Jochen Hippler

Militärinterventionen im Namen der Humanität?

19.1 Einleitung:
Militärinterventionen als Mittel humanitärer Hilfe?

Humanitäre Notlagen oder Katastrophen sind seit langem Teil der menschlichen Geschichte. Dies gilt für Naturereignisse, derer Verursachung außerhalb menschlicher Kontrolle liegt (Erdbeben, Vulkanausbrüche, etc.), für solche, bei denen menschliche Gesellschaften eine auslösende oder verstärkende Rolle haben können (Dürre, Überschwemmungen oder Stürme durch menschlich induzierte Klimaveränderungen) oder andere, die direkt menschlich verursacht sind, wie Völkermord, ethnische Säuberungen, Kriegsfolgen oder staatliche Gewalt gegen die eigene Bevölkerung. Das Zwanzigste Jahrhundert ging als das der Kriege in die Geschichte ein - allein der Erste und der Zweite Weltkrieg kosteten 10 bzw. 50 Millionen Menschen das Leben, bei einer weit höheren Zahl der Vertriebenen, Verwundeten, Hungernden oder sonstwie an Kriegsfolgen leidenden. Noch mehr Opfer allerdings forderte die Gewalt von Regierungen gegen die eigenen Bevölkerungen. Rummel schätzt für die Jahre von 1900 bis 1987 in seinen beiden Büchern die Gesamtzahl der durch Regierungen außerhalb von Kriegshandlungen Ermordeten auf zwischen 170 und 360 Millionen – wobei nur die größten Fälle von Massenmord mit mehr als 700.000 Toten berücksichtigt wurden.[1]

Es ist offensichtlich, dass Gewalt von Regierungen und nichtstaatlichen Akteuren (Milizen, Warlords, etc.) gegen Zivilisten immer wieder schwerste humanitäre Notlagen verursachte und dies auch in Zukunft zu erwarten ist. Nach dem Ende des Kalten Krieges entstand in diesem Zusammenhang eine breite Diskussion über "Humanitäre Interventionen", die mit militärischen Mitteln von Menschen verursachte humanitäre Katastrophen beenden sollen. Die Militärinterventionen in Somalia, Bosnien und Kosovo waren frühe prominente Fälle solcher Militäreinsätze, die politisch allerdings bis heute umstritten bleiben. Ihre Reihe reicht vorläufig bis zum NATO-Luftkrieg in Libyen im Jahr 2011, der sicher nicht die letzte "humanitäre Intervention" bleiben wird. Daneben erfolgt auch eine Diskussion über die Nichtintervention in humanitären Notlagen, etwa in Bezug auf Ruanda oder - in jüngster Zeit - Syrien.

Ein zentraler Punkt der Diskussion dreht sich direkt oder indirekt um die Frage, ob "humanitäre Interventionen" tatsächlich "humanitären" Charakter tragen, oder zuerst und vor allem als Militärinterventionen (also eine Kriegsform) zu begreifen sind. Diese Frage sollte nicht vorschnell beiseitegelegt werden. Wer zynischerweise den "humanitären Interventionen" pauschal jeden humanitären Charakter absprechen und sie von vorn herein als humanitär verschleierte imperiale Machtpolitik abtun wollte, würde deren oft widersprüchlichen und komplexen Charakter leicht übersehen. Wer aber umgekehrt vorschnell einen humanitären Charakter so bezeichneter Interventionen als gegeben voraussetzte, ohne gegenteilige Erfahrungen und Argumente in die Bewertung einzubeziehen, blendete einen wichtigen Teil der Realität aus.

Die Diskussion um humanitäre Interventionen wird nicht selten als politischer Richtungsstreit geführt, was sie erschwert. Andere Diskussionsstränge lösen sie in eine Reihe von Dilemmata auf (vor allem zwischen dem Prinzip der humanitären Nothilfe einerseits und denen der staatlichen Souveränität und Nichteinmischung andererseits). Auch wenn diese Dilemmata tatsächlich bestehen, so neigt dies dazu, die Frage der humanitären Diskussion dadurch unzulässig zu vereinfachen, dass sie auf ein sehr hohes Abstraktionsniveau allgemeiner Prinzipien gehoben und von handfesten Fragen der Machtverhältnisse und Interessen getrennt wird.

 

19.2 Was ist eine humanitäre Intervention? -
Begrifflichkeiten und Legitimität

Humanitäre Interventionen erfolgen in der Regel ohne oder gegen den Willen der Regierung des betroffenen Landes und beinhalten die Drohung mit oder die Anwendung von militärischer Gewalt zur Erreichung des humanitären Zweckes. Wir wollen den Begriff "humanitäre Intervention" als den Einsatz militärischer Kräfte zur Beseitigung oder Linderung eines gravierenden humanitären Notstandes in einem Drittland definieren, wenn er die Anwendung oder Androhung von Gewalt einbezieht und unabhängig von oder gegen den Willen der Regierung und/oder nichtstaatlicher Gewaltakteure des betroffenen Landes erfolgt. Diese Definition trifft sich mit der von Holzgrefe, wird aber in ähnlicher Form auch von vielen anderen Autoren geteilt.[2]

Humanitäre Interventionen sind eine Form kriegerischer Gewalteinsätze oder des Krieges, allerdings niedriger Intensität und begrenzter Art, wenn man sie mit großen zwischenstaatlichen Kriegen vergleichen wollte. Zugleich wird ihr Kriegscharakter aus politischen, juristischen oder Gründen der Öffentlichkeitsarbeit häufig ignoriert oder bestritten, was sie allerdings mit anderen kriegerischen Einsätzen gemeinsam haben - so wurde der Afghanistankrieg gerade in Deutschland lange nicht als "Krieg" bezeichnet. Ihr spezifischer - also "humanitärer" - Charakter legt eine besondere Vorsicht und Zurückhaltung bei der Anwendung militärischer Gewalt nahe. Deshalb liegt eine sorgfältige Einhegung ihrer gewaltsamen Natur nahe: Wenn es sich um potentiell oder akut gewaltsame Militäreinsätze handelt, müssen sie sich prinzipiell zumindest den gleichen Einschränkungen und Grenzen unterwerfen wie auch andere Kriege und Gewaltkonflikte. Es wäre kaum zu rechtfertigen, wenn ausgerechnet humanitär intendierte Militäreinsätze mit Gewalt freizügiger und ungeregelter umgehen, sich dem Völkerecht entziehen oder das humanitäre Kriegsvölkerrecht ignorieren wollten. Selbst wenn dies im Einzelfall pragmatische Vorteile hätte, würde es insgesamt einer Humanisierung der internationalen Beziehungen eher schaden. Anders ausgedrückt: Insofern es sich bei humanitären Interventionen um Formen kriegerischer Handlungen - wenn auch in guter Absicht - handelt, müssen auch alle rechtlichen und politischen Einhegungen gelten, die für die Anwendung von Gewalt für Staaten insgesamt verbindlich sind. Anderenfalls könnte das prinzipielle zwischenstaatliche Gewaltverbot zunehmend unterlaufen oder ausgehöhlt werden, indem Kriege regelmäßig "humanitär" legitimiert werden - eine Tendenz, die schon seit längerem zu beobachten ist (z.B. im russisch-georgischen Krieg). Darüber hinaus allerdings legt der zumindest als Anspruch formulierte humanitäre Charakter der humanitären Interventionen nahe, dass sie über die völkerrechtlichen Mindeststandards eher noch hinausgehen sollten.

19.2.1 Die Kriterien des "gerechten Krieges"

In der Diskussion über humanitäre Interventionen wird häufig die "Theorie des gerechten Krieges" zum Ausgangspunkt genommen, die in der Literatur oft auf den Kirchenvater Augustinus (354-430 a.D.) zurückgeführt wird, auch wenn es Vorläufer gab und ähnliche Überlegungen in nicht-christlichen Kulturkreisen bekannt waren und sind. Augustinus löste mit seiner Theorie des Gerechten Krieges das Christentum aus seiner pazifistischen Tradition und machte es so als ideologische Grundlage des Römischen Reiches hoffähig - zugleich allerdings band er die kriegerische Gewaltanwendung an Kriterien, die sie einhegen und begrenzen sollten. Moderne Theoretiker haben die überlieferten Kriterien eines "gerechten Krieges" weiterentwickelt, etwa Ramsbotham[3] und Brian Orend[4]. Mona Fixdal und Dan Smith[5] fassen die Kriterien unter Rückgriff auf Richard Miller zusammen und betonen dabei u.a. die Notwendigkeit, dass ein Gerechter Krieg nur von einer dafür legitimen Autorität beschlossen werden kann, dass es einen gerechten Grund geben, aber dass auch die Intentionen der Kriegführenden gerecht sein müssen. Außerdem muss er die letzte und einzige Möglichkeit zur Erreichung des gerechten Zieles sein, und nach menschlichem Ermessen mehr Gutes als Schlechtes bewirken.

Neben diesen Kriterien, die zur Führung eines Krieges berechtigen (ius ad bellum) gelten Kriterien, die die Kriegführung selbst regeln (ius in bello). Dazu gehört es, dass Nichtkombattanten verschont und geschützt werden müssen.

19.2.2 Kriterien humanitärer Einsätze

Die Prinzipien des Gerechten Krieges können zum Teil dazu dienen, den militärischen, gewaltsamen Aspekt humanitärer Interventionen einzuhegen und zu regeln. Damit wird aber ihr humanitärer Charakter noch nicht erfasst. Zu diesem Zweck gibt es seit langem eine umfangreiche Diskussion humanitärer Organisationen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat wiederholt die Prinzipien formuliert, denen humanitäre Organisationen bei ihren Tätigkeiten folgen sollen. Es sind die Prinzipien der Humanität, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit.[6] Der Verband der deutschen entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen VENRO folgt dieser Linie. Er formuliert in einem Positionspapier:

"Aus (von VENRO zuvor zitierten; JH) völkerrechtlichen Abkommen lässt sich ableiten, dass Hilfe, die nicht unparteilich ist, weil sie etwa bestimmte Bevölkerungsgruppen anderen vorzieht, nicht als humanitär bezeichnet werden sollte. ... Insbesondere bedeutet das: (Die humanitäre Hilfe) dient ausschließlich der Linderung einer bestehenden humanitären Notlage; sie wird ohne Ansehen von ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Staatsangehörigkeit, politischer Überzeugung, Geschlecht oder sonstiger Unterscheidungsmerkmale der Betroffenen und ausschließlich gemäß ihrer Bedürftigkeit gewährt; sie wird nicht dazu benutzt, einen bestimmten politischen oder religiösen Standpunkt zu fördern."[7]

Auch wenn staatliche Akteure nicht automatisch die Regeln humanitärer Organisationen vollständig für ihre eigene Praxis übernehmen müssen, so sollten sie diese doch sinngemäß auf das eigene Verhalten übertragen, wenn sie für dieses den Begriff des Humanitären in Anspruch nehmen wollen. In einigen Aspekten dürfte dies problemlos möglich sein - so etwa, indem man bei humanitärer Hilfe keine Bevölkerungsgruppe aus religiösen, ethnischen oder sprachlichen Gründen benachteiligt oder bevorzugt. Andere Aspekte sind schwerer übertragbar: Die "Unabhängigkeit" privater Hilfsorganisationen bezieht sich zum großen Teil auf die von Staaten und Geldgebern - aber wovon sollten staatliche Akteure "unabhängig" sein? Trotz dieser Schwierigkeit dürfte es allerdings nicht bestreitbar sein, dass "humanitäre" Politik alle Opfer gleich behandeln muss und dass die Prinzipien von Humanität, Neutralität sowie Unparteilichkeit entscheidende Kriterien darstellen, ob eine Maßnahme tatsächlich humanitär ist oder dies nur vorgibt.

19.2.3 Wann wären Interventionen humanitär?

Damit ergeben sich insgesamt Kriterien zur Beurteilung, ob eine Militäroperation als humanitäre Intervention gelten darf. Dazu gehören einerseits die Bedingungen eines Gerechten Krieges, einschließlich die der Legitimität der handelnden Autorität (in der Regel praktisch auch: der Beachtung des Völkerrechts), zweitens die der humanitärer Politik entsprechend der genannten Kriterien. Insgesamt ergeben sich damit folgende Bedingungen:

Humanitäre Interventionen setzen voraus, dass diese von einer "legitimen Autorität" unternommen werden. In der internationalen Politik bedeutet dies, dass staatliche Akteure (keine privaten Freiwilligenverbände, etc.) im Rahmen des Völkerrechts tätig werden müssen, was in der Regel eine Mandatierung durch die Vereinten Nationen aufgrund des Kapitels 7 der UNO-Charta voraussetzt.

Zweitens muss ein "gerechter Grund" für eine humanitäre Intervention vorliegen oder unmittelbar bevorstehen, also eine humanitäre Katastrophe wie ein Völkermord, Massengräuel oder ähnliches.

Drittens ist die "richtige Absicht" von Nöten, also die Intention, durch die Intervention tatsächlich die humanitäre Katastrophe zu verhindern oder zu beenden, und diese nicht zu anderen Zwecken oder als bloße Legitimation auszunutzen. Dazu gehört es, bedrohte Menschen und Menschengruppen zu retten, weil diese Menschen in Gefahr sind, nicht weil dies nützlich oder populär ist.

Viertens muss die humanitäre Intervention das letzte verfügbare Mittel sein - alle zivilen und friedlichen Mittel müssen zuvor ausgeschöpft worden sein und sich als unzureichend erwiesen haben.

Fünftens muss die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt sein, wozu gehört, keine stärkeren oder umfangreicheren Mittel einzusetzen, als zur Erreichung des humanitären Zweckes erforderlich sind. Auch die durch den Einsatz kriegerischer Mittel angerichteten Schäden müssen deutlich hinter dem erhofften Nutzen zurückbleiben.

Sechstens muss vor Beginn einer humanitären Intervention die begründete und realistische Hoffnung bestehen, ihre humanitären Ziele durch den Militäreinsatz tatsächlich zu erreichen. Militäreinsätze mit symbolischem Charakter zur Gewissensberuhigung oder politischen Profilierung Dritter sind nicht humanitär. Diese sechs Kriterien leiten sich von der Theorie des gerechten Krieges ab.

Siebtens müssen alle Personengruppen gleich behandelt werden (Neutralität), unabhängig von ihrer ethnischen, nationalen, sprachlichen, kulturellen, religiösen oder sonstigen Zugehörigkeit.

Allerdings sind militärische Interventionen erst dann humanitär, wenn sie sich in lokalen Konflikten politisch neutral verhalten. Wenn humanitäre Zwecke politischen Absichten dienen (Gewinn von Einfluss, Prestige, Regime Change, etc.) oder mit ihnen verknüpft sind, verlieren sie an humanitärer Substanz und Glaubwürdigkeit. Sind solche Erwägungen stärker als nur minimal vorhanden, handelt es sich nicht um eine humanitäre Intervention, sondern um eine Militärintervention, die auch einen humanitären Aspekt beinhaltet oder dies zumindest vorgibt. Tatsächliche humanitäre Interventionen dienen nicht der politischen Gestaltung oder dem eigenen Vorteil, sondern der unmittelbaren Nothilfe.

 

19.3 Probleme völkerrechtlicher Legalität

19.3.1 Das Verbot zwischenstaatlicher Gewalt

Prinzipiell ist jede Anwendung von Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen verboten, unabhängig von ihrer Begründung und einer guten Absicht. Davon gibt es nur zwei Ausnahmen. Nach Artikel 51 der UNO Charta hebt das grundlegende Gewaltverbot das Recht auf Selbstverteidigung nicht auf. Ein angegriffener Staat darf zur Abwehr des Angriffes selbst Gewalt anwenden. Diese Situation besteht allerdings bei humanitären Interventionen nicht, da diesen in der Regel kein zwischenstaatlicher Konflikt, sondern innergesellschaftliche Gewaltkonflikte oder andere humanitäre Katastrophen in einem Drittstaat zugrunde liegen.[8]

Die zweite Ausnahme vom Gewaltverbot besteht in Situationen, in denen der UNO Sicherheitsrat aufgrund von Artikel 42 der UNO Charta "zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" den Einsatz von Gewalt durch Luft-, See- oder Landstreitkräfte beschließt. Hier besteht eine offensichtliche Verbindung zur Theorie des Gerechten Krieges - die nötige legitime Handlungsinstanz ist der UNO-Sicherheitsrat, und der "gerechte Grund" besteht in der zitierten Wahrung oder Wiederherstellung "des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit". Das Problem für die Legalität humanitärer Interventionen besteht offensichtlich in der Bindung UNO-mandatierter Militäreinsätze an zwischenstaatliche ("internationale") Konfliktkonstellationen und am Ausschluss jeden Gewalteinsatzes, der nicht entweder vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen ist oder unter Bedingungen der Selbstverteidigung (also nicht der Verteidigung Dritter) erfolgt.

Diese restriktive Rechtslage muss noch in Zusammenhang mit Artikel 2(7) gebracht werden, der feststellt:

"Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden."

Nun ist schwer zu bestreiten, dass die Sicherung von Leben und körperlicher Unversehrtheit der eigenen Staatsbürger "ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören", da dies eine der Kernaufgaben moderner Staatlichkeit darstellt. Selbst die Resolution 1973 des UNO-Sicherheitsrates, die 2011 das militärische Eingreifen gegen Libyen mandatierte, stellt noch einmal fest, "dass die libyschen Behörden dafür verantwortlich sind, die libysche Bevölkerung zu schützen."[9]

Dies mag im Kontext einer Bewältigung humanitärer Katastrophen bedauerlich sein, um so mehr, wenn diese von Regierungen selbst gegen Teile der eigenen Bevölkerung ausgelöst oder verursacht werden, ändert aber nichts an der Rechtslage.

19.3.2 Juristische Rechtfertigungsversuche humanitärer Interventionen

Angesichts dieser Rechtslage, die humanitäre Interventionen eigentlich ausschließt, wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Ansätze genutzt, um diese trotzdem völkerrechtlich zu fundieren.

Einmal wird argumentiert, dass das Gewaltverbot in Art. 2(4) der UNO Charta weniger streng interpretiert werden könne. Dort findet sich die Formulierung:

"Alle Mitglieder (also die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen; JH) unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."

Manche Verfechter humanitärer Interventionen argumentieren auf dieser Grundlage, dass sich diese gerade nicht "gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates", sondern gegen humanitäre Katastrophen richteten - auch wenn entsprechende militärische Interventionen natürlich die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates beeinträchtigen und dem "Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder" (Art. 2(1)) widersprechen. Darüber hinaus wird argumentiert, dass die Formulierung "oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt" die Gewaltanwendung nicht ausschließe, wenn sie mit den Zielen der UNO übereinstimme. Zu diesen Zielen wiederum gehöre die umfassende Gewährleistung der Menschenrechte, also auch die Verhinderung von Völkermord.

Diese Interpretation ist vom Text, der Geschichte und der Intention der UNO-Charta her wenig überzeugend, bietet aber einen der wenigen Ansätze zur völkerrechtlichen Legitimation humanitärer Interventionen.

Die zweite Möglichkeit setzt am erwähnten Artikel 42 der Charta an, der dem UNO-Sicherheitsrat die Möglichkeit gibt, militärische Zwangsmaßnahmen zu mandatieren, wenn der Wortlaut des Artikels solche Einsätze auch an die Begriffe des "Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" bindet. Hier wird diese Vorschrift nun so interpretiert, dass humanitäre Katastrophen zugleich eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellten, womit ein militärisches Vorgehen auf der Grundlage einer UNO-Resolution erlaubt wäre. Dass in einem solchen Argumentationskontext die Beseitigung einer humanitären Katastrophe vom Ziel zum Mittel wird (nämlich zur Erreichung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit) und damit zwei der Kriterien des Gerechten Krieges teilweise eingeschränkt werden (der humanitäre Zweck und die humanitäre Absicht), wird in Kauf genommen. Möglich wird diese Argumentation dadurch, dass der UNO-Sicherheitsrat bei seinen Beschlüssen keiner Kontrolle durch eine andere Instanz unterworfen ist. Wenn dieser über seine Befugnisse im Rahmen der UNO-Charta hinausgeht (und etwa innenpolitische Konflikte und humanitäre Notlagen als internationale Friedensbedrohungen interpretiert, auch wenn diese rein nationalen Charakter tragen), dann kann dem keine juristische Instanz widersprechen, wie dies Verfassungsgerichte bei Beschlüssen nationaler Regierungen oder Parlamente können.

Eine weitere völkerrechtliche Argumentationsweise akzeptiert, dass das kodifizierte Völkerrecht wenig Ansätze für humanitäre Interventionen bietet, umgeht dieses Problem aber mit dem Hinweis auf das Völkergewohnheitsrecht, also damit, dass es inzwischen mehrfach humanitäre Interventionen durch die Internationale Gemeinschaft gab und diesen von den Völkerrechtssubjekten (also den Staaten) nicht widersprochen wurde. Wenn sich aber eine Völkerrechtspraxis über längere Zeit auf diese Weise herausbildet, gewinnt sie selbst Rechtscharakter. Lothar Brock hat in Bezug auf diesen Mechanismus einmal eingewandt, dass er die Gefahr eröffne, das Völkerrecht durch Rechtsbrüche weiterzuentwickeln.[10] Dies ist nicht von der Hand zu weisen.

Schließlich finden sich auch darüber hinausgehende Argumentationen, nach denen bei besonders schweren humanitären Katastrophen (etwa Völkermord) von so etwas wie einem über-rechtlichen Notstand ausgegangen wird, der Hilfemaßnahmen (einschließlich gewaltsamer) auch dann für gerechtfertigt hält, wenn diese rechtlich nicht gedeckt sind. Dabei wird das Völkerrecht als weniger wichtig betrachtet als die ethische Pflicht, Menschen in Not beizustehen. Die Legitimität entsprechender militärischer Interventionen sei in Extremfällen wichtiger als deren Legalität, wenn diese Erwägung auch nicht immer so klar benannt wird.

Die skizzierten rechtlichen Erwägungen - von der letzten Variante abgesehen - versuchen in der Regel das Problem zu lösen, wie im Rahmen der UNO und ihrer Charta humanitäre Interventionen rechtlich möglich gemacht werden können, obwohl die Charta selbst hohe Hürden errichtet. Interventionen außerhalb des UNO-Rahmens und ohne die Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates würden damit weiter illegal bleiben. Nur bei der Rechtsfigur in Analogie eines übergesetzlichen Notstandes wäre dies anders: Wenn man eine ethische Verpflichtung zur Intervention in bestimmten Fällen postuliert, die ggf. auch dem Völkerrecht übergeordnet wäre, dann lässt sich damit offensichtlich auch die völkerrechtliche Verpflichtung aushebeln, dass (außer in Fällen von Selbstverteidigung) militärische Gewalt ausschließlich durch den UNO-Sicherheitsrat beschlossen werden darf. Dabei kommt es dann gelegentlich zu eigenwilligen Hilfskonstruktionen. Wenn etwa der UNO-Sicherheitsrat einer humanitären oder weniger humanitären Intervention nicht zustimmt oder dies explizit ablehnt (Kosovo, Irak) wird argumentiert, dass die UNO oder ihr Sicherheitsrat "nicht funktioniere" oder gelähmt sei. Damit werde der Weg frei, an der UNO vorbei, etwa durch die NATO oder "Koalitionen der Willigen", durch einzelne oder Gruppen von Staaten direkt zu intervenieren. Dieses Argument ist allerdings in hohem Maße fragwürdig: Die explizite Ablehnung oder die Verweigerung der Zustimmung zu einer Militärintervention durch die UNO stellt offensichtlich eine politische Entscheidung dar, auch wenn diese vielleicht bedauert wird oder unerwünscht ist. Dies ist etwas völlig Anderes als Funktionsunfähigkeit. Ein Verfahren, das Ergebnis einer Abstimmung nur dann zu akzeptieren, wenn es im eigenen Sinne ausfällt, ließe die UNO oder jedes andere Entscheidungsgremium irrelevant werden und zerstörte damit eine entscheidende Säule des internationalen Rechtswesens und der fragilen Bemühungen um die Zivilisierung und Verregelung der Internationalen Beziehungen.

19.3.3 Responsibiliy to Protect

Im Jahr 2000 initiierte die kanadische Regierung mit Unterstützung internationaler Stiftungen eine International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), die Vorschläge zum Umgang mit humanitären Interventionen erarbeiten sollte. Diese legte Ende 2001 ihren Bericht unter dem Titel vor: "The Responsibility to Protect".[11] Die Wahl dieses Begriffs anstatt dem der "humanitären Intervention" sollte die Assoziation des Militärischen mindern, die mit dem Interventionsbegriff verknüpft ist, und zugleich den Streit umgehen, was denn "humanitär" sei. Zugleich verschob er die semantische Perspektive von den Interventen zum Ziel des Schutzes der Zivilbevölkerung. Auch wenn diese neue Begriffsprägung viel mit der Suche nach öffentlichem Konsens und dem Streben zu tun gehabt haben dürfte, alte Kontroversen zu vermeiden, bedeutete sie auch eine deutliche Verschiebung der Debatte - von humanitärer, bewaffneter Nothilfe zur humanitär intendierten politischen Gestaltung. Die Kommission beschränkte sich nicht auf Überlegungen, wie in exzessiven Gewaltsituationen Menschen gerettet oder ihnen geholfen werden könnten, sondern stellte sich zugleich die Frage, wie solche massiven Gewaltdynamiken verhindert werden könnten.

So proklamierte die Kommission im Rahmen ihrer umfassenden Schutzverantwortung drei konkretere Verantwortlichkeiten der Internationalen Gemeinschaft:

·         Die Verantwortung der Prävention von Völkermord, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit;

·         die Verantwortung, auf solche Verbrechen helfend zu reagieren, notfalls auch durch militärisches Eingreifen des UNO-Sicherheitsrates;

·         und die Verantwortung zum materiellen und politischen Wiederaufbau nach einem Gewaltkonflikt, um Bedingungen friedlicher Entwicklung schaffen zu helfen.[12]

Die Kommission beschäftigte sich also mit der Frage militärischer Interventionen zu humanitären Zwecken, löste diese aber aus dem engen Rahmen "humanitärer Interventionen" und bettete dies ein einen breiten präventiven und therapeutischen Gesamtrahmen, der im Kern politisch war. Dies war und ist sicher legitim, aber ein anderer Ansatz als rein humanitäre Politik. Aber auch in diesem Zusammenhang blieb das ober angesprochene Problem, die ins Auge gefassten militärischen (und politischen) Interventionen völkerrechtlich fundieren zu müssen.

Der Bericht gesteht zu, dass Souveränität weiter ein Kernbestandteil der Völkerrechts darstellt.[13] Diese Einschränkung wird dadurch umgangen, dass die Kommission eine neue, "moderne" Definition der Souveränitätsbegriffs vornimmt:

"(S)overeignty implies a dual responsibility: externally – to respect the sovereignty of other states, and internally, to respect the dignity and basic rights of all the people within the state."[14]

Im Völkerrecht gibt es für diese Bindung der Souveränität an angemessenes innenpolitisches Verhalten einer Regierung keinen Anhaltspunkt, auch wenn der Gedanke sympathisch wirkt. Darüber hinaus dürfte es nicht immer einfach sein, den Grad des "Respekts für die Würde" der eigenen Bevölkerung zu operationalisieren.

Der Bericht der Kommission wurde in der Öffentlichkeit und von der Politik breit rezipiert. 2005 wurde er in der UNO-Generalversammlung im Rahmen des Welt-Gipfels diskutiert und fand - wenn auch kurz - Eingang in die Schlussresolution. Dort erklärten die UNO-Mitgliedsländer ihre Bereitschaft, unter bestimmten Bedingungen (z.B. im Rahmen der UNO-Charta) in Einzelfällen "kollektive Maßnahmen" zu ergreifen, um Menschen vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Worte wie "militärisch", "gewaltsam" oder "durch bewaffneten Zwang" werden hier nicht verwandt, aber der Zusammenhang legt nahe, dass mit "kollektiven Maßnahmen" genau das gemeint war. Darüber hinaus erklärte die Generalversammlung die Notwendigkeit "to continue consideration of the responsibility to protect". Dies solle allerdings im Kontext der UNO-Charta und des Völkerrechts erfolgen.[15]

Später wurde im ähnlichen Sinne auch im UNO-Sicherheitsrat über die Responsibility to Protect befunden. Damit nahm diese eine zentrale Rolle im internationalen Politikdiskurs über humanitäre Interventionen ein. Allerdings ist diese Schutzverantwortung kein "rechtliches Konzept", es bedeutet keine Änderung des Völkerrechts, sondern ist - wie der UNO-Generalsekretär kürzlich erklärte - ein "politisches Prinzip".[16] Tatsächlich ist die Bedeutung der proklamierten "Schutzverantwortung" widersprüchlich. Es handelt sich weder um ein "Recht", noch um eine "Pflicht" zur Intervention, um keine rechtliche Kategorie, sondern um eine moralische "Verantwortung" ohne Verbindlichkeit. Unter dem Gesichtspunkt der Konfliktbearbeitung enthält sie positive Elemente, so zum Beispiel die Betonung von Konfliktprävention und Konfliktnachsorge neben der Option bewaffneter Intervention. Dies ist prinzipiell politisch angebracht, wenn auch ebenso unverbindlich wie die gesamte Schutzverantwortung. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass gerade durch diesen umfassenden Ansatz der Boden streng umgrenzter humanitärer Hilfe verlassen wird und (humanitär intendierte) militärische Interventionen in den Zusammenhang politischer Gestaltung (Förderung von governance, Demokratisierung, etc.) gestellt werden - die Konfliktprävention und Nachsorge müsste ja u.a. dort ansetzen. Auch wenn eine solche politische Herangehensweise entwicklungs- und friedenspolitisch sinnvoll ist, so gibt sie doch den humanitären Grundansatz zugunsten politischer Gestaltung auf. Dazu kommt das Problem, dass das Konzept der Schutzverantwortung zwar politisch klug angelegt ist, die politischen Akteure (also den UNO-Sicherheitsrat und die für Interventionen politisch-militärisch handlungsfähigen Staaten) aber ziemlich sicher überfordern dürfte: Der Anspruch, durch Konfliktprävention, Intervention und Konfliktnachsorge Bedingungen zu schaffen, die Völkermord, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weitet den Zeithorizont beträchtlich aus. Dieser dürfte in vielen Fällen durchaus bei mindestens einer Generation liegen. Daneben impliziert dieser Anspruch - insbesondere der der Prävention - eine größere Zahl von Fällen, in denen sich die Internationale Gemeinschaft langfristig engagieren müsste. Praktisch wäre ein solchs präventives Engagement zumindest in allen Ländern erforderlich, die über schwache oder fragile staatliche Strukturen und eine fragmentierte Gesellschaft verfügen und in denen es zugleich Verteilungskonflikte gibt. Und schließlich könnte der Anspruch, durch Prävention und Konfliktnachsorge stabile und menschenrechtskompatible politische und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, nicht anspruchsvoller sein. Schließlich geht es darum, wie auch der zitierte Bericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty formulierte, auf die Ursachen der Konflikte zu reagieren und langfristig wirksame Präventionsstrategien zu verfolgen. Die Liste der dort vorgetragenen Konfliktursachen, die es zu bearbeiten gelte, ist lang und eindrucksvoll. Genannt werden u.a.: "democratic institution and capacity building; constitutional power sharing, power-alternating and redistribution arrangements; confidence building measures between different communities or groups; support for press freedom and the rule of law; the promotion of civil society; tackling economic deprivation and the lack of economic opportunities. This might involve development assistance and cooperation to address inequities in the distribution of resources or opportunities; promotion of economic growth and opportunity; better terms of trade and permitting greater access to external markets for developing economies; encouraging necessary economic and structural reform; and technical assistance for strengthening regulatory instruments and institutions; strengthening legal protections and institutions. This might involve supporting efforts to strengthen the rule of law; protecting the integrity and independence of the judiciary; promoting honesty and accountability in law enforcement; enhancing protections for vulnerable groups, especially minorities; and providing support to local institutions and organizations working to advance human rights; embarking upon needed sectoral reforms to the military and other state security services."[17]

An diesen und anderen Problemen anzuknüpfen, um Gewalt im großen Maßstab vorzubeugen, sie zu bearbeiten und zu überwinden, ist sicher sinnvoll und eigentlich friedenspolitisch notwendig. Aber es ist zugleich extrem anspruchsvoll und aufwändig. Es läuft faktisch darauf hinaus, die gesellschaftlichen und politischen Strukturen eines fremden Landes durch externe Akteure grundlegend umzugestalten. Die Erfahrungen mit ähnlichen Versuchen - etwa in Afghanistan oder dem Irak - sind eher entmutigend, trotz extrem großer personeller, militärischer und finanzieller Anstrengungen. Die Vorstellung, mehrere, wenn auch geringer dimensionierte ähnliche Versuche zugleich durch die internationale Gemeinschaft zu betreiben, erscheint wenig aussichtsreich - und auch nicht sehr wahrscheinlich. Die Komplexität und das erforderliche große Engagement legen den zentralen Akteuren - die zugleich ihre eigenen Interessen verfolgen und selten über unbegrenzte Mittel verfügen -  nahe, die unterschiedlichen Dimensionen der Schutzverantwortung (Prävention, Intervention, Wiederaufbau) selektiv zu behandeln. Es liegt nahe, sich den aufwendigen, riskanten und langfristigen Aspekten der Schutzverantwortung gerade im Bereich der Prävention zu entziehen, und sich auf die Anwendung militärischer Gewalt zu beschränken. In solchen Fällen wird die Schutzverantwortung von einem entwicklungs- und friedenspolitischen Gesamtkonzept zu einer Legitimationshilfe für militärische Intervention. Die Responsibility to Protect verpflichtet die wichtigen Akteure zu nichts, eröffnet ihnen aber eine mächtige zusätzliche Legitimationsmöglichkeit, die sich a-la-carte verwenden lässt.

 

19.4 Erfahrungen mit humanitären Interventionen -
Vorläufer und neuere Entwicklungen

19.4.1 Frühe Vorformen Humanitärer Interventionen

Häufig wird in der Literatur davon ausgegangen, dass die Zeit humanitärer Interventionen erst nach dem Ende des Kalten Krieges begann, also um 1990. Aufgrund der Konkurrenz der beiden Supermächte USA und Sowjetunion und der dadurch bedingten Schwierigkeit, im Rahmen der UNO einen Konsens herzustellen, waren humanitäre Interventionen vorher kaum möglich. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass es im Sinne der oben zugrundegelegten Definition weit früher humanitäre Interventionen gab, sogar bereits lange vor Beginn des Kalten Krieges. Davide Rodogno hat in allerjüngster Zeit den "humanitären Interventionen" europäischer Staaten auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches von 1815-1914 ein interessantes Buch gewidmet.[18] Darin untersucht er entsprechende Fälle unter anderem im osmanischen Griechenland, Libanon, Syrien und Kreta und berücksichtigt auch Fälle der Nicht-Intervention trotz humanitärer Krisen. Bei den westlichen Interventionen im Osmanischen Reich ging es in der Regel um den Schutz christlicher Minderheiten vor Massakern. Aber Militärinterventionen mit humanitärer Begründung in jener Zeit konnten auch in anderen Gebieten und durch andere Akteure unternommen werden. So vertraute der damalige US-Präsident McKinley seinem Tagebuch an, dass Gott ihm im Traume aufgegeben hatte, die Philippinen von Spanien zu erobern, um die Einwohnen zu "zivilisieren" und so nicht ihre Körper, aber ihre Seele zu retten,[19] was in seinem Verständnis sicher zutiefst humanitär war. Auch bei den zahlreichen US-Interventionen in Mittelamerika und der Karibik von der Mitte des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden als Gründe neben konkreten, wirtschaftlichen (Sicherung der Schuldenrückzahlung durch fremde Regierungen, Investitionsinteressen, etc.) und strategischen Interessen (Stabilität, Sicherheit) auch immer wieder auf die Notwendigkeit verwiesen, der lokalen Bevölkerung helfen zu wollen. Diese Hilfe konnte sich dabei auf sehr unterschiedliche Dinge beziehen: Sicherheit, Entwicklungsmöglichkeiten und anderes. Bereits im 19. Jahrhundert bildeten sich in Europa Ansätze zu einer ethischen und völkerrechtlichen Doktrin humanitärer Intervention. Zu Beginn standen dabei Interventionen zu Gunsten christlicher Minderheiten, insbesondere im Osmanischen Reich, im Mittelpunkt, zu Ende des Jahrhunderts kam es zu stärker systematisierten völkerrechtlichen Rechtfertigungen, die im Kern darin bestanden, zwischen "zivilisierten" Staaten, insbesondere in Europa und Amerika, und Ländern von "Barbaren" oder gar "Wilden" zu unterscheiden. Im ersten Fall kam das Prinzip der Nichtintervention zu Anwendung, im zweiten erschien dies als nicht anwendbar. Das Völkerrecht galt nach dieser Sichtweise nur innerhalb der - zivilisierten - "Familie der Nationen" (der Begriff "Internationale Gemeinschaft" war noch unbekannt). Den "Wilden" oder "Barbaren" außerhalb dieser Familie gegenüber bestand demgegenüber nicht nur ein Recht, sondern oft sogar eine Pflicht zur Intervention - nicht allein, um humanitären Zielen zu dienen (Bekämpfung der Sklaverei, etc.), sondern auch, um diese zwangsweise zu "zivilisieren". Das besondere vor allem in der zweiten Hälfte des "langen 19. Jahrhunderts" (also der Zeit von der Französischen Revolution bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, 1789-1914) war ein enges Neben-, Gegen- und Miteinander des klassischen Imperialismus und des Humanitären Antriebs. Eine Fusion beider Tendenzen gelang etwa dem damaligen US Präsidenten - und paradigmatischen "Imperialisten" - Theodore Roosevelt, der bereits Formulierungen humanitärer Interventionen benutzte, die ein Jahrhundert später typisch werden sollten, während er zugleich auf rabiate Weise daran arbeitete Mittelamerika und die Karibik unter US-amerikanische Kontrolle zu bringen.[20]

19.4.2 Die hohe Zeit humanitärer Interventionen: Die 1990er Jahre

Die Wiederentdeckung des Humanitären Interventionismus, der während des Kalten Krieges durch das Gegeneinander der beiden damaligen, atomar hoch gerüsteten "Supermächte" eingegrenzt worden war, erfolgte in den 1990er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt trafen zwei Faktoren zusammen: Einerseits waren die Handlungsspielräume der westlichen Länder, insbesondere der USA, seit dem Amtsantritt des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow (1985) und erst Recht nach der Auflösung der Sowjetunion dramatisch erweitert. Kleinere Länder der Dritten Welt konnten nicht länger eine der Supermächte anrufen, um sich gegen Eingriffe der anderen zu schützen. Zweitens konnten die früheren rhetorischen oder ideologischen Ansprüche, den weltweiten Pol der Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit zu verkörpern, leichter ernst genommen werden als zuvor, als man dies gegen das Risiko eines internationalen Konflikts mit der Sowjetunion abzuwägen hatte. Das erste Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges brachte im Westen auch die Notwendigkeit einer neuen ideologischen Selbstvergewisserung mit sich (die "Neue Weltordnung", die von Präsident Bush dem Älteren proklamiert worden war - was sollte sie eigentlich beinhalten, und was an ihr sollte "neu" sein?). Nachdem sich der Westen im Kalten Krieg im hohen Maße als Gegenpol zur Kommunistischen Diktatur wahrgenommen hatte, bestand nun ein Bedarf an neuer moralischer Begründung der eigenen politischen Identität, die unter anderem mit den Diskursen von Demokratisierung und von humanitären Interventionen teilgefüllt wurden. Es kamen auch andere Topoi zum Einsatz, so der "Krieg gegen die Drogen", der "Krieg gegen den Terrorismus" (beides bereits unter Präsident Reagan, im letzteren Fall dann verstärkt unter Bush nach dem 11. September 2001). Und wie zuvor im Kalten Krieg häufig der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der gegen Schurkenstaaten, gegen Kommunismus und Sowjetunion und der für die Freiheit und Menschlichkeit ideologisch verschmolzen waren (die Luftangriffe gegen Libyen 1986 beispielsweise sollten allen diesen Zielen dienen), so wurden ähnliche Ziele auch nach Ende des Kalten Krieges häufig rhetorisch vermischt. Der Kampf gegen Massenvernichtungswaffen, gegen eine repressive Diktatur und für die Freiheit und Demokratie waren etwa die Gründe, die Präsident Bush 2003 zur Begründung des Krieges gegen den Irak ins Feld führte. Ein Problem dieser Vermischung bestand darin, dass der Begriff "humanitäre Intervention" so aufgeweicht wurde: Die US-Militärintervention gegen Haiti (1994, Operationen Restore Democracy und Uphold Democracy) wurde etwa als solche bezeichnet, obwohl sie primär auf die Beseitigung einer Militärdiktatur und die Verhinderung einer Welle von Migration (Bootsflüchtlinge von Haiti nach Florida) zielte. Wenn wir solche Mischoperationen, die durchaus humanitäre Aspekte beinhalten konnten, aber nicht von ihnen bestimmt waren, unberücksichtigt lassen, kann man für die 1990er Jahre vor allem die folgenden humanitären Interventionen nennen:

·         Nord-Irak (Operation Provide Comfort I und II), 1991-1996

·         Somalia (UNOSOM I, UNITAF, and UNOSOM II), 1992-1995

·         Bosnien (UNPROFOR und Operation Deliberate Force), 1992-1995

·         Kosovo (NATO) 1999

·         Timor-Leste (INTERFET), 1999/2000.

Deren schnelle Folge, die Tatsachen, dass in den Jahrzehnten zuvor kaum von humanitären Interventionen die Rede war, und dass gleichzeitig auch andere Interventionen mit dem Begriff bezeichnet wurden (wie erwähnt, etwa Haiti, aber auch Sierra Leone), ließen den Eindruck entstehen, als sei man in eine neue historische Periode der humanitären Intervention eingetreten. Bereits das Scheitern der Somaliaintervention weckte allerdings vielerorts Zweifel an der Sinnhaftigkeit und der Umsetzung solcher Operationen. Nach der Jahrtausendwende wurden militärische Operationen vor allem unter dem Firmenschild des "Krieges gegen den Terrorismus" unternommen und beinhalteten militärische Okkupationen und die Partizipation in lokalen Bürgerkriegen (Afghanistan, Irak). Zwar wurden auch diese Kriege immer wieder "humanitär" legitimiert (Befreiung afghanischer Frauen, Menschenrechte, Demokratisierung, Schutz vor Massenvernichtungswaffen in den Händen von Diktatoren), allerdings ging man sehr selten so weit, diese als humanitäre Interventionen zu bezeichnen. Es muss allerdings daran erinnert werden, dass auch die klassischen humanitären Interventionen der 1990er Jahre bereits überwiegend über kurzfristige humanitäre Nothilfe hinaus- und in anspruchsvolle externe state-building Operationen übergingen - Bosnien, Kosovo und Timur-Leste sind offensichtliche Beispiele, aber auch der humanitäre Einsatz im Nordirak führte zur Bildung parastaatlicher Institutionen in der geschützten kurdischen Autonomiezone. Nur in Somalia wurde darauf weitgehend verzichtet. In diesem Sinne waren die humanitären Militäroperationen nur die erste Phase einer politisch gestaltenden Intervention, die durch humanitäre Aktivitäten ergänzt wurde.

Während des Jahrzehnts des Krieges gegen den Terrorismus wurde es zunehmend still um humanitäre Interventionen, obwohl es an Militärinterventionen anderer Art nicht mangelte. Erst als Folge des Arabischen Frühlings kam es in Libyen erneut zu einem größeren Militäreinsatz, der sich in den Kontext der humanitären Intervention einordnen lässt.

19.4.3 Humanitäre Interventionen seit der Jahrtausendwende:
Der Krieg gegen Libyen

Der Luftkrieg gegen das Libyen Muammar Gaddafis im Jahr 2011 erfolgte aufgrund eines Beschlusses des UNO-Sicherheitsrates (UNO Sicherheitsratsresolution 1973), der sich auf das Kapitel VII der UNO-Charta bezog (genauer: auf den oben zitierten Artikel 42). Dabei stellte er pflichtgemäß fest, "dass die Situation in der Libysch-Arabischen Dschamahirija auch weiterhin eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt" - was die Voraussetzung für die Anwendung der Kapitels VII darstellt, aber in der Sache nicht begründet wurde. Diese Einschätzung konnte allerdings fragwürdig erscheinen, da der libysche Bürgerkrieg zu diesem Zeitpunkt eine rein innere Angelegenheit war und eine Gefährdung der Nachbarländer oder gar des Weltfriedens oder der internationalen Sicherheit nicht festzustellen war. Rückblickend stellt sich sogar die Frage, ob die mittelbaren Interventionsfolgen (Mali, Algerien) die internationale Sicherheit nicht stärker in Mitleidenschaft zogen als der libysche Bürgerkrieg selbst. Durch die Resolution 1973 mandatierte der Sicherheitsrat eine humanitäre Intervention zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung, die durch ein Flugverbot über Libyen umgesetzt werden sollte.

Sie "ermächtigt(e) die Mitgliedstaaten, ... alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, ..., um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete in der Libysch-Arabischen Dschamahirija, einschließlich Bengasis, zu schützen, unter Ausschluss ausländischer Besatzungstruppen jeder Art in irgendeinem Teil libyschen Hoheitsgebiets".

Zu diesem Zweck beschloss der Sicherheitsrat, "ein Verbot aller Flüge im Luftraum der Libysch-Arabischen Dschamahirija zu verhängen, um zum Schutz der Zivilpersonen beizutragen" und "ermächtigt(e) die Mitgliedstaaten, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Befolgung des mit Ziffer 6 verhängten Flugverbots den Erfordernissen entsprechend durchzusetzen."[21]

Bei der Zustimmung oder Ablehnung der UN-Resolution ging es nicht darum, ob der Sturz Gaddafis wünschenswert war. Dies stand nicht zur Abstimmung. Die Resolution mandatierte militärische Maßnahmen ausschließlich zu humanitären Zwecken. Es ging nur darum, die libysche Zivilbevölkerung vor Angriffen der libyschen Luftwaffe zu schützen. Deshalb wurden die Flugverbotszone eingerichtet und der Einsatz von Bodentruppen ausgeschlossen. Weder ein Sturz Gaddafis noch eine militärische Parteinahme der NATO im libyschen Bürgerkrieg war von der Resolution 1973 mandatiert. Beides hätte auch den humanitären Prinzipien (siehe Abschnitt 19.2.2) widersprochen. Die NATO und ihre nationalen Kontingente gingen trotzdem schnell dazu über, als Luftwaffe der Aufständischen zu operieren; sie griffen immer wieder Ziele an, die nichts mit dem Schutz von Zivilisten zu tun hatten; und leistete sogar noch nach dem Sturz Gaddafis taktische Luftunterstützung für eine Kriegspartei. All das war bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat nicht absehbar, sonst wäre die Resolution nie zustande gekommen. Die NATO ging bei ihren Militäroperationen weit über die Resolution hinaus. Der Luftangriff auf die Wagenkolonne des aus Sirte fliehenden Muammar Gaddafi beispielsweise (der schließlich zu seiner Ermordung durch Milizionäre führte), kann kaum als "humanitäre" Maßnahme gedeutet werden und war - wie viele andere Einsätze - von der UNO Resolution nicht gedeckt. Auch der notwendige, von der UNO beschlossene Schutz der Zivilbevölkerung vor Angriffen erfolgte nicht neutral zugunsten aller Bevölkerungsgruppen – Zivilisten schienen nur schützenswert, wenn sie von den Truppen Gaddafis attackiert wurden, nicht von den Aufständischen.

Die kriegführenden NATO-Staaten standen vor einer klaren Alternative: Entweder sie handelten in den engen Grenzen der Resolution. Dann konnten sie zwar Luftangriffe auf Zivilisten verhindern, aber weder den Krieg beenden noch Gaddafi stürzen – was politisch als Scheitern wahrgenommen worden wäre. Oder sie gingen über die Resolution hinaus und wurden selbst zur Kriegspartei. Dann konnten sie zwar zum Sturz des Gaddafi-Regimes beitragen, hatten aber den Boden der UN-Resolution verlassen. Aus einer mandatierten humanitären Intervention wurde so eine politische, die vor allem auf regime change und den Sturz und Tod Gaddafis zielte und dem Völkerrecht widersprach. Der Luftkrieg gegen Libyen war deshalb keine humanitäre Intervention, sondern eine politische - und er instrumentalisierte die humanitäre Notlage und die Sicherheitsratsresolution 1973 zu politischen Zwecken.

Die humanitären Argumente der Interventen waren wenig überzeugend: Wenn der Schutz der Zivilisten entscheidend gewesen wäre, dann hätte man nicht nur Städte wie Bengasi vor den Angriffen der Regierungstruppen geschützt, sondern auch Sirte oder Bani Walid vor denen der Aufständischen – in vielen Fällen unterstützte die NATO aber solche Angriffe aus der Luft. Ein Sturm verteidigter Städte führt immer zu schwerem Leiden der Zivilisten, unabhängig davon, wer Angreifer und wer Verteidiger ist. Wer humanitäre Absichten ins Zentrum der Politik hätte stellen wollten, hätte also alle bedrohten Bevölkerungsgruppen in gleichem Maße gegen alle Angriffe verteidigen müssen - also die Prinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit beachten.[22]

Auch die humanitären Ergebnisse der Intervention erwiesen sich als eher widersprüchlich. Einerseits lagen durch sie die Opferzahlen des Bürgerkrieges vermutlich niedriger, als sie es sonst gewesen wären, aber der Sturz der Diktatur führte zu keinem stabilen Frieden, sondern zu einer Fragmentierung der Gesellschaft und des Landes und einer latenten Bürgerkriegssituation. Auch die nicht intendierten Folgen des Sturzes Gaddafis in Mali (die Etablierung einer von al Qaida-Verbündeten kontrollierten Zone) und der Waffenschmuggel aus Libyen (u.a. nach Ägypten, und vermutlich über den Libanon nach Syrien) trugen sicher nichts zur Verbesserung der humanitären Lage bei. Darüber hinaus führte die Instrumentalisierung der humanitär intendierten Resolution des UNO-Sicherheitsrates zu politischen Zwecken auch dazu, dass beim später eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien kein Beschluss der UNO zu humanitären Zwecken mehr möglich war: Insbesondere Russland und China (aber auch Länder wie Brasilien und Südafrika) ließen einen solchen nicht mehr zu, um nicht erneut - wie im Fall Libyen - die politische Instrumentalisierung eines solchen Beschlusses durch westliche Staaten (und die Ausweitung ihres Einflusses) zu ermöglichen. Angesichts von etwa 60.000 Toten in syrischen Bürgerkrieg bis Ende 2012 wäre aber gerade dort ein hohes Maß an humanitärer Hilfe durch die internationale Gemeinschaft erforderlich gewesen.

19.5 Typen und Einsatzformen militärischer Interventionen

Luftangriffe wie in Libyen sind für humanitär intendierte Militäroperationen nicht besonders naheliegend, da ethnische Säuberungen oder Völkermord in der Regel auf dem Boden und durch Bodenkräfte begangen werden. Luftangriffe sind dann am wirksamsten, wenn die feindlichen Ziele zweifelsfrei identifiziert werden können und von Zivilisten und zu schützendem Personen räumlich klar getrennt sind. Dies ist bei vielen humanitären Notsituationen - oder bei Aufstandsbekämpfung - oft nicht der Fall. Luftangriffe wurden in Libyen, in Bosnien, Kosovo, aber auch bei imperialen Interventionen (z.B. Irak 2003) trotzdem häufig präferiert, weil die Gefahr eigener Verluste bei ihnen minimal ist. Allerdings sind auch Einsätze durch Bodenkräfte nicht immer sinnvoll oder humanitär erfolgreich, wie nicht nur der Massenmord in Srebrenica belegte.

Die Diskussion um humanitäre Interventionen wird häufig auf eine Art geführt, als ob es vor allem um eine Zustimmung oder Ablehnung zu ihnen ginge, also um eine Frage, die sich mit Ja oder Nein entscheiden ließe. Dabei gerät aus dem Blickfeld, dass militärische Interventionen in humanitärer (oder anderer) Absicht auf höchst unterschiedliche Arten und mit sehr verschiedenen konkreten Aufgabenstellungen erfolgen können. Es macht oft wenig Sinn, allgemein über militärische Interventionen (oder deren humanitär intendierte Variante) zu sprechen, sondern es sind konkrete Einsatzformen zur Erreichung sehr spezieller Operationsziele, die entweder angemessen oder ungeeignet, wirksam oder unwirksam, mit hohem oder geringem Risiko behaftet, in unterschiedlichem Maße gewaltsam sein können. So wichtig die Grundsatzfrage eines Einsatzes oder Nichteinsatzes von militärischer Gewalt bleibt, so wichtig ist auch die Frage, welche Art von Gewalt auf welche Weise zu welcher genauen Aufgabenerfüllung eingesetzt werden soll. Deshalb kommt es zu einer Bewertung humanitärer Militäreinsätze auch darauf an, ob die gewählte Einsatzform tatsächlich präzise zum gewählten Operationsziel passt: Die "Bekämpfung einer humanitären Notlage" ist kein militärisch brauchbares Einsatzziel, sondern eine allgemeine politische Absicht, die für Militäroperationen erst operationalisiert werden muss.

Zu den möglichen Einsatzformen Humanitärer Interventionen gehören:

1.       Logistische und/oder technische Einsätze bewaffneter Streitkräfte zur Lieferung von Hilfsgütern, ggf. in einem unsicheren, gefährlichen oder gewaltsamen Umfeld;

2.       "Blauhelmeinsätze" zur Trennung gegnerischer militärischer oder paramilitärischer Einheiten unter keinem, minimalem oder geringem Gewalteinsatz, insbesondere zur Selbstverteidigung;

3.       Wahrnehmung von Bewachungs- oder Schutzaufgaben von konkreten einzelnen Einrichtungen, Gebäuden, geographischen Zonen, etc.;

4.       Durchsetzung von Flugverbotszonen;

5.       Die Durchführung von Blockademaßnahmen, etwa um Waffenlieferungen oder andere Lieferungen zu unterbinden, die zu Menschenrechtsverletzungen beitragen würden oder um deren Finanzierung zu verhindern;

6.       punktuelle Angriffsoperationen aus der Luft oder am Boden gegen einzelne gegnerische (militärische oder paramilitärische) Ziele oder Einrichtungen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen genutzt werden;

7.       Einsatz von Sondereinsatztruppen (Special Operations Forces) gegen punktuelle militärische Ziele oder Personen/Personengruppen;

8.       Länger anhaltende und systematische Luftangriffe gegen militärische Einrichtungen, Truppenverbände, oder zivile Infrastruktur (Telekommunikation, Verkehrsinfrastruktur, Kraftwerke, etc.), die auch militärisch genutzt wird;

9.       Begrenzte oder mittelgroße Kampfeinsätze durch Bodentruppen gegen organisierte militärische Einheiten;

10.    Militärische Besetzung größerer Regionen oder eines ganzen Landes;

11.    Militärische Verwaltung eines okkupierten Landes, bzw. die militärische Unterstützung einer Okkupationsregierung oder zivilen Besatzungsbehörde;

12.    Aufstandsbekämpfung.

Die drei letzten Punkte gehen in der Regel über Humanitäre Interventionen deutlich hinaus und dienen politischen Zielen, insbesondere der Neugestaltung der politischen Rahmenbedingungen in einem Zielland. Sie werden aber in der öffentlichen Diskussion oft mit ihnen in Verbindung gebracht, weil sie nicht selten mit Demokratieförderung oder ähnlichem begründet werden (z.B. in Afghanistan und dem Irak bis 2011).

Mit den obigen Punkten ist das Spektrum der Einsatzmöglichkeiten nicht erschöpft. Es liegt auf der Hand, dass es häufig auch zu einer Kombination unterschiedlicher Einsatzformen kommen wird, die vom konkreten Einsatzziel her zu bestimmen ist. Dabei sind manche dieser Einsatzformen eng umgrenzt und übersichtlich, ihre technische Erfolgschance unter entsprechenden Bedingungen (Personal, Ausrüstung, Führungsqualität, etc.) hoch. Andere sind ausgesprochen anspruchsvoll, politisch und/oder militärisch riskant und ihre Erfolgschance oft mäßig bis gering und ihr Erfolg von komplexen Faktorenbündeln im Einsatzland abhängig[23] (etwa bei den letzten drei oder vier Punkten). Dazu kommt das Problem, dass die positiven Auswirkungen der Einsätze auf eine grundlegende Verbesserung der humanitären Situation nicht immer gesichert sind, oder dass die kurz- und langfristigen Wirkungen auseinanderklaffen können. Gerade bei längerfristigen Operationen ist es nicht selten, dass nach einer ersten Phase operativer Zielerreichung gerade durch die Intervention im Zielland eine neue Dynamik von Konflikt und Gewalt in Gang gesetzt wird, die sich stark auf die humanitäre Situation auswirkt.

Die Frage, welche Art eines humanitären Notstandes ob und ggf. mit welcher konkreten militärischen Einsatzform überwunden werden könnte, wird selten öffentlich diskutiert. Stattdessen stehen gerade in Deutschland die Grundsatzfragen einer prinzipiellen Zustimmung oder Ablehnung militärischer Operationen und quasi-philosophische Überlegungen im Mittelpunkt.

 

19.6 Warum sind humanitäre Interventionen umstritten?

19.6.1 Ethische Dilemmata

Viele Diskussionen über humanitäre Interventionen behandeln die Frage, wie mit den damit verbundenen ethischen Dilemmata umzugehen sei. Der Kern des Problems besteht darin, dass humanitäre Interventionen dazu dienen sollen, dem ethischen Gebot der Hilfe für (von Völkermord oder ethnischen Säuberungen, etc.) bedrohte oder gefährdete Menschen gerecht zu werden, dabei aber das ethische Gebot der Anwendung von Gewalt brechen müssen. Dieses Dilemma wurde vom früheren Außenminister Joschka Fischer auf die Formel verkürzt: "ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz".[24]

Ist es also ethisch legitim oder gar geboten, das Übel des Krieges gegen das des Völkermordes (oder andere, schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit) einzusetzen? Neben dieser zentralen Frage bestehen weitere Zielkonflikte, die teilweise mit den oben angesprochenen rechtlichen zusammenhängen, aber auch ethische Dimensionen beinhalten. So stellt die Abwägung zwischen den Grundsätzen der Nichteinmischung und den Menschenrechten auch eine ethische Frage dar, da beide Prinzipien ja keine rechtlichen Leerformeln, sondern nötig sind, um zwischenmenschliche Beziehungen menschlich zu regeln und dem Gesetz des Dschungels (also sozialdarwinistischen Verhältnissen) zu entziehen. Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates bildet eine wichtige Grundlage friedlicher internationaler Beziehungen und hatte sich erst aufgrund grauenvoll gewaltsamer Erfahrungen seit dem Westfälischen Frieden (1648) herausgebildet. Auch das Prinzip der "souveränen Gleichheit" aller Staaten (UNO-Charta) gehört in diesen Kontext - es stellt so etwas wie den Kernbestand eines Gesellschaftsvertrages der internationalen Gemeinschaft dar, ohne den gewaltsame Konflikte und imperiale Dominanzversuche (bis hin zum Kolonialismus) schwerer zurückgewiesen werden könnten, mit den entsprechenden negativen Folgen für die humanitäre Situation der Betroffenen. Solche politischen, rechtlichen und ethischen Grundlagen der Regelung zwischenstaatlicher (also auch zwischenmenschlicher) Beziehungen zurückzustellen, um ein anderes, dringliches Prinzip zu stärken (die Menschenrechte, bzw. das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit), ist nicht prinzipiell, sondern nur von Fall zu Fall möglich. Allerdings: Soweit diese Fragen überhaupt "entschieden" statt nur ertragen werden können, sind die ethischen Maßstäbe nicht schwer zu finden. Die oben ausgeführten Kriterien des Gerechten Krieges in Gemeinschaft mit denen der Humanität in humanitären Notsituationen reichen dazu aus. Es ist auch schwer vorzustellen, welche anderen Erwägungen bei der Auflösung des prinzipiellen Widerspruchs der beiden Grundprinzipien noch hilfreich sein könnten. Das Problem bei der ethischen Abwägung liegt nicht so sehr in fehlenden Kriterien, sondern in ihrer Vermischung mit den politischen Absichten, den Interessen und dem Charakter der relevanten Akteure. Denn die Entscheidungen über den Umgang mit oder die Ignorierung der ethischen Dilemmata wird nicht philosophisch oder ethisch, sondern machtpolitisch getroffen. Daraus resultiert allerdings ein Problem, auf das bereits 1795 Immanuel Kant im letzten Absatz seines Traktats Über den ewigen Frieden hinwies:

"Dass Könige philosophieren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt."

Wenn also Regierungen unter den erforderlichen Gesichtspunkten der politischen Nützlichkeit über militärische Interventionen entscheiden (und entscheiden müssen, weil alles andere unverantwortlich wäre), haben ethische Argumente oft nur dekorative, instrumentelle oder legitimatorische Funktionen. In der politischen Debatte wird besonders oft über grundlegende Werte und moralische Dilemmata gesprochen, wenn man über Machtverhältnisse und Interessen nicht reden möchte.

19.6.2 Zwischen Humanität und Interessen

Die Entscheidungen über militärische Interventionen - ob humanitär oder nicht - werden von staatlichen Regierungen getroffen. Dies sind aber politische Institutionen, keine primär humanitären. Ihre Aufgabe ist die Bündelung und Verfolgung der gesellschaftlichen Interessen des eigenen Landes. Deshalb wäre es wenig realistisch, von ihnen eine grundlegende oder längerfristig "unpolitische" (bzw. "neutrale" und "unparteiliche") und von der Wahrnehmung ihrer Interessen losgelöste Politik zu erwarten. Dies schließt humanitäre Politik von Staaten im Einzelfall nicht aus, lässt diese aber eher als Ausnahmesituation erscheinen, die nicht von vornherein unterstellt werden darf. Humanitäre Erwägungen können in staatlicher Politik also enthalten sein, aber sie können kaum von einer Kontaminierung durch Macht- und interessenspolitische Erwägungen geschützt werden. Humanitäre Ziele stellen in der Regel nur ein Politikziel neben anderen dar. Bereits Clausewitz wies bekanntlich darauf hin, "dass der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln."[25]

Wenn aber Krieg - also auch der humanitäre - von seiner Natur her politisch ist, dann ist der Anspruch, dass humanitäre Interventionen unparteilich und neutral ausschließlich humanitäre Absichten verfolgen dürfen, in der Regel nur schwer zu erfüllen.

Zweitens muss darauf hingewiesen werden, dass humanitäre Hilfe zwar Neutralität und Unparteilichkeit erfordert, dass aber die Bekämpfung der Ursachen vieler humanitärer Katastrophen (wie ethnische Säuberungen, Völkermord, staatliche Repression und Gruppenverfolgung) im Gegensatz dazu eine zutiefst politische Angelegenheit darstellt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz brachte diesen Tatbestand so auf den Punkt:

"While humanitarian action helps meet basic needs and alleviates suffering, it cannot cure the root causes of suffering. No crisis can be solved without political action. Emergency humanitarian aid alone can do no more than temporarily alleviate the acute symptoms of an endemic "disease". The problems of Somalia, Afghanistan, Azerbaijan, Former Yugoslavia or Rwanda cannot be solved solely with humanitarian aid. ... Creating space for true humanitarian work does not imply isolation or political naivety, quite the opposite. Political action aimed at mobilizing States and the United Nations to ensure greater respect for humanitarian norms and international humanitarian law is essential for the conduct of humanitarian activities."[26]

Das Rote Kreuz bezieht diesen Gedanken dann auf das Verhältnis gleichzeitig stattfindender staatlicher Militäroperationen und humanitärer Hilfe durch nichtstaatliche Einrichtungen.

"Recent experience in conflict areas has created a deeper understanding of the relationship between humanitarian, political and military intervention. While military intervention may accompany the deployment of humanitarian action, the two activities should on no account be confused. The parties to a conflict must be able to perceive the neutral and impartial character of humanitarian action if it is to be accepted. Wherever this is not the case, victims suffer all the more and humanitarian workers run a high risk of being taken as targets, particularly if the mandate of the peace-keeping military force includes, or is replaced by, peace-enforcing measures. A clear operational distinction has to be draw between military and humanitarian action."[27]

So sehr diese sachliche Unterscheidung - und organisatorische Trennung - von politischen und militärischen Operationen und humanitärer Hilfe auch nötig ist, um letztere nicht zu untergraben oder zu gefährden, so dringlich ist es auch, bei der Planung militärischer Interventionen präzise zu klären, ob dieser der Erreichung streng militärischer Ziele (etwa der Zerstörung einer Radaranlage), der politischen Gestaltung (beispielsweise der Absicherung von State-Building) oder humanitären Zwecken dienen sollen. Eine Vermischung dieser Ziele kann leicht zur gegenseitigen Blockade der einzelnen Interventionsziele führen, bzw. die humanitäre Wirksamkeit schwächen.[28]

Dies ist kein Argument für einen "unpolitischen" Umgang mit akuten oder potentiellen humanitären Notlagen. Tatsächlich ist in den meisten Fällen mehr statt weniger politisches Engagement durch Regierungen dringlich. Es geht an dieser Stelle nur darum, dieses nicht mit humanitärer Hilfe zu verwechseln, gleichzusetzen oder zu vermischen.

19.6.3 Humanitäre Interventionen und nationale Machtpolitik

Ein Teil des Problems besteht darin, dass Interventionen, auch humanitäre, nur von mächtigen und militärisch starken Ländern gegen schwache unternommen werden und werden können. Die USA, die NATO-Länder, Russland und mächtige Regionalländer sind zu militärischen Interventionen im Ausland in der Lage, und in geringerem Maße vielleicht noch regionale Koalitionen mit deren Unterstützung (z.B. ECOWAS in Westafrika). Dass aber umgekehrt Paraguay, Angola oder Kanada in den USA oder Russland militärisch eingreifen könnten, um dort Menschenleben zu retten, ist nicht vorstellbar. Auch eine humanitäre Intervention der NATO in Russland oder China darf ausgeschlossen werden. Die Diskussion um humanitäre Interventionen dreht sich faktisch um das Recht oder die Pflicht militärisch hoch gerüsteter Industrieländer, Gewalt gegen schwache Staaten insbesondere der Dritten Welt anzuwenden, falls sie das aus humanitären Gründen für geboten halten oder dies zumindest nachdrücklich behaupten. Die Definitionsmacht (liegt überhaupt eine humanitäre Notlage vor, die militärisches Eingreifen rechtfertigt?), die politische Macht (der Überzeugung des UNO-Sicherheitsrates oder die Bildung einer Interventionskoalition außerhalb der UNO) und die militärische Macht zur Durchführung einer Intervention liegen ausschließlich und faktisch unkontrolliert bei den Großmächten. Humanitäre Interventionen setzen ungleiche Machtverhältnisse voraus und werden von mächtigen gegen ohnmächtige Staaten unternommen. Dies bedeutet nicht automatisch, dass sie im Einzelfall nicht berechtigt und humanitär hilfreich sein können, aber es sollte zumindest zu Unbehagen und Misstrauen führen, wenn solche Interventionen primär auf der Ebene abstrakter Prinzipien und ethischer Absichten begründet werden. Großmächte sind noch weniger als Länder wie Norwegen, Schweden oder Tansania dafür bekannt, ihre Eigeninteressen zugunsten humanitärer Erwägungen zurückzustellen.

Damit eng verbunden ist ein zweiter Aspekt. Thomas G. Weiss hat zu Recht festgestellt:

"Great powers have a history of intervening against weak states whether or not the right exists. The debate about what justifies humanitarian intervention is crucial; but with or without the right, major powers will intervene."[29]

Sieht man sich die Geschichte der letzten 50 oder 150 Jahre an, dann ist diese Einschätzung kaum zu bestreiten. Wenn allerdings Großmächte ohnehin militärisch intervenieren, dann ist zweierlei zu bedenken: Einmal werden sie dies in der Regel aufgrund ihrer Interessen tun, und zweitens werden sie dazu neigen, genau dies durch juristische, politische oder ethische Rechtfertigungen zu verhüllen und zu legitimieren. In der langen Reihe militärischer Interventionen und Kriege gab kaum Fälle gegeben, in denen militärische Interventen nicht legitim erscheinende Rechtfertigungen vorbrachten, von völkerrechtlichen, historischen und zivilisatorischen Gründen, über putative oder präemptive Selbstverteidigung, Beseitigung von Massenvernichtungswaffen, bis zur Förderung von Demokratie. Bereits im klassischen Griechenland wurde von Athen der Demokratieexport als Legitimation von Angriffskriegen genutzt. Da wäre es erstaunlich, wenn humanitäre Gründe nicht ebenfalls vorgebracht würden - insbesondere, wenn solche sich ganz oder zum Teil tatsächlich rechtfertigen lassen. Sobald man sich also von der Ebene abstrakter ethischer Prinzipien auf die des realen Regierungshandelns begibt, werden aus humanitären Gründen schnell Legitimationsformeln - wie man dies nicht nur im Fall der Libyenintervention beobachten konnte.

Dies bedeutet nicht, dass die humanitären Argumente automatisch falsch sein müssen - sondern nur, dass sie nicht notwendigerweise in einer kausalen Verbindung zur Intervention stehen. Zivile und ggf. militärische Nothilfe bei schweren Menschenrechtsverletzungen sind von höchster politischer und ethischer Bedeutung und Dringlichkeit - aber die Diskussion um den humanitären Charakter von Interventionen bleibt oft unergiebig, da sie von den politischen Akteuren meist mit einer legitimatorischen oder taktischen Absicht geführt wird, sich selbst und andere von der Legitimität und Notwendigkeit einer Intervention zu überzeugen, die ganz oder teilweise aus anderen Gründen unternommen werden soll.

Humanitäre Interventionen wären ethisch und politisch weniger problematisch, wenn sie immer von einer unparteilichen und politisch neutralen Instanz ohne eigene Interessen beschlossen und durchgeführt werden könnten. Unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen ist dies aber schwer vorstellbar. Prinzipiell käme die UNO könnte dafür in Frage. Die UNO-Charta enthält in diesem Sinne Ansätze einer eigenen militärischen Handlungsfähigkeit des UNO-Sicherheitsrates. So sieht Artikel 42 vor, dass der Sicherheitsrat "mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen" durchführt - also die Militäroperationen selbst unternimmt und nicht - wie inzwischen üblich - den Mitgliedsstaaten das Recht einräumt, selbst zu intervenieren. In diesem Sinne bestimmt Artikel 43, dass die Mitgliedsstaaten "dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung stellen". Dies impliziert erneut, dass der UNO-Sicherheitsrat selbst Militäreinsätze unternimmt, und diese nicht Einzelstaaten und Staatengruppen ermöglicht oder diese damit beauftragt. Im gleichen Sinne darf man Artikel 47 deuten, der die Einrichtung eines UNO-Generalstabsausschusses vorsieht. "Der Generalstabsausschuss ist unter der Autorität des Sicherheitsrats für die strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte verantwortlich" - was erneut die Leitung der möglichen Militäroperationen durch die UNO bedeutet. Allerdings wurde dieser in der UNO-Charta vorgesehene Militärausschuss nie eingerichtet. Auch eine Truppenunterstellung von Mitgliedsländern unter UNO-Kommando blieb eine seltene und wenig erfolgreiche Ausnahme (Somalia). Heute werden Militärinterventionen, einschließlich Humanitäre Interventionen, aufgrund von Kapitel VII der UNO-Charta vom UNO-Sicherheitsrat legitimiert, aber von Nationalstaaten oder der NATO implementiert. Darüber hinaus sind die UNO-Mandatierungen oft ausgesprochen breit und vage. Die UNO-Sicherheitsratsresolution 1973 zur Intervention in Libyen beispielsweise: "ermächtigt(e) die Mitgliedstaaten, ... alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, ... um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete ... zu schützen".[30] Solche Ermächtigungen sind durchaus typisch. Die UNO-Resolution 678 vom November 1990 beispielsweise "ermächtigt(e) die Mitgliedstaaten ... für den Fall, dass Irak die [zuvor beschlossenen; JH] Resolutionen bis zum 15. Januar 1991 nicht ... vollständig durchführt, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um der Resolution 660 (1990) und allen danach verabschiedeten einschlägigen Resolutionen Geltung zu verschaffen".[31]

Gerade auch bei Humanitären Interventionen verpflichtet die UNO zu nichts, ermächtigt aber zu allem, was sich im weitesten Sinne unter "allen erforderlichen Maßnahmen" oder "alle erforderlichen Mittel" subsummieren lässt. Dabei bleibt die Definition dessen, was "erforderlich" ist, bei den einzelnen nationalstaatlichen Regierungen, die nach eigenen Erwägungen und Interessen entscheiden können. Auch die konkrete Art der Durchführung der militärischen Maßnahmen wird nicht von der UNO, sondern den intervenierenden Ländern bestimmt. Insgesamt ist die UNO also eine legitimierende und Ermächtigungsinstanz, kein selbst intervenierender Akteur. Dies ist im Kontext der Theorie des Gerechten Krieges fragwürdig, der der Begriff der "legitimen Autorität", die einen "gerechten Krieg" führen darf, so überdehnt wird.

Dazu kommt das offensichtliche Problem, dass die UNO unter den gegenwärtigen Bedingungen nur eingeschränkt als neutral und unabhängig gelten kann, da ihre entscheidende Instanz - der UNO-Sicherheitsrat - von den fünf Staaten dominiert wird, die dort über ständige Sitze verfügen. Jedes dieser Länder kann im eigenen Interesse durch ein Veto einen Beschluss des Sicherheitsrates verhindern, oder diese Möglichkeit nutzen, um Beschlüsse im eigenen Sinne zu beeinflussen. Der Sicherheitsrat ist keine neutrale und unparteiliche Institution, sondern eine, in der zwischen den fünf Ständigen Mitgliedern unter Einbeziehung von zehn wechselnden Staaten politische Kompromisse geschlossen werden, bei denen jedes Land seine spezifischen Eigeninteressen möglichst umfassend durchsetzen möchte.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass humanitäre Interventionen ihren humanitären Charakter verlieren, wenn sie nicht neutral und unparteilich das Retten von Menschenleben ins Zentrum rücken. Als die dafür nötige, legitime und unparteiliche Organisation kommt nach dem Stand der Dinge nur die UNO in Frage, die allerdings diese Funktion sehr unbefriedigend wahrnimmt, da sie zentrale Entscheidungen und deren Implementierungen an Nationalstaaten delegiert. Zugleich leidet die UNO an strukturellen Defiziten, die ihre neutrale Rolle untergraben oder verhindern. Dazu gehören die Dominanz der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und die Abhängigkeit von den militärischen Kapazitäten der Mitgliedsländer.

Wenn humanitäre Interventionen aus dem gegenwärtigen Graubereich zwischen politischer Rhetorik, nationaler Interessenpolitik und humanitären Absichten herausgeführt und zu einer realen politischen Option der internationalen Politik werden sollen, dann setzt dies die Weiterentwicklung der UNO zu einer in humanitären Fragen tatsächlich unparteilichen und neutralen Institution voraus, in der die nationalen Eigeninteressen stärker zurückgedrängt werden. Möglicherweise wäre es dann sinnvoll, einer unabhängigen Institution - vergleichbar dem Internationalen Gerichtshof - eine Mitentscheidungsmöglichkeit über das Vorliegen eines humanitären Notstandes und der völkerrechtlichen Voraussetzungen einer Intervention - einzuräumen. Außerdem wären eigene, robuste Streitkräfte unter dem ständigen Kommando der Vereinten Nationen nötig, um diese aus ihrer militärischen Abhängigkeit von den Großmächten zu befreien und selbst zeitnah handlungsfähig werden zu lassen.

 

 

Quelle:

Jochen Hippler
Militärinterventionen im Namen der Humanität?
in: Jürgen Lieser / Dennis Dijkzeul (Hrsg.), Handbuch Humanitäre Hilfe;
Berlin/Heidelberg (Springer) 2013, S. 363-388


Anmerkungen

[1] Rudolph J. Rummel, Statistics of Democide – Genocide and Mass Murder since 1900, Münster 1998, S. VII; und Rudolph J. Rummel, ‚Demozid’ – der befohlene Tod, Münster 2003, S. 8

[2] J.L. Holzgrefe, The humanitarian intervention debate, in: J.L. Holzgrefe / Robert O. Keohane (Eds.), Humanitarian Intervention - Ethical, Legal and Political Dilemmas, Cambridge 2003, S. 18

[3] Tom Woodhouse, Oliver Ramsbotham, Humanitarian Intervention in Contemporary Conflict: A Reconceptualization,1996, S. 226, 228

[4] Brian Orend, The Morality of War, New York 2006

[5] Mona Fixdal / Dan Smith, Humanitarian Intervention and Just War," Mershon International Studies Review (1998) 42, 283-312, online: www.mtholyoke.edu/acad/intrel/fixdal.html

[6] ICRC, Principles and action in international humanitarian assistance and protection, 01-01-1996 Report, Resolutions of the 26th International Conference of the Red Cross and Red Crescent :Resolution 4, online: http://www.icrc.org/eng/resources/documents/misc/57jmrx.htm

[7] Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO), VENRO- Positionspapier, Streitkräfte als humanitäre Helfer? - Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit von Hilfsorganisationen und Streitkräften in der humanitären Hilfe, o.O., Mai 2003, S. 4

[8] Text der UNO-Charta u.a. online: http://www.un.org/Depts/german/un_charta/charta.pdf

[9] Vereinte Nationen, Sicherheitsrat, S/RES/1973 (2011), Vereinte Nationen, in: Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrats, 1. August 2010 – 31. Juli 2011, (S/INF/66), Sicherheitsrat - Offizielles Protokoll, New York 2011, S. 461; online: http://www.un.org/Depts/german/sr/sr_10-11/s-inf-66.pdf

[10] Lothar Brock, Weltbürger und Vigilanten. Lehren aus dem Kosovo-Krieg, HSFK-Standpunkte Nr. 2/1999, Frankfurt/M. 1999, S. 5

[11] International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect - Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Ottawa 2001

[12] siehe dazu auch die jeweiligen Kapitel (4, 5 und 6) in: Alex J. Bellamy, Responsibiliy to Protect, Cambridge 2009

[13] Thomas G. Weiss, Humanitarian Intervention - Ideas in Action, 2nd edition, Cambridge 2012, p.120

[14] International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect - Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Ottawa 2001, S. 8

[15] United Nations, General Assembly, 2005 World Summit Outcome, Sixtieth session, A/60/L.1, 15 September 2005, online: http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N05/487/60/PDF/N0548760.pdf

[16] United Nations, Security Council, Report of the Secretary-General on the protection of civilians in armed conflict, S/2012/376, 22 May 2012, S. 5f; online: http://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/2012/376&referer=http://www.unric.org/en/unric-library/26575

[17] International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect - Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Ottawa 2001, S. 22f

[18] Davide Rodogno, Against Massacre - Humanitarian Interventions in the Ottoman Empire 1815-1914: The Emergence of a European Concept and International Practice, Princeton 2012; für andere Fälle siehe auch: Brendan Simms / D. J. B. Trim (Eds.), Humanitarian Intervention: A History, Cambridge University Press 2011

[19] zit. nach: Seth P. Tillman, The United States in the Middle East - Interests and Obstacles, Bloomington 1982, S.46

[20] Gary J. Bass, Freedom's Battle - The Origins of Humanitarian Intervention, New York 2008, S. 3

[21] Vereinte Nationen, Sicherheitsrat, S/RES/1973 (2011), Vereinte Nationen, in: Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrats, 1. August 2010 – 31. Juli 2011, (S/INF/66), Sicherheitsrat - Offizielles Protokoll, New York 2011, S. 461; online: http://www.un.org/Depts/german/sr/sr_10-11/s-inf-66.pdf, Ziffern 4,6 und 8

[22] Jochen Hippler, Der Triumph ist verfrüht - Die Intervention in Libyen bleibt auch nach Gaddafis Sturz zweifelhaft, in: welt-sichten - Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit, Oktober 2011, online in einer leicht modifizierten Fassung unter dem Titel: "Wie falsch ist die Libyenpolitik? - Kritische Anmerkungen zu einer voreiligen Kritik," unter: http://www.jochenhippler.de/html/wie_falsch_ist_die_libyenpolitik-.html

[23] Jochen Hippler, Strategische Grundprobleme externer politischer und militärischer Intervention - Unter besonderer Berücksichtigung der Krisensituationen des Nahen und Mittleren Ostens, INEF-Report 103, Duisburg 2011; online: http://www.jochenhippler.de/html/strategische_probleme.html

[24] Nico Fried, "Ich habe gelernt: Nie wieder Auschwitz" - Die Erinnerung an das Vernichtungslager gehört zu den Leitlinien von Außenminister Joschka Fischer, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Mai 2010, online: http://www.sueddeutsche.de/politik/fischer-ich-habe-gelernt-nie-wieder-auschwitz-1.915701; siehe auch: Wortlaut - Auszüge aus der Fischer-Rede, Spiegel online, 13. Mai 1999, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wortlaut-auszuege-aus-der-fischer-rede-a-22143.html

[25] Clausewitz, Carl von; Vom Kriege; Bonn 1972, S. 201

[26] ICRC, Principles of and Response in International Humanitarian Assistance and Protection, 10-09-1995 Report, Commission II: humanitarian values and response to crises, Abschnitt: The linkages between humanitarian action and political, economic and military action, 26th International Conference of the Red Cross and Red Crescent; online: http://www.icrc.org/eng/resources/documents/report/26th-conference-report-100995.htm

[27] ICRC, Principles of and Response in International Humanitarian Assistance and Protection, 10-09-1995 Report, Commission II: humanitarian values and response to crises, Abschnitt: The linkages between humanitarian action and political, economic and military action, 26th International Conference of the Red Cross and Red Crescent; online: http://www.icrc.org/eng/resources/documents/report/26th-conference-report-100995.htm

[28] Jochen Hippler, Strategische Grundprobleme externer politischer und militärischer Intervention - Unter besonderer Berücksichtigung der Krisensituationen des Nahen und Mittleren Ostens, INEF-Report 103, Duisburg 2011; online: http://www.jochenhippler.de/html/strategische_probleme.html

[29] Thomas G. Weiss, Humanitarian Intervention - Ideas in Action, 2nd edition, Cambridge 2012, p. 40

[30] Vereinte Nationen, Sicherheitsrat, S/RES/1973 (2011), Vereinte Nationen, in: Resolutionen und Beschlüsse des Sicherheitsrats, 1. August 2010 – 31. Juli 2011, (S/INF/66), Sicherheitsrat - Offizielles Protokoll, New York 2011, S. 461; online: http://www.un.org/Depts/german/sr/sr_10-11/s-inf-66.pdf, Ziffer 4

[31] Vereinte Nationen, Sicherheitsrat, S/RES/678 (1990) vom 29. November 1990, Übersetzung des Deutschen Übersetzungsdienstes, New York, Ziffer 2