Jochen Hippler

Das Ende der Gewalt?
Militär und Terrorismus in Pakistan

 

Über die pakistanische Gesellschaft und Politik ist in Europa wenig bekannt. Interesse bestand in den beiden letzten Jahrzehnten überwiegend dann, wenn Pakistan als Faktor des Krieges in Afghanistan wahrgenommen wurde, oder wenn spektakuläre Gewaltakte die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Das Land wurde – und wird noch immer – vor allem als „gefährlich“ wahrgenommen, als Brutstätte des islamischen Extremismus und des Terrorismus. So erschien es kaum als verwunderlich, dass sich Usama bin Ladin ausgerechnet in Pakistan versteckt hielt, zuletzt in unmittelbarer Nähe der Pakistanischen Militärakademie in der Stadt Abbottabad. Und auch wenn das Klischee dem Land nie auch nur annähernd gerecht wurde, so gab es in den beiden letzten Jahrzehnten doch tatsächlich ein außergewöhnlich hohes Gewaltniveau durch Terrorismus, konfessionelle Attentate, und regionale Quasi-Bürgerkriege. Die Welle der Gewalt begann mit dem „Krieg gegen den Terrorismus“, der die innen- wie außenpolitische Landschaft Pakistans grundlegend veränderte. Hatte es zuvor – im Jahr 2000 – insgesamt 166 Todesopfer durch politische Gewalt gegeben, erreichte die Zahl der Toten 2009 seinen Höhepunkt, als mehr als 11.300 Menschen getötet wurden. 2010 bis 2014 waren zwischen 7300 und 5500 Opfer zu beklagen. Seitdem ging die Zahl der Todesopfer deutlich zurück. Sie lag 2019 nur noch bei 365. Insgesamt sank das Gewaltniveau vom Niveau eines faktischen Bürgerkrieges auf das einer bandenmäßigen Gewaltkriminalität. Auch wenn es weiter zu Anschlägen kommt – so wie kürzlich auf die Börse in Karachi – so herrscht heute in Pakistan das Gefühl vor, den Kampf gegen den Terrorismus gewonnen und die Gewalt unter Kontrolle gebracht zu haben. Insbesondere das pakistanische Militär betont gern und nachdrücklich seinen Erfolg gegen die terroristischen Gruppen.

Um die Ursachen der nachlassenden Gewalt zu verstehen, muss man zuerst zweierlei Aspekte zur Kenntnis nehmen: Die sehr unterschiedlichen Gewaltherde, die auf sehr verschiedene Art zur Gewalt in Pakistan betrugen; und die Rolle des Militärs in der pakistanischen Gesellschaft.

 

Vielfalt der Gewaltquellen.

Es wäre falsch anzunehmen, dass es in Pakistan seit 2000 einen einzigen, größeren Gewaltherd gegeben habe. Tatsächlich gab es zumindest vier, die völlig unterschiedlichen Logiken folgten und sehr verschiedene Dynamiken erzeugten. In der Provinz Belutschistan (die an Afghanistan und den Iran grenzt) gab – und gibt – es das, was man früher vermutlich einen „nationalen Befreiungskrieg“ genannt hätte, nämlich einen ethno-nationalistischen Aufstand von Belutschen gegen eine Bevormundung und Ausbeutung der Provinz durch die Zentralregierung oder eine „punjabische Vorherrschaft“. Dieser Aufstand hat keine religiöse Konnotation, sondern zielte auf Autonomie oder Unabhängigkeit.

Zweitens gab es einen Bürgerkrieg in der Wirtschaftsmetropole Karachi, einer Großstadt mit ungefähr so vielen Einwohnern wie Nordrhein-Westfalen. Hier bestand die Konfliktdynamik in einer Verknüpfung von ethnischen Konflikten mit kriminellen Netzwerken und Banden einerseits, sowie mit den politischen Parteien andererseits. Später trat noch eine religiöse Konfliktdimension dazu, als religiöse Extremistengruppen gegen andere religiöse Kräfte und gegen säkulare Gruppen um Einfluss kämpften. Trotzdem bestand der Kern des Gewaltkonflikte aus säkularen Faktoren – der Verknüpfung von Ethnizität, Kriminalität, und politischem Establishment.

Drittens existierte eine überregionale Gewaltdimension, nämlich Gewalt durch sunnitische und schiitischen Extremistengruppen gegeneinander und gegen ZivilistInnen der jeweils anderen Seite. Diese „religiöse“ Gewalt nahm bereits in den 1980er Jahren ihren Ausgang in der Provinz Punjab (insbesondere in der Gegend der Stadt Jhang), erstreckte sich aber bald auf alle Provinzen.

Viertens schließlich bestand ein weiterer und besonders wichtiger Gewaltherd in den paschtunischen Siedlungsgebieten an der afghanischen Grenze, insbesondere in den damaligen Stammesgebieten (inzwischen in die normalen politischen Strukturen integriert). Dieser Konfliktherd dehnte sich bald auf weite Teile der Provinz Khyber Pakhtoonkwa aus, dann auch auf Brennpunkte anderer Provinzen. Dieser Gewaltkonflikt war mit dem Krieg in Afghanistan verknüpft und beinhaltete deshalb auch anti-amerikanische und anti-westliche Impulse. Er trug ein doppeltes Gesicht: Einerseits erschien er als „religiös“ (sunnitisch-extremistisch), da er im Wesentlichen von den verschiedenen Gruppen der pakistanischen Taliban getragen wurde. Zugleich enthielt er allerdings nationalistische Dimensionen (paschtunische und pakistanische), da er die pakistanische Regierung auch bekämpfte, weil man sie für eine „amerikanische Marionette“ hielt.

 

Das pakistanische Militär und die extremistische Gewalt.

Das Militär nimmt seit den 1950er Jahren in der pakistanischen Gesellschaft und Politik eine Sonderstellung ein. Es herrschte bereits drei- bzw. viermal (falls man die Diktatur Gen. Yahya Khans nicht nur als die Fortsetzung der von Gen. Ayub Khan begreifen möchte) direkt durch Militärdiktaturen, nämlich von 1958-1971 (unter den beiden gerade erwähnten Generälen), von 1977-1988 (unter General Zia ul Haq) und von 1999-2007/8 (unter General Musharraf). Aber auch in den Zeiten ziviler Regierungen verfügte das Militär, insbesondere das Heer und seit den 1980er Jahren auch der Militärgeheimdienst ISI, über eine beträchtliche Macht, wenn man von kurzen Perioden unter den Ministerpräsidenten Zulfiqar Ali Bhutto und Nawaz Sharif (in seiner dritten Amtszeit) einmal absieht. Insbesondere die Politik gegenüber den feindlichen Nachbarn Afghanistan und Indien, sowie die Sicherheits- und Nuklearpolitik konnten zivile Regierungen nur beeinflussen, solange das Militär dies zuließ. Allerdings mischte sich dieses immer wieder auch in die Innenpolitik ein, nicht allein durch die Ausübung direkten Drucks, sondern auch durch die finanzielle und politische Förderung (bis zur faktischen Gründung) bzw. die Bekämpfung von politischen Parteien oder Parteienbündnissen. Bis heute ist das Militär, gerade angesichts eines fragilen Parteiensystems, der stärkste Machtfaktor der pakistanischen Politik, wenn diese Macht auch unterschiedlich direkt ausgeübt wird.

Zugleich befindet sich das pakistanische Militär gegenüber dem indischen „Erzfeind“ zumindest seit der Niederlage im Krieg von 1971 in einer strategisch fast aussichtslosen Defensive: Zahlenmäßig und technologisch ist Indien um ein Vielfaches überlegen. Das pakistanische Militär hat sich bemüht, diese Schwäche auf zwei Arten auszugleichen: Einmal durch die Entwicklung eigener Atomwaffen als Antwort auf die indischen; und zum anderen durch die Instrumentalisierung nichtstaatlicher Gewaltakteure, um so Druck auf Afghanistan und Indien (vor allem In der umstrittenen Region Kaschmir) auszuüben, ohne dafür direkt haftbar gemacht werden zu können. In diesem Zusammenhang kam es zur Unterstützung und Nutzung extremistischer religiöser Gruppen aus Afghanistan, soweit praktikabel aus Kaschmir, aber auch aus Pakistan selbst. Das Heer und der ISI förderten jihadistische Gruppen, um ihren außenpolitischen Gegnern Nadelstiche versetzen zu können, aber zum Teil auch, um die pakistanischen Parteien zu schwächen. Von der Zeit der Diktatur Gen. Zia ul Haqs einmal abgesehen erfolgte diese Unterstützung religiöser Extremisten kaum aus ideologischer Sympathie, sondern aufgrund pragmatischer Erwägungen. Einerseits gab es bezogen auf Afghanistan und Indien überlappende außenpolitische Interessen, zugleich allerdings galt die Regel, dass der Feind meines Feindes mein Freund wäre.

Hier ist nicht der Ort, um über den Erfolg oder Misserfolg dieser Politik nachzudenken (taktisch oft erfolgreich, strategisch eine Katastrophe), sondern es gilt nur, die opportunistisch begründete Unterstützung einiger extremistischer und jihadistischer Gruppen festzuhalten, die aus der eigenen militärischen Unterlegenheit resultierte.

 

„Krieg gegen den Terrorismus“ und die Gewaltwelle in Pakistan.

Nach den Terroranschlägen in den USA vom September 2001 geriet Pakistan in eine schwierige Position. Die US-Regierung stellte dem Land ein Ultimatum, sich entweder am „Krieg gegen den Terrorismus“ – und damit gegen das Afghanistan der Taliban – zu beteiligen, oder selbst zum Ziel zu werden. Es blieb Pakistan politisch, wirtschaftlich und militärisch keine andere Wahl, als sich dem zu beugen und eine lange Liste konkreter US-Forderungen zu erfüllen. Die bedeutete unter anderem, die zuvor unterstützten Taliban fallen lassen zu müssen, dem US-Krieg in Afghanistan logistische und militärische Hilfe zu leisten und im eigenen Land gegen Gruppen und Organisationen eigene Staatsbürger gewaltsam vorgehen zu müssen. Insbesondere entsandte das Militär zehntausende von Soldaten in die damaligen Stammesgebiete an der afghanischen Grenze, um al-Qaida Angehörige, geflohene Taliban aus dem Nachbarland, und einige jihadistische Gruppen aus Pakistan zu bekämpfen. Dieser beispiellose Bruch der Autonomie der Stammesgebiete, in denen pakistanisches Recht weder faktisch noch juristisch galt, wurde von vielen Stämmen als Angriff auf sie selbst wahrgenommen und führte zu massivem Widerstand, nicht nur von Seiten extremistischer Kreise und jihadistischer Organisationen. Das pakistanische Militär wurde zur Besatzungstruppe auf einem Teil des eigenen Staatsgebietes – und das im Auftrag und unter dem Zwang der USA. Dies löste nicht nur einen Aufstand in den Stammesgebieten selbst aus, sondern führte auch zur Delegitimierung, Destabilisierung und Radikalisierung in anderen Landesteilen. Mehrere Attentatsversuche auf den Militärdiktator Musharraf und die Ermordung der früheren Ministerpräsidentin Benazir Bhutto waren Symptome dieser Eskalation.

Diese Entwicklung führte auch zur Entfremdung und zunehmendem Antagonismus zwischen dem Militär und den meisten früher von ihm geförderten extremistischen Gruppen, die sich vom Militär verraten fühlten. Politisch wichtiger war allerdings die Tatsache, dass große Teile der pakistanischen Gesellschaft die Kritik an Militär und Regierung teilten – was zu wachsender Toleranz gegenüber extremistischen Ideologien (insbesondere sunnitischem Extremismus) führte. Selbst jihadistischer Terror wurde bald schweigend oder sogar wohlwollend betrachtet, was den Kampf gegen extremistische Gruppen massiv erschwerte und wenig aussichtsreich werden ließ. Dazu kam, dass das Militär insbesondere in den Stammesgebieten seinen Kampf vor allem „kinetisch“ führte, also durch die Anwendung militärischer Gewalt, was zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung führte.

 

Die Wende.

Bis 2007/2008 verlief der Kampf gegen die jihadistischen Gruppen deshalb weitgehend erfolglos. Dann kam es allerdings zu einem Strategiewechsel, der die politischen und sozialen Dimensionen der Aufstandsbekämpfung stärker einbezog und mehr Rücksicht auf die Bevölkerung nahm. Dies führte zu ersten taktischen Erfolgen der Militäroperationen, etwa im Swat-Tal und den südlichen Regionen der Stammesgebiete. Parallel dazu wuchs die Entschlossenheit des Militärs, tatsächlich ernsthaft gegen die gewalttätigen Gruppen vorzugehen, obwohl sie früher als Hilfstruppen genutzt worden waren. Die erwähnten Attentatsversuche auf den eigenen Oberkommandierenden und Präsidenten, General Musharraf, die zum Teil direkt vor dem Hauptquartier des Heeres stattfanden, trugen ebenso dazu bei wie die Verluste an Soldaten, die man nicht länger hinnehmen wollte. Bis heute wurden von über 7200 toten Soldaten und Polizisten berichtet – vermutlich lag die tatsächliche Zahl noch deutlich höher.

Spätestens 2014 drehte sich auch das politische Klima in Pakistan gegenüber den gewalttätigen Gruppen grundlegend. In diesem Jahr kam es zu einem terroristischen Massaker auf die „Army Public School“ in der Stadt Peshawar, die auch Kinder von Zivilisten unterrichtete. Ein sechsköpfiges Kommando der pakistanischen Taliban (die alle ausländischer Herkunft waren) überfiel die Schule und tötete 149 Menschen, davon 132 Kinder. Seit diesem Angriff auf eine militärisch geführte Schule besteht in der pakistanischen Gesellschaft kaum noch Sympathie oder Verständnis für extremistische Gewaltakte. Es ließ sich schließlich weder religiös noch politisch rechtfertigen, warum so viele pakistanische Kinder ermordet wurden, um den USA zu schaden. Der Schock dieses Massakers wirkt bis heute nach und hat maßgeblich zur Delegitimierung der jihadistischen Gewalt in Pakistan beigetragen. Dadurch wurde auch das gewaltsame Vorgehen des Militärs gegen solche Extremistengruppen wesentlich erleichtert, da es von der Bevölkerung zunehmend unterstützt wurde, etwa durch Hinweise auf Verdächtige.

Auch 2020 kommt es in Pakistan noch zu Terroranschlägen und anderen politischen Gewaltakten, gegen Zivilisten, gegen Infrastruktur, und gegen Sicherheitskräfte. Aber insgesamt befinden sich gerade die gewalttätigen religiösen Extremisten in der Defensive, weil sie die Sympathie der Bevölkerung verloren haben, weil das Militär weit wirksamer operiert, und weil die frühere strategische Verbindung zwischen extremistischen Gewaltakteuren und dem Militär fragil geworden ist und in manchen Fällen gar einer grundlegenden Gegnerschaft gewichen ist.

 

 

Quelle:

Jochen Hippler
Das Ende der Gewalt? - Militär und Terrorismus in Pakistan
publiziert unter dem Titel: Pakistan - Ein Anschlag zu viel,
in Weltsichten, 16. August 2020