einigung fast der ganzen pakistanischen Gesellschaft gegen den Militärherrscher und eine breite Massenmobilisierung in den Jahren 2007/2008 unter Führung der Juristen und Rechtsanwälte erzwangen eine Rückkehr zur Demokratie, die von den Wahlen im Mai 2008 eingeleitet wurde. Danach brauchte das politische System Pakistans einige Monate, um eine vorläufige Stabilisierung zu erreichen. Erst im August 2008 trat Musharraf zurück, um einem drohenden Verfahren zur Amtsenthebung zuvorzukommen. Asif Zardari, der höchst umstrittene und allgemein als korrupt bekannte PPP-Chef, übernahm die Präsidentschaft. Erst danach war die Phase der jüngsten Militärherrschaft auch formal abgeschlossen.

Die Bilanz der neu gewählten Regierung war in vielen Feldern eher enttäuschend, etwa in der Wirtschafts- oder Energiepolitik (siehe unten). Allerdings gelangen einige grundlegende politische Reformen, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte. Ein erster Schritt erfolgte 2009, als den Northern Areas ein Selbstverwaltungsstatus eingeräumt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt verfügten die Bewohner der Northern Areas kaum über politische Rechte, da die Region nicht über den Status einer Provinz verfügte, sondern direkt von Islamabad verwaltet wurde. Die Reform räumte ihr zwar weiterhin diesen Staus nicht ein, gestand ihr aber politische Instanzen wie ein eigenes Selbstverwaltungsparlament zu. Gleichzeitig wurde die Region umbenannt - statt "Northern Areas" heißt sie seitdem "Gilgit-Baltistan", nach ihren beiden wichtigsten Bestandteilen.

Ein weit wichtigerer Reformschritt erfolgte 2010 durch die Verabschiedung der 18. Verfassungsänderung. Hierbei handelte es sich um eine umfassende Verfassungsreform, die symbolische Veränderungen mit weitreichenden Reformen verband. Zu ersten Kategorie gehörte die Umbenennung der alten Nordwestprovinz (North West Frontier Province, NWFP) in "Khyber Pakhtoonkhwa", um den dort lebenden Paschtunen entgegenzukommen. Nun war deren ethnische Bezeichnung Teil des Namens der Provinz.

Von entscheidender Bedeutung war allerdings etwas anderes. Die Verfassungsänderung regelte vor allem das Verhältnis zwischen dem Präsidenten und dem Ministerpräsidenten neu. Dabei wurde eine ganze Reihe früherer Verfassungsänderungen der beiden Militärdiktatoren Zia ul-Haq und Musharraf rückgängig gemacht, die die Macht in den Händen des Präsidenten - also bei sich selbst - konzentriert hatten. Die Reformen des Jahres 2010 stärkten nun den parlamentarisch verantwortlichen Ministerpräsidenten und beschränkten die Macht des Präsidenten deutlich. So konnte dieser nicht länger einseitig das Parlament auflösen, auch zur Ausübung vieler anderer Rechte und Zuständigkeiten war der Präsident nun auf die Zustimmung des Ministerpräsidenten angewiesen oder musste auf dessen Vorschlag handeln. Ein weiterer, zentraler Reformpunkt bestand in der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen der Zentralregierung, den Provinzen und den Kommunen, bei der insbesondere die Provinzen auf Kosten der Zentralregierung mit neuen, weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und so der Föderalismus gestärkt wurde.[1]

Damit waren einige der wichtigsten Defekte der pakistanischen Verfassung korrigiert, die über die letzten Jahrzehnte von Diktatoren verursacht wurden waren, um hinter einer demokratischen und rechtsstaatlichen Fassade die Kontrolle ausüben zu können. Wenige Beobachter hätten dem politischen System Pakistans die Kraft zu einer solchen demokratischen Reform zugetraut.[2]

Trotz dieses Erfolges erwiesen sich die Jahre nach den Wahlen von 2008 als wenig ermutigend. Das Ansehen der Regierung und der gesamten politischen Elite sank aufgrund der sich vertiefenden wirtschaftlichen und politischen Krise dramatisch. Damit verbunden war ein tiefer Konflikt zwischen der Regierung und dem Verfassungsgericht, das bereits beim Kampf gegen die Musharraf-Diktatur eine Schlüsselrolle gespielt hatte. 2009 versuchte Präsident Zardari, die zuvor beschlossene Wiedereinsetzung der von General Musharraf abgesetzten Verfassungsrichter zu verhindern, wurde allerdings durch breiten Widerstand zu einem Rückzieher gezwungen. Im Juni 2012 wurde Ministerpräsident Gilani durch eine Entscheidung des höchsten Gerichts abgesetzt, weil er sich systematisch geweigert hatte, einer früheren Entscheidung Geltung zu verschaffen. So hatte Gilani es jahrelang unterlassen, im Rahmen von Ermittlungen wegen Korruption gegen Präsident Zardari wie vom Gericht angeordnet von der Schweiz die Herausgabe finanzieller Unterlagen zu verlangen. [3] Wegen Nichtbefolgung der Anordnungen des Verfassungsgerichtes verlor er nun seinen Posten. Die öffentlichen Auseinandersetzungen über die Korruption von Spitzenpolitikern war politisch besonders sensibel, weil ja auch Präsident Zardari allgemein als der Inbegriff öffentlicher Korruption galt und gilt, und zwar auch aufgrund westlicher Recherchen, wie etwa der New York Times.[4] 1999 war er in der Schweiz bereits zu einer Haftstrafe wegen Geldwäsche verurteilt worden und sah sich auch in anderen Ländern Anklagen oder Ermittlungen gegenüber. Auch die meisten Oppositionspolitiker - einschließlich des Oppositionsführers und späteren Ministerpräsidenten Nawaz Sharif - stehen in kaum einem besseren Ruf.

  

Flut und Wirtschaftskrise

Aber zur wachsenden Unzufriedenheit in Pakistan trug nicht nur die diskreditierte politische Elite bei, sondern auch die Tatsache, dass sich diese Elite als unfähig erwies, die drängenden Probleme des Landes zu lösen. So nahm die Wirtschaftskrise des Landes nach dem Amtsantritt Präsident Zardaris zunehmend dramatische Formen an. Dazu kamen allerdings Faktoren, die jenseits der Gestaltungsmöglichkeit der Regierung lagen – etwa die katastrophale Überschwemmung des Jahres 2010.

Der Wiederaufbau erweis sich selbst mit umfangreicher internationaler Hilfe als langwierig, da gerade in den fruchtbaren und dicht besiedelten Gegenden entlang der Flüsse fast alles zerstört war, auch die Infrastruktur, die für den Wiederaufbau dringend nötig war. Das in den weiten Ebenen sehr langsam fließende oder stehende Wasser war teilweise verseucht (etwa durch Tierkadaver). Gerade die Armen und Schwachen litten am meisten darunter: Nicht nur, weil die Lebensmittelpreise wegen des Verlusts der Vorräte und des Ausfalls der Ernte rasant stiegen, sondern auch, weil bereits zuvor bis zu 40 Prozent der Kinder unter fünf Jahren an Mangel- oder Unterernährung litten. Die Widerstandskraft gegen auch eigentlich "harmlose" Krankheiten (z.B. Durchfallerkrankungen) war entsprechend gering.[5] Präsident Asif Ali Zardari hielt es trotz dieser dramatischen Situation nicht für nötig, eine lange Auslandsreise durch Großbritannien und Frankreich abzubrechen und sich an die Spitze der Krisenbekämpfung zu stellen, sondern blieb im Gegenteil noch länger als geplant in Europa. Dies wurde in der Bevölkerung als demonstratives Desinteresse an ihrem Leiden wahrgenommen. Dazu kamen immer wieder Meldungen, Hinweise und Gerüchte, dass die überforderte Regierung dazu neigte, eigene Anhänger und ihr nahestehende Personen eher zu helfen als dem Rest der Bevölkerung.

 Die Flut warf die ohnehin angeschlagene pakistanische Wirtschaft zusätzlich deutlich zurück.

"In den letzen fünf Jahren betrug das durchschnittliche Wachstum 3,0 Prozent, also deutlich unter den 6,8 Prozent der fünf Jahre davor und den geschätzten 7 Prozent, die für die Aufnahme neuer Arbeitskräfte im Arbeitsmarkt nötig wären."[6]

Damit lag das Wachstum in den letzten Jahren nicht nur dramatisch unter dem der großen Nachbarländer Indien und China, sondern erreichte manchmal nicht einmal mehr das Niveau des Bevölkerungswachstums. Auch für 2014 erwartet die Asiatische Entwicklungsbank nur 3,0 Prozent Wachstum.[7]

Die Inflationsrate lag 2013 noch bei 7,4 Prozent, der Anteil der öffentlichen Schulden am Bruttosozialprodukt bei über 8,8 Prozent.[8] Zugleich importierte Pakistan in den letzten Jahren für etwa 10 Mrd. Dollar jährlich mehr Waren, als es exportierte. Bereits im Herbst 2008 stand Pakistan am Rande des Staatsbankrotts, konnte aber durch eine Anleihe des IWF in Höhe von über 11 Mrd. Dollar gerettet werden.

Zwei der wichtigsten Gründe für die wirtschaftlichen Probleme, wenn man vom Defizit der schwachen politischen Steuerung durch die Regierung absieht, bestanden in der sehr schmalen Steuerbasis des Staates (unter 10 Prozent des BIP) und der sich dramatisch zuspitzenden Energiekrise, die zunehmend zu Stromausfällen führte. Ein IWF-Vertreter erklärte bei einem Besuch in Islamabad zugespitzt:

"Das wichtigste Hindernis des Wachstums ist der Energiesektor. Das zweitwichtigste Problem ist der Energiesektor, und das drittwichtigste ist vermutlich ebenfalls der Energiesektor." [9]

Im April 2010 erklärte ein Vertreter des mit weitem Abstand wichtigstem Energieerzeugers PEPCO, dass in Pakistan einem Bedarf an Produktionskapazitäten von mehr als 16.000 MW nur etwas mehr als 10.000 MW an realer Kapazität gegenüberstehen. Angesichts des Strommangels bemühte sich PEPCO, die Stromabschaltungen auf 9 Stunden täglich in Städten und 4 Stunden in Industriezonen zu begrenzen,[10] was häufig allerdings nicht gelang.

Ein Bericht der Friends of Democratic Pakistan, ein Zusammenschluss u.a. von westlichen Regierungen und internationalen Organisationen, formulierte in einem Bericht über den pakistanischen Energiesektor:

"Pakistans Energiesektor steckt in einer Krise. ... Viele ländliche Gebiete sind täglich bis zu 20 Stunden, städtische Gebiete 8-10 Stunden ohne Strom. Die Gasknappheit ist ebenfalls gestiegen, und Erdgas wird im Winter rationiert."[11] Der Bericht bezeichnete die Energiekrise als "nationalen Notstand".

Es ist offensichtlich, dass diese dramatische Unterversorgung mit Elektrizität einerseits schwere Einschränkungen der Bevölkerung nach sich zieht (keine Nutzung von Pumpen, Kühlschränken, Klimaanlagen, Elektrogeräten jeder Art, Computer, etc.), sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung schwer behindert. Die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) schätzt, dass aufgrund der Energiekrise das Bruttoinlandsprodukt zwei Prozent unter seinem sonst erreichten Niveau liegt.[12] In den letzten Jahren kommt es aufgrund der ständigen Stromausfälle immer wieder zu Protesten, zum Teil von Unternehmern und Wirtschaftsführern, zum Teil seitens der Bevölkerung.

  

Protestbewegungen

Insgesamt sollte es nicht überraschen, dass die seit langer Zeit chronische Kombination von Korruption und schwacher Führung durch die politischen Eliten, dramatischen Preissteigerungen (insbesondere bei Nahrungs- und Heizmitteln, die Nahrungsmittelpreise stiegen von 2008 bis 2011 um 74 Prozent[13]), die gesunkene wirtschaftliche Dynamik, die für pakistanische Verhältnisse eine faktische Stagnation bedeutete, und die Energiekrise, die durch staatliche Versäumnisse im letzten Jahrzehnt verursacht wurde, zu beträchtlicher politischer Unzufriedenheit führte. Dies delegitimierte die Regierung, die politischen Eliten und zum Teil das politische System. Auf der einen Seite nützte dies den religiösen Extremisten und Aufständischen, insbesondere in Khyber Pakhtoonkhwa (der früheren Nordwestprovinz), den zu ihr gehörenden Stammesgebieten und dem südlichen Punjab. Zugleich bildeten sich säkulare oder religiös-liberale Protestbewegungen, die zum Teil extrem schnell wuchsen und beträchtliches Mobilisierungspotential entwickelten - aber auch schnell wieder an Bedeutung verloren, wenn sie es versäumten, sich organisatorisch zu festigen. Das erste Beispiel dafür stellt die Bewegung der Rechtsanwälte dar (2007/2008), die von großen Teilen der Gesellschaft unterstützt wurde und zum Fall Präsident Musharrafs beitrug.[14] Etwas später, insbesondere 2011/2012, kam es zu einem lawinenhaften Anwachsen der Pakistan Tehrik-i-Insaaf (PTI), der Partei des säkular-populistischen Ex-Cricket-Stars Imran Khan, der insbesondere bei jungen Leuten und in den Mittelschichten große Unterstützung fand und zum Teil noch findet. Eine Meinungsbefragung Ende 2011 erbrachte bemerkenswerte Ergebnisse. Danach wollten 66 Prozent der Wähler die PTI wählen, falls es am nächsten Tag Wahlen gäbe. Auf die Frage, welche Partei am besten geeignet sei, die Korruption zu bekämpfen, nannten 5 Prozent die regierende PPP, 6 Prozent die oppositionelle PML-N und 4 Prozent die islamistische JI. Der PTI Imran Khans vertrauten demgegenüber 60 Prozent. [15]

Auch wenn man aus einer solchen Momentaufnahme keine zu weitreichenden Schlüsse ziehen sollte - wie dies auch die Wahlen von 2013 bestätigten -, so macht sie doch die breite Stimmung des Misstrauens gegenüber den etablierten Parteien mehr als deutlich.

Es kam zu einer Welle der Parteiübertritte von Mitgliedern und Funktionären anderer Parteien (der PPP, PML, ANP, etc.) zu Imran Khans Partei, die in Pakistan zum Teil als "Tsunami" bezeichnet wurde.[16] Diese Welle kam zwar im Laufe des Jahres 2012 zum Stehen, machte die PTI Imran Khans aber zu einem wichtigen Akteur der pakistanischen Politik.

Zur Jahreswende 2012/2013 betrat dann plötzlich der islamische Gelehrte und Juraprofessor Muhammad Tahir-ul Qadri die politische Bühne, nachdem er zuvor sieben Jahre in Kanada gelebt hatte und dort auch kanadischer Staatsbürger geworden war. Qadri war erst im Dezember 2012 nach Pakistan zurückgekehrt, gewann aber sofort eine große und begeisterte Anhängerschaft, die zum Jahresbeginn 2013 zu Massendemonstrationen in mehreren Großstädten und in Islamabad zusammenströmte. Qadri betonte zwar oft und gern seine säkularen Qualifikationen als Jurist, wurde aber meist als religiöser Führer wahrgenommen, der unter anderem ein Netzwerk religiöser Schulen und eine religiöse Universität kontrolliert. In gewissem Sinne stellt Qadri einen Gegenpol zu den deobandischen religiösen Extremisten dar, da er die sunnitische Strömung der Barelvis mit ihren Sympathien für einen von Sufi geprägten, eher spirituellen Islam vertritt. 2010 publizierte er ein 600-seitiges Rechtsgutachten (Fatwa), nach denen Terrorismus und Selbstmordanschläge anti-islamisch seien.[17]

Die politischen Forderungen Qadris bei den Massendemonstrationen waren allerdings unklar und zum Teil rätselhaft. Trotzdem artikulierte er in populistischer Form die Unzufriedenheit und Wut, die viele Menschen in Pakistan empfanden. Nach einer kurzen und dynamischen Aufschwungsphase verpuffte die Kraft seiner Bewegung aber sehr schnell.

Der rasche Aufstieg der PTI Imran Khans und die plötzlich hereinbrechende Bewegung für einen Wandel ("We want change") im Umfeld Qadris machten das Ausmaß der Frustration großer Teile der pakistanischen Bevölkerung mit ihren Lebensbedingungen und der Korruption und Unfähigkeit ihrer politischen Eliten deutlich. Ihr Aufstieg erfolgte nicht so sehr aus eigener Kraft, sondern aufgrund der immer weiter gesunkenen Legitimität der politischen Eliten. Sollte es Protestbewegungen in Zukunft gelingen, in der pakistanischen Gesellschaft eigene organisatorische Wurzeln zu schlagen, wäre eine plötzliche Umstrukturierung des überkommenen Parteiensystems eine realistische Option. Auch wenn ein großer Teil der alten Politiker sich in einem solchen Fall vermutlich den neuen Bewegungen anschließen dürfte, um für sich selbst zu retten, was zu retten is,t so würde ein solcher Prozess doch zumindest dazu führen, dass die Mittelschichten stärker an der Politik partizipieren könnten und der Druck in Richtung Rechtsstaatlichkeit zunehmen würde. Bemerkenswert an den beiden Protestbewegungen war auch, dass sie im Kern säkular waren, auch wenn sie sich immer wieder auch religiöser Sprache bedienten.

  

Die Wahlen von 2013

Die Parlamentswahl vom Mai 2013 bedeutete für die aufstrebenden Protestbewegungen einen herben Rückschlag. Die PTI Imran Khans wurde mit 33 Sitzen nur die drittstärkste Partei - dies entsprach 9,6 Prozent der Mandate und war daher - gemessen an den fantastischen Umfragewerten nur Monate zuvor enttäuschend. [18] Die bisherige Regierungspartei PPP von Präsident Zardari erhielt nur 45 Sitze (13,2 %). Damit fiel sie auf das Niveau einer Regionalpartei zurück - in der entscheidenden Provinz Punjab (mit 55 Prozent der pakistanischen Bevölkerung) wurde sie praktisch bedeutungslos. Dort errang sie nur 4 von 183 Mandaten. Eindeutiger Wahlsieger in Pakistan insgesamt waren die PML-N und ihr Parteiführer und frühere Ministerpräsident Nawaz Sharif, mit 189 Parlamentssitzen (55,3 Prozent aller Mandate). Damit hatten die PakistanerInnen das "kleinere Übel" der überkommenen Machtelite gewählt. Die beiden religiösen Parteien JUI und JI errangen zusammen nur 17 Parlamentssitze (knapp 5 Prozent der Mandate) - nicht eben ein Indiz für eine bevorstehende Machtübernahme durch religiöse Extremisten.[19] Ministerpräsident wurde Nawaz Sharif, der als Vertreter der alten Eliten und Großunternehmer Hoffnung hatte wecken können, die Wirtschafts- und Energiekrise zu überwinden. Die PTI stellte in Khyber Pakhtoonkhwa den Ministerpräsidenten einer Koalitionsregierung, die auch Islamistische Partner einbezog - und wurde durch eine fragwürdige Politik bald entzaubert. Die Wahl von 2013 war für Pakistan insbesondere dadurch außergewöhnlich, dass sie in der pakistanischen Geschichte zum ersten Mal zu einer demokratischen Machtübergabe einer gewählten Regierung führte.

  

Politische Gewalt

Ein Grund zur Besorgnis über die Stabilität Pakistans liegt im weiter hohen Gewaltniveau. Bezogen auf den Komplex religiöser Extremismus, Terrorismus, Gewalt in Pakistan gab es in den letzten fünf oder sechs Jahren mehrere Verschiebungen. Einmal sind die gewaltsamen Extremistengruppen nicht mehr länger sehr überwiegend im Nordwesten des Landes (Khyber Pakhtoonkhwa) angesiedelt, wo aus den Stammesgebieten heraus die pakistanischen Taliban operieren. Inzwischen entstand ein weiterer Herd des religiösen Extremismus im südlichen Punjab. Seit einigen Jahren wird nun auch von "punjabischen Taliban" gesprochen.[20] Dabei handelt es sich um eine höchst gefährliche Entwicklung, da die religiös-extremistische Gewalt sich stärker von ihrer Bindung an den Afghanistankrieg löste und sich zugleich ethnisch pluralisierte. Gerade angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Pakistaner ethnische Punjabis sind, ist eine solche Tendenz besonders bedrohlich.

Zugleich allerdings kann festgestellt werden, dass das Gewaltniveau zwar weiterhin hoch bleibt, aber doch deutlich zurückgegangen ist. Zwar sind genaue Zahlenangaben schwierig, nicht immer zuverlässig und widersprechen sich, aber eine klare Tendenz ist doch erkennbar. Danach lag der Höhepunkt der Gewalt im Jahr 2009, als nach Angaben des Pak Institute for Peace Studies (Islamabad) insgesamt über 12.600 Menschen durch politische und ähnliche Gewalt getötet wurden (einschließlich Drohnenangriffe der USA, Stammeskonflikte und Bandenkriege). 2010 lag die Zahl bei rund 10.000, im Folgejahr bei noch 7100, und im Jahr 2013 bei 4725.[21] Dies ist eine weiterhin erschreckend hohe Zahl - aber zugleich darf nicht übersehen werden, dass in den letzten vier Jahren das Gewaltniveau um über 62 Prozent sank. Dabei verschoben sich die Gewaltquellen deutlich: 2013 starben 658Menschen durch interkonfessionellem Terrorismus,[22] und in der Provinz Belutschistan 727 Menschen durch terroristische Anschläge, von denen die große Mehrheit durch belutschische Nationalisten begangen wurde.[23]

 Insgesamt kam es 2013 zu einem weiteren, wenn auch nur leichten Sinken des Gewaltniveaus, aber zugleich zu einem deutlichen Anstieg ziviler Opfer (bei deutlich bzw. geringfügig sinkenden Todesopfern bei gewalttätigen Gruppen und den Sicherheitskräfte). Auch die Zahl der Selbstmordanschläge nahm deutlich zu, auf insgesamt 46 (von denen 34 durch die pakistanischen Taliban und ähnlich Gruppen begangen wurden). Die Struktur der Gewalt verschob sich deutlich zu ethnischer und konfessioneller Gewalt.[24]

  

Deformierter Staat und Legitimationskrise

Insgesamt befindet sich Pakistan in einer ausgesprochen schwierigen Situation. Das Gewaltniveau ist gesunken, bleibt aber weiter hoch und belastet die politische und wirtschaftliche Entwicklung. Der religiöse Extremismus nahm im letzten Jahrzehnt deutlich zu und trägt inzwischen wesentlich zur Gewalt bei. Die wirtschaftliche Krise wirkt sich ausgesprochen negativ auf die Lebensbedingung der Bevölkerung aus - und das in einem Land mit ohnehin extremer Armut. Die politischen Eliten sind - aus gutem Grund - weitgehend diskreditiert, Korruption und Vetternwirtschaft untergraben das politische System. Selbst die eigentlich geschätzte demokratische Regierungsform verliert dadurch an Legitimität. In einer solch schwierigen Lage brauchte das Land dringend eine starke, glaubwürdige Führung, die aber nicht in Sicht ist. Eine gewählte Regierung, die aber nur eine Fraktion der wenig kompetenten und korrupten Eliten repräsentiert, reicht dafür auf Dauer nicht aus. Das Kernproblem des Landes besteht nicht in einer oft beschworenen Machtergreifung der pakistanischen Taliban und anderer Jihadisten ("die Taliban stehen 70 km vor Islamabad!"), die weiter schwer vorstellbar ist, sondern in der fortschreitenden Erosion der Gesellschaft und des Staates. Die Extremisten sind nur so stark, wie die Schwäche und Lähmung des Staates dies zulässt – das Problem ist vor allem ein langsam wachsendes politisches Vakuum, das von verschiedenen Kräften – eine Zeitlang Imran Khans PTI, kurzzeitig der Bewegung Qadris, aber auch den sunnitischen Extremisten – auf unterschiedliche Art gefüllt wird.

 Das zentrale Problem Pakistans besteht seit langem in der Deformation und Schwäche großer Teile des Staatsapparates. Während sich einerseits viele staatliche Sektoren (Schulen, Gesundheitsversorgung, Polizei, Justizwesen, allgemeine staatliche Verwaltung) in einem kläglichen Zustand befinden (z.T. aufgrund des hohen Korruptionsniveaus), ist das Militär gut organisiert und finanziell gut ausgestattet.[25] Deshalb ist der Staat in Pakistan insgesamt weder „stark“ noch „schwach“, sondern beides zugleich, also deformiert und befindet sich in einer strukturellen Schieflage.[26] Während viele zivile Teile des Staatsapparates ihre Funktionen nur mit Mühe und großen Einschränkungen wahrnehmen, ist das Militär stark genug, um weiter der entscheidende Machtfaktor zu sein, der die Gesellschaft direkt oder indirekt dominiert. Wenn zu dieser Deformation nun noch zusätzliche wirtschaftliche und politische Probleme hinzukommen, wie oben beschrieben, ist eine Zunahme der Instabilität kaum vermeidbar. Die Ergebnisse sind ein Mangel an glaubwürdiger gesellschaftlicher und politischer Führung und ein Prozess politischer Fäulnis, der Staat und Politik lähmt. Diese Lähmung verhindert die Lösung akuter gesellschaftlicher Probleme. Erst dadurch eröffnen sich Gruppen und Strömungen in der pakistanischen Gesellschaft Möglichkeiten der Einflussnahme, die sie aufgrund ihrer eigentlich eher nachgeordneten wirklichen Bedeutung sonst nie erlangen könnten. Das Problem der politischen Gewalt durch Extremisten ist humanitär, wirtschaftlich und politisch ernst und destruktiv. Aber der Kern der pakistanischen Politik wird nicht dadurch bedroht, sondern vor allem von seiner selbst verschuldeten Auszehrung, von einem Prozess des schleichenden Verfaulens, der die Widerstandskraft gegenüber gesellschaftlichen Übeln vermindert und die Gestaltungskraft für Problemlösungen reduziert.

Trotz dieser negativen Tendenz ist Pakistan immer noch kein „gescheiterter Staat“, wie oft behauptet und seit mehr als 20 Jahren immer wieder prognostiziert wurde. Das Land hat sich in den letzten Jahrzehnten häufig als unfähig erwiesen, seine Probleme zu lösen – aber zugleich eine ungeheuer große Fähigkeit gezeigt, sich ohne Problemlösungen weiter "durchzuwursteln". Es ist nicht klar, ob ein solcher Umgang mit einer ständigen Serie von Krisen und Konflikten unbegrenzt weitergehen kann, aber bisher war die Widerstandskraft Pakistans trotz seiner politischen Lähmung erstaunlich. Schwierigste und bedrohliche Probleme nicht zu lösen, sondern möglichst zu ignorieren oder nur rhetorisch zu beschwören, dabei aber nicht an ihnen zu scheitern – das ist sicher kein vielversprechendes Rezept für eine gute zukünftige Entwicklung, beschreibt aber die Tendenz der beiden letzten Jahrzehnte. Allerdings wiederholt sich dabei die Geschichte nicht ohne wichtige Veränderungen: Einmal hat sich gezeigt, dass die deutlich erstarkten Mittelschichten nun massiv in die Politik drängen und zum Teil verstärkt Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit, guter Regierungsführung und demokratischen Verhältnissen stellen. Dies hat die alten Eliten bereits mehrfach zu Zugeständnissen gezwungen. Ein Beispiel dieses positiven Wandels war die erwähnte 18. Verfassungsreform aus dem Jahr 2010, die langjährige und entscheidende Schwächen des politischen Systems beseitigte oder milderte. Heute überlassen die pakistanischen Bürgerinnen und Bürger ihr Land nicht mehr einfach den großen Familien, die es wie ihr Privateigentum verwalten, sondern fordern politische Rechte, Partizipation an der politischen Macht und ein Ende der Korruption. Vieles an den gesellschaftlichen Umbrüchen und der wachsenden Rolle der neuen Mittelschichten ist noch unfertig, oft unreif. Aber wenn der nötige Reifungsprozess schneller verlaufen sollte als der Fäulnisprozess des politischen Systems – dann trüge Pakistan in einer oder zwei Generationen ein völlig anderes Gesicht. Dies ist gegenwärtig allerdings eine völlig offene Frage.

 Die Bedeutung des westlichen Truppenrückzugs aus Afghanistan für Pakistan muss in diese Zusammenhänge eingeordnet werden. Die zu erwartende weiter zunehmende Instabilität in Afghanistan und die dortige Stärkung reaktionärer und extremistischer Kräfte werden bestimmte religiös-extremistische Kräfte in Pakistan weiter begünstigen - vor allem in den paschtunisch besiedelten Stammesgebieten und Khyber Pakhtoonkhwa insgesamt, aber auch in Teilen des Südpunjab und in Karachi. Das könnte ein weiteres Sinken des Gewaltniveaus bremsen oder verhindern, und unter besonders ungünstigen Bedingungen sogar umkehren. Dies wird die Probleme Pakistans vertiefen, aber keine grundlegend neue Situation schaffen. Ein Scheitern der afghanischen Regierung würde also für die pakistanische Stabilität eine Reihe taktischer Probleme verschärfen, aber keine strategische Krise bedeuten: Die grundlegenden Probleme Pakistans sind hausgemacht, wenn sie auch durch internationale Faktoren vertieft werden. Die mittel- und längerfristige Stabilität Pakistans wird vor allem von der Erosion der staatlichen Strukturen, von der Unfähigkeit und Korruption seiner Eliten und vom Schwinden der politischen Legitimität des politischen Systems und seiner Akteure bedroht.

 

 

Anmerkungen.

[1] Die Veränderungen der Verfassung durch die 18. Verfassungsänderungen im Detail: online: http://www.pakistani.org/pakistan/constitution/amendments/18amendment.html

[2] Die Umsetzung der Reformen wird allerdings noch einige Zeit benötigen: Insbesondere die neuen Rechte und Zuständigkeiten der Provinzen stehen zum Teil bisher allein auf dem Papier, da die Provinzen noch nicht in der Lage oder bereit sind, diese auch wahrzunehmen.

[3] The history of the Swiss case, in: Dawn, June 20, 2012, online: http://dawn.com/2012/06/20/the-history-of-swiss-case

[4] John F. Burns, House of Graft: Tracing the Bhutto Millions -- A special report.; Bhutto Clan Leaves Trail of Corruption, in: New York Times, January 09, 1998, online: http://www.nytimes.com/1998/01/09/world/house-graft-tracing-bhutto-millions-special-report-bhutto-clan-leaves-trail.html

[5] Center for Research and Security Studies (CRSS), A CRSS Report on Pakistan – Flood Situation and Aftermath, Islamabad, September 6, 2010

[6] Asian Development Bank, Asian development outlook 2012 update. Services and Asia’s future growth, Mandaluyong City, Philippines: Asian Development Bank, 2012, p. 146; online: http://www.adb.org/sites/default/files/pub/2012/adou2012.pdf

[7] Asian Development Bank, Pakistan - Economy, online: http://www.adb.org/countries/pakistan/economy

[8] ebenda

[9] Shahbaz Rana, Doomsday scenario: IMF paints a gloomy picture of Pakistan’s economy, in: The Express Tribune, with the International Herald Tribune, January 18, 2013, online: http://tribune.com.pk/story/495916/doomsday-scenario-imf-paints-a-gloomy-picture-of-pakistans-economy/

[10] Ahmad Fraz Khan, Electricity shortfall reaches 6,000MW, in: Dawn, 18. April 2010, online: http://archives.dawn.com/archives/44013

[11] Friends of Democratic Pakistan, Integrated Energy Sector Recovery Report and Plan, October 2010, S. IV; online: http://www.adb.org/sites/default/files/pub/2010/energy-recovery-report-plan.pdf

[12] Asian Development Bank, Asian development outlook 2012 update. Services and Asia’s future growth, Mandaluyong City, Philippines: Asian Development Bank, 2012, p. 146

[13] Basic food prices rose by 74pc in 3 years, in: Dawn, September 12, 2011, online: http://dawn.com/2011/09/12/basic-food-prices-rose-by-74pc-in-3-years.html

[14] Muneer A. Malik, The Pakistan Lawyers‘ Movement – An Unfinished Agenda, Karachi 2008

[15] Joel Faulkner Rogers Friday, YouGov-Cambridge Report - Public Opinion in Pakistan and the newfound popularity of Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI), 23rd December, 2011, p. 3

[16] zum Beispiel: ‘Tsunami’ sweeps Karachi, in: Dawn, December 26, 2011, online: http://dawn.com/2011/12/26/imran-vows-to-redress-grievances-of-baloch-people-work-for-islamic-welfare-state-tsunami-sweeps-karachi.html

[17] Muhammad Tahir-ul-Qadri, Fatwa on Terrorism & Suicide Bombings, Foreword by: Prof John L Esposito, London 2011

[18] Das pakistanische Parlament besteht aus 272 "allgemeinen Sitzen", 10 Sitzen, die für Minderheiten, und 60 Sitze, die für Frauen reserviert sind.

[19] alle Angaben zu den gewonnenen Sitzen nach den offiziellen und aktualisierten Angaben der Pakistanischen Wahlkommission, nach: http://ecp.gov.pk/overallpartyposition.pdf. Sie beziehen die Ergebnisse der Nachwahlen vom August 2013 mit ein, wodurch sie von früher veröffentlichen Wahlergebnissen abweichen.

[20] Mujahid Hussain, Punjabi Taliban – Driving Extremism in Pakistan, New Delhi 2012

[21] Pak Institute for Peace Studies, Pakistan Security Report 2012, Islamabad, January 2013, p. 7; und: Pak Institute for Peace Studies, Pakistan Security Report 2013, Islamabad, January 2014, p. 8

[22] Zum interkonfessionellen Konflikt zwischen sunnitischen und schiitischen Extremisten siehe u.a.: Khaled Ahmed, Sectarian War – Pakistan’s Sunni-Shia Violence and ist Links tot he Middle East, Karachi 2012; Pak Institute for Peace Studies, Pakistan Security Report 2013, Islamabad, January 2014, p. 8

[23] Pak Institute for Peace Studies, Pakistan Security Report 2013, Islamabad, January 2014, p. 18

[24] Terrorist attacks increased by 9pc, killings by 19pc, in: The News, January 6, 2014; online: http://www.thenews.com.pk/Todays-News-13-27760-Terrorist-attacks-increased-by-9pc-killings-by-19pc

[25] Hasan Askari Rizvi, The Military and Politics in Pakistan – 1947-1997, Lahore 2000, S. 270

[26] Aktuell zur Reflexion des Charakters des pakistanischen Staates: Anas Malik, Political Survival in Pakistan- Beyond Ideology, London 2011

Quelle;
Jochen Hippler
Legitimationsdefizite und deformierte Staatlichkeit - Pakistans Stabilitätsprobleme,
in: Werkner, Ines-Jacqueline u.a. (hrsg.): Friedensgutachten 2014, Münster: LIT-Verlag, 321-334