Jochen Hippler

 

Der Islam, der Westen und die politische Gewalt in den internationalen Beziehungen

 

Der Nahe und Mittlere Osten ist eine islamisch geprägte Region. Zugleich „ist es eine Region vieler Konflikte und ein wichtiges Zentrum amerikanischer Interessen – wirtschaftlicher, militärischer und politischer“, so US-Vizepräsident Cheney im März 2002.[1] Tatsächlich ist der Nahe und Mittlere Osten von beträchtlicher Bedeutung für die USA, die Staaten Westeuropas und Japan. Die Ölvorkommen am Persisch-Arabischen Golf und die Energiereserven des ehemals sowjetischen Zentralasien, seine frühere strategische Bedeutung für die »Eindämmung« der damaligen Sowjetunion an ihrer Südflanke, der arabisch-israelische Konflikt der letzten Jahrzehnte, Migrationswellen aus dem Maghreb nach Frankreich und aus der Türkei in die Bundesrepublik sind einige Stichworte. Zwei Golfkriege in einem Jahrzehnt, die Entführungen westlicher Bürger im Libanon, die Geiselnahme in der US-amerikanischen Botschaft in Teheran im Zuge der schiitischen Revolution im Iran, das Problem der Unterdrückung der Selbstbestimmung der Kurden oder der in den Luftangriffen von 1986 und den UN-Resolutionen von 1991 kulminierende westliche Konflikt mit Libyen sind weitere. Auch wenn sich die Bundesrepublik bis vor wenigen Jahren bemühte, auf jede Nah- und Mittelostpolitik zu verzichten - wenn man von aktiver und teilweise aggressiver Außenhandelspolitik und der Unterstützung Israels absieht -, so steht doch fest, dass die Region für die westlichen Staaten von beträchtlicher Bedeutung ist. Zusätzlich war Afghanistan in den 1980er Jahren ein zentrals Schlachtfeld in der Schlussphase des Kalten Krieges, seit Mitte der 90er Jahre rückte Zentralasien stärker ins politische Interesse, und seit dem US-Krieg gegen das Afghanistan der Taliban steht auch diese Region erneut im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das neue Stichwort heißt hier „Terrorismus“. Auch der zähe und blutige Konflikt um Palästina sorgt dafür, dass der Nahe Osten nicht aus den Schlagzeilen verschwindet.[2]

Westliche Außenpolitik hat den Nahen Osten nie ignoriert und konnte das auch nicht. Vor dem Hintergrund der neuen Herausbildung und Fortentwicklung des alten Feindbildes »Islam« - bzw. »islamischer Fundamentalismus« - stellt sich die Frage, in welchem Maße das Verhältnis zum Islam die westliche Außen- und »Sicherheits«-Politik (ein Euphemismus für Militärpolitik) bestimmt oder geprägt hat und das heute noch tut. Haben westliche Außen- und Militärpolitiker den »Islam« oder seine als fundamentalistisch wahrgenommenen Spielarten als Bedrohung europäisch-amerikanischer Interessen wahrgenommen? Haben sie ihn als ideologische oder als materielle Herausforderung begriffen? Oder hat man ihn lange als harmlose »Folklore« der Region aufgefasst? Und wie hat sich der Westen auf den Islam bezogen? Hat der neue „Krieg gegen den Terrorismus“ hier Änderungen gebracht? Gab oder gibt es eine bewusste Politik dieser Religion und ihren kulturellen, politischen und sozialen Auswirkungen gegenüber? Haben sich die publizistischen und pseudowissenschaftlichen Feindbilder in den westlichen Gesellschaften, über die im ersten Beitrag dieses Buches gesprochen wurde, in der konkreten Politik gegenüber den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens niedergeschlagen? 

Oberflächlich betrachtet scheinen die Antworten leicht. Terrorismus und Geiselnahmen durch schiitische Fundamentalistengruppen im Libanon wie die Hisbollah oder den Islamischen Dschihad und die Besetzung der US-Botschaft im Iran durch eine Gruppe von Studenten »auf der Linie des Imam« (Khomeini) waren schon vor einer Generation spektakulär und rückten das Problem des „islamischen Fundamentalismus« ins Zentrum des Bewusstseins. Und in letzter Zeit wurden die Terroranschläge in den USA vom September 2001 geradezu zu einem Symbol für einen „militanten Islam“.

Aber dann gab es ja noch die »guten« Muslime, also die, mit denen man gute Geschäfte machte oder politisch eng zusammenarbeitete. Die saudische Königsfamilie ist hierfür das klassische Beispiel. In hohem Maße von religiöser Intoleranz geprägt, ist ihre »fundamentalistische« Herrschaft doch seit der Mitte der vierziger Jahre eine wichtige Stütze westlicher Politik im Nahen Osten.

 

Kommunismus und Islam

Für sich allein genommen erschien den westlichen Eliten der Islam als eher harmlos, selbst in seinen militanten Varianten. Tatsächlich ist es sogar so, dass es im Westen lange eine Tendenz gab, den Islam als außenpolitische Waffe zu instrumentalisieren – früher vor allem gegen den Kommunismus oder den Arabischen Nationalismus. Der Islam wurde oft als konservative Ideologie verstanden, die man kommunistisch-revolutionären Ideologien - oder dem arabischen Nationalismus - entgegenstellen konnte. Anderson und Rashidian formulieren das rückblickend im Zusammenhang mit der CENTO (»Nahost-Pakt«, 1955), mit der durch Regierungskooperation ein Gürtel konservativer muslimischer Länder gegen die Sowjetunion mobilisiert werden sollte. Insbesondere durch die nationalistische Revolution im Irak (1958) scheiterte dieses Konzept allerdings.

Aber die teilweise Interessenüberschneidung mit islamistischen Kräften war nicht auf Einzelfälle oder historische Zufälligkeiten beschränkt. In den siebziger Jahren und bis weit in die achtziger hinein förderte die israelische Regierung in den besetzten Gebieten die Muslimbruderschaft (und deren Ableger, Hamas)[3] - also ausgerechnet die Strömung, die später als besonders gefährlich betrachtet wurde. Die US-Zeitschrift Newsweek - anti-westlicher oder anti-israelischer Tendenzen vollkommen unverdächtig - erklärte das so: »Jahrelang schienen die arabischen Fundamentalisten zuverlässige Bauern in Stellvertreterkonflikten mit hohem Einsatz zu sein. Sie widersetzten sich massiv den wichtigsten Feinden des Westens, dem Kommunismus und seinen regionalen Verbündeten, dem linken arabischen Nationalismus. Da sie der PLO feindlich gegenüberstanden, erschienen sie für eine israelische Teile-und-Herrsche-Strategie genau passend. Und sie waren ideologisch mit dem wichtigen Verbündeten und Öllieferanten des Westens, Saudi-Arabien, auf einer Wellenlänge. ... In den siebziger Jahren begann Israel die Muslimbruderschaft als Gegengewicht zur PLO aufzubauen - und setzte das sogar noch fort, als israelische Truppen im Libanon mit schiitischen Radikalen zu kämpfen begannen.«[4]

 Ähnlich verhielt es sich mit der westlichen Politik gegenüber Pakistan. Dem pakistanischen Militärdiktator Zia ul-Haq verzieh man alles: Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen, die Verwicklung von Schlüsselbeamten und Generalskollegen in den Drogenhandel, selbst die Arbeit an einer »islamischen Atombombe«, die zehn Jahre nach seinem Tod 1998 getestet wurde. Auch dass der Diktator zur Verbreiterung seiner politischen Basis ein islamistisch-fundamentalistisches Programm verfolgte und die islamistischen Parteien massiv förderte und sogar in die Regierung aufnahm - alles kein Problem. Die USA brauchten in der Schlußphase des Kalten Krieges Pakistan als Operationsbasis für den Krieg in Afghanistan gegen die Sowjetunion.

 Ein anderes Beispiel für den flexiblen Umgang mit islamistischen Regimes ist natürlich Saudi-Arabien. Das Herrschaftssystem dieses Landes ist in hohem Maße von religiöser Intoleranz gekennzeichnet, stärker noch als das im Iran. Im Iran haben Christen und Juden eigene Sitze im Parlament - in Saudi-Arabien ist es nicht einmal erlaubt, eine Kirche zu errichten. Wenn es so etwas wie einen verknöcherten Fundamentalistenstaat gibt, dann ist es Saudi-Arabien.

Die saudische Führung ist traditionell um den Export ihres Fundamentalismusmodells bemüht. Die Islamisten im Sudan oder in anderen Ländern sind mit saudischem Geld unterstützt worden, und die Kumpanei des Saudischen Geheimdienstchefs Prinz Turki al-Faisal mit Usama bin Ladin und seiner Al-Qaida war lange ein offenes Geheimnis. Selbst eine anti-israelische und sogar antisemitische Ausrichtung saudischer Politik wurde in Washington, London und Bonn/Berlin nicht weiter übelgenommen. Schließlich steht das Land fest im westlichen Lager. Religiöse Flausen sind damit die Privatsache seiner Herrscher. Insofern war es auch wenig überraschend, dass der säkulare Westen das fundamentalistische Saudi-Arabien 1990/91 präventiv militärisch gegen den säkularen Irak verteidigte.

 

US-Afghanistanpolitik bis zum September 2001

Bis zum Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan 1988/89 hatten die USA die Mudschahedin insgesamt und insbesondere die fundamentalistische Partei Hisb i-Islami des berüchtigten Gulbuddin Hekmatyar mit beträchtlichen Lieferungen and Geld und Waffen (schätzungsweise 5 Mrd. US-Dollar in den 80er Jahren) unterstützt. Damals traten US-Beamte offensiv für einen „Dschihad“ gegen die Sowjetunion ein und forderten u.a. Saudi Arabien auf, ihn organisieren zu helfen.[5] Die arabischen Freiwilligen für den Krieg gegen die UdSSR kamen nach Afghanistan, um mit Unterstützung der CIA und des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI den „Heiligen Krieg“ gegen Moskau zu organisieren - Usama bin Ladin war einer der Organisatoren und privaten Geldgeber, die die „arabischen Afghanen“ über das pakistanische Peshawar nach Afghanistan brachten. Dabei wurde er vom saudischen Geheimdienstchef Turki unterstützt, der wiederum von der US-Regierung um Hilfe gebeten worden war. US-Zeitungen berichteten beispielsweise damals von einer Verabredung, dass die saudische Regierung für jeden US-Dollar an Hilfe für den Heiligen Krieg noch einmal den gleichen Betrag dazugeben würde. Damals - im Krieg gegen die Sowjetunion - waren grauenvolle Menschenrechtsverletzungen, offener Terrorismus, Drogenhandel und religiöser Extremismus kein Problem für die US-Regierung und ihre europäischen Unterstützer: es ging ja gegen den gemeinsamen Gegner, den Kommunismus. Erst als man später selbst zum Ziel solcher Praktiken wurde, hatte man etwas an ihnen auszusetzen. Der religiöse Fanatismus im islamischen Gewand war in den achtziger Jahren ein simples Machtmittel gegen Moskau: islamischer Fundamentalismus war eine gute Sache, weil er dem Westen nützte. Das änderte sich Ende der achtziger, Anfang der 90er Jahre: zuerst stellte sich heraus, dass gerade der US-Protegé Hekmatyar sich im Golfkrieg auf die Seite Saddam Husseins stellte, was die USA übelnahmen und deshalb ihre Hilfe für den Fundamentalistenführer bald beendeten. Zweitens aber ging mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung und dem Zerfall der Sowjetunion das Interesse der USA (und des Restes der westlichen Welt) an Afghanistan (und Pakistan) schlagartig zurück: Afghanistan wurde für ein paar Jahre bedeutungslos, da man es als Duckmittel gegen die Sowjetunion nicht mehr benötigte. Bis zum Fall Präsident Nadschibullahs 1992 hielt man noch einen Fuß in der Tür und ein gewisses Interesse aufrecht, da man erst mit dessen Sturz die eigene Politik als erfolgreich abgeschlossen betrachtet (Nadschibullah galt wegen seiner Unterstützung durch Moskau als „prosowjetisch“). Danach verlor man völlig das Interesse, als wäre Afghanistan von der Landkarte verschwunden - die Afghanen zahlten den Preis dafür unter anderem in der Zerstörung ihrer Hauptstadt Kabul durch die Kämpfe Hekmatyars gegen die anderen Mudschahedinparteien.

Einige Jahre später erwachte das US-Interesse erneut - zwar nicht an Afghanistan selbst, aber an den reichen Energievorkommen der Region des ehemals sowjetischen Zentralasiens, die sich als die zweitgrößten der Welt - nach dem Persisch-Arabischen Golf - erwiesen. Damit wurde diese abgelegene Ecke der Weltpolitik zurück auf die Bühne der Großmachtkonkurrenz geholt.[6]

Die USA brachten sich bei ihrer Politik allerdings bald in eine selbst geschaffene Sackgasse. Man wollte die enormen Gas- und Ölreserven etwa Turkmenistans, Usbekistans und Kasachstans nutzen, aber das Problem bestand im Transport der Energie zu den Märkten. Man benötigte ein Pipeline-Netz, das die Förderregionen mit Häfen bzw. Verladestationen verbinden würde, um das Gas und Öl von dort mit den Großtankern der Energiekonzerne abtransportieren zu können. Das Problem der USA bestand nun im Trassenverlauf der Pipeline. Die  technisch einfachste und billigste Variante wäre eine Route durch den Iran zum Persischen Golf bzw. zur Straße von Hormuz gewesen. Diese Route kam aber aus politischen Gründen nicht in Frage: Washington wollte den Iran isolieren, eine solche Pipeline hätte ihn aber nicht nur wirtschaftlich stärker mit seinen zentralasiatischen Nachbarn verbunden, sondern ihm sogar beträchtliche Einnahmen für die Durchleitung beschert. Die Zweite Route - schon länger, komplizierter und teurer, wäre durch Russland verlaufen und möglicherweise bis zur türkischen Mittelmeerküste verlängert worden. Auch diese Streckenführung kam politisch nicht in Betracht, weil man eine strategisch so wichtige Pipeline nicht über russisches Gebiet führen wollte - der russische Einfluss auf seine ehemaligen zentralasiatischen Republiken könnte sich noch erhöhen. Als letzte Möglichkeit blieb nur eine Streckenführung durch Afghanistan: über Herat und Kandahar ins pakistanischen Pipelinenetz in Belutschistan, von dort zum Indischen Ozean (etwa nach Karachi) oder langfristig vielleicht gar bis nach Indien. Dabei war in den 90er Jahren das offensichtliche Problem, dass die Streckenführung einer Pipeline durch ein chronisches Bürgerkriegsgebiet eine sehr riskante Angelegenheit ist: Saboteure könnten sie schon mit geringem Aufwand lahmlegen, bei Kampfhandlungen wäre sie immer gefährdet. Deshalb erstaunte es kaum, dass die Clinton-Administration ab 1996 (der Einnahme Kabuls durch die Taliban) die Taliban als möglichen Partner entdeckte: was immer diese Miliz sonst für Interessen verfolgte, was immer für eine Religionspolitik sie betreiben mochte - sie konnte Stabilität und Sicherheit in Afghanistan gewährleisten, so das Kalkül, und damit die Pipeline ermöglichen, die man zur Erschließung der zentralasiatischen Energiereserven für den Weltmarkt brauchte. Dieses Interesse traf sich mit dem Pakistans, das endlich an die hoffnungsfroh betrachteten, neuen Märkte Zentralasiens angeschlossen werden wollte und zugleich die Lösung seiner chronischen Energieprobleme erhoffte.

Die Wahrnehmung der Taliban als ein prinzipiell positiver Stabilitätsfaktor durch die US-Regierung wurde durch zwei Entwicklungen untergraben: einmal machten es die Medienberichterstattung über deren reaktionären Charakter - und insbesondere ihre Frauenfeindlichkeit - der Clinton-Administration schwer, ihre aufgeschlossene Haltung durchzuhalten. Besonders die Frauenbewegung in den USA wies zunehmend darauf hin, dass die Taliban keine Partner sein sollten. Zweitens belastete die Präsenz Usama bin Ladins und seiner Al-Qaida in Afghanistan zunehmend die Beziehungen zwischen den Taliban und Washington: bereits die Anschläge auf die US-Botschaften in Uganda und Tansania 1998 und der Angriff auf das US-Kriegsschiff Cole (Oktober 2000) vor der jemenitischen Küste wurden Al-Qaida zugeschrieben. Schon 1998 griffen die USA als Vergeltungsakte für die Anschläge Ziele in Afghanistan (angebliche Al-Qaida Lager) und im Sudan an (eine Medikamentenfabrik, die man für eine Chemiewaffenanlage hielt), was den Flirt der USA mit den Taliban beendete. Trotzdem führte man anschließend noch geheime Gespräche über eine Abschiebung oder Auslieferung Usama bin Ladins, die allerdings ergebnislos blieben. Damit befand sich die US-Politik zur Erschließung der Energieversorgung Zentralasiens in einer Sackgasse: man hätte zwar prinzipiell die Nutzungsmöglichkeit der riesigen Gas- und Ölvorkommen gehabt - aber die beiden naheliegenden Transportrouten schloss man selbst aus politischen Gründen aus (Iran, Russland), die dritte wurde durch die Verschlechterung der Beziehungen zu den afghanischen Taliban ebenfalls zunehmend unmöglich.

 

Zwischenbilanz: der Westen und seine Fundamentalisten

Es geht den westlichen Ländern am Golf nicht um Religion, sondern um Macht und strategische Interessen. Und pro-westliche Fundamentalisten sind da um ein Vielfaches besser als ein säkulares und durch den Westen nicht kontrollierbares Technokratenregime. Auch Newsweek ist das nicht entgangen. »Die USA, Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien, Kuwait - und selbst Israel - haben alle eine lange Geschichte komplexer Verbindungen mit islamischen Gruppen, die sie jetzt als terroristisch verurteilen. Die westlichen Nationen hatten nichts gegen den Extremismus, solange er in die richtige Richtung kanalisiert wurde.«[7]

Man hat in Washington und London - etwas weniger in Paris - immer wieder versucht, den Islam und selbst den islamischen Fundamentalismus zu instrumentalisieren, meist gegen die Sowjetunion und den Kommunismus. Wer die marxistisch-leninistische Ideologie bekämpfen wollte, fand es praktisch, dem eine andere, umfassende Ideologie entgegenzusetzen. So wie man in Mittelamerika protestantische Sekten dazu verwandte, den Marxismus und die Befreiungstheologie zu bekämpfen, setzte man - wo immer möglich - den Islam zur Bekämpfung des säkularen arabischen Nationalismus/Sozialismus und des Kommunismus ein.

Neu ist nach dem Ende des Kalten Krieges, dass im Westen Tendenzen bestehen, den Islam jetzt als bedrohliche Nachfolgeideologie des Marxismus-Leninismus aufzubauen. Im New York Times Magazine können wir zutreffender- und typischerweise nachlesen: »Der Westen tendiert dazu, die wachsende politische Beliebtheit des Islams als gefährlich, monolithisch und neu zu betrachten. ... Der Aufstieg des militanten Islam hat eine heftige Debatte darüber ausgelöst, ob und was der Westen dagegen unternehmen sollte. Einige amerikanische Beamte und Kommentatoren haben den militanten Islam schon dazu ausersehen, zum neuen Feind des Westens zu werden, der genauso eingedämmt werden muss wie der Kommunismus während des Kalten Krieges.«[8]

Solche Anschauungen gibt es nicht nur in den USA. Auch andernorts wird der Eindruck erweckt, der Islam sei eine Art Nachfolgeideologie des Marxismus-Leninismus, die dem Vorgänger in fast allem gleiche. Die ehemalige britische Ministerpräsidentin Margaret Thatcher pflichtete dem bei: „Der Islamismus ist der neue Bolschewismus.“[9]

In der gelegentlich bis über die Grenzen der Langeweile seriösen Wochenzeitung Das Parlament gab es zum ersten Jahrestag des Golfkrieges einen unsäglichen Artikel (»Europas Bedrohung durch den islamischen Radikalismus«), der diese Tendenz auf den Punkt brachte: »Die neue totalitäre Idee: der islamische Fundamentalismus.«[10]

Wir wollen uns nicht damit aufhalten festzustellen, dass weder der Islam noch seine fundamentalistischen Varianten neu sind, wie der Verfasser dieses Parlament-Beitrages zu glauben schien. Man könnte allerdings fragen, warum eine alte Angelegenheit ausgerechnet jetzt entdeckt und als totalitärer Gegenentwurf zum Westen interpretiert wird. Das dürfte nämlich mehr mit einer ideologischen Lücke in der westlichen Identität nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Bedürfnis nach Ersatz, als mit dem Gegenstand der Betrachtung zu tun haben.

 

Religion und westliche Außenpolitik

George Bush der Ältere hat als Präsident große Reden mit dem Ausruf beschlossen: »Gott segne Sie. Gott segne unser geliebtes Vaterland.« Gegen Schluss seiner Amtszeit ging er sogar so weit, das Ende des Kalten Krieges nicht allein auf seine eigene Tüchtigkeit, sondern auf Übersinnliches zurückzuführen. »Durch die Gnade Gottes hat Amerika den Kalten Krieg gewonnen.«[11]

Den Golfkrieg und den Konflikt mit Saddam Hussein hat der Präsident ebenfalls religiös überhöht: es habe sich um einen »Kreuzzug« gehandelt. Er habe auch immer gewusst, »dass Gott auf seiner Seite«[12] sei. Trotz der offiziellen Trennung von Staat und Religion in den USA (und anderen westlichen Ländern) handelte es sich dabei nicht um einzelne Ausrutscher. Bill Clinton folgte dieser Sitte von Anfang an. Schon bei der Rede zum Amtsantritt erbat er sich göttliche Hilfe für seine Amtsführung und göttlichen Segen für sein Land. Präsident George W. Bush (der Jüngere) folgte der Tradition seiner Vorgänger bis ins Detail – auch er proklamierte einen „Kreuzzug“, diesmal bezogen auf Afghanistan. Solche religiösen Formulierungen von hoher und höchster Stelle haben in den USA eine lange Tradition - Säkularität hin oder her.

Schon 1898 berichtete Präsident McKinley, wie er zur Entscheidung der Annexion der Philippinen gelangt war. »Nacht um Nacht ging ich im Weißen Haus auf und ab, bis Mitternacht. Ich sank auf die Knie und betete zum allmächtigen Gott um Erleuchtung und Führung.« Eines nachts kam die göttliche Offenbarung: es komme weder in Frage, die Philippinen den Konkurrenten Frankreich oder Deutschland noch sich selbst zu überlassen: »Es blieb uns nichts Anderes übrig, als sie (die Inseln der Philippinen) alle zu nehmen und die Filipinos zu erziehen, zu fördern, zu zivilisieren und zu christianisieren. Und durch die Gnade Gottes« - der später den Kalten Krieg gewinnen würde - »das Allerbeste für sie als unsere Nächsten zu tun, für die Christus ja ebenfalls gestorben ist. Und dann ging ich zu Bett. Und ich schlief gut.«[13]

Göttliche Inspiration als Begründung für Außenpolitik, für koloniale Expansion - ist so etwas ein Argument gegen den säkularen Charakter der USA oder westlicher Gesellschaften allgemein? Wie steht es in solchen Fällen um die berühmte »westliche Rationalität«? Präsident Carter hatte bei seinen Bemühungen um das Camp-David-Abkommen zwischen Israel und Ägypten ebenfalls gern und oft Gott ins Spiel gebracht. »Ich glaube, dass die Tatsache, dass wir denselben Gott verehren und grundsätzlich den gleichen moralischen Prinzipien verpflichtet sind, eine Möglichkeit für die Lösung der Differenzen darstellt. Ich war immer überzeugt, dass, wenn Sadat und Begin zusammentreffen würden, sie durch diesen gemeinsamen Glauben verbunden würden.«[14]

Hier erschien der Islam einmal nicht als Bedrohung, sondern die Gemeinsamkeit zwischen Islam, Judentum und Christentum wird als Voraussetzung des Camp-David-Abkommens genannt. Soll man so etwas ernst nehmen? Sind solche Beispiele - oder die ebenso zahlreichen wie bizarren während der Reagan-Administration - Indizien für einen religiösen Charakter westlicher Politik? Vermutlich nicht. Aber sie wecken berechtigte Zweifel an dem bequemen Gegensatzpaar westlich/säkular/rational einerseits und orientalisch/islamisch-religiös/irrational andererseits. Wir sollten daran denken, dass große Worte von Politikern nicht selbstverständlich zum Nennwert genommen werden dürfen, sondern oft Legitimationszwecken dienen. Und so offensichtlich uns das für den eigenen Kulturkreis erscheint, so gern nehmen wir die religiösen Phrasen in anderen Kulturen für bare Münze - so, als handele es sich nicht um politische, sondern tatsächlich um religiöse Erklärungen.

Wechseln wir die Perspektive. Im Nahen Osten geschehen tatsächlich sehr bedrohliche Dinge: Dominanzstreben eines Staates gegenüber Nachbarstaaten, die erwähnten Gefahren des Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Außerdem ist der Nahe Osten eine Region, in der viele politische Erklärungen in religiösen oder quasi-religiösen Begriffen formuliert werden, noch stärker als in Washington. Ein weltlicher und nationalistischer Diktator wie Saddam Hussein, der selbst Hunderte von islamischen Theologen und Prediger ins Gefängnis werfen oder umbringen ließ, hält es für angebracht, seinen Konflikt mit den USA und ihren Verbündeten öffentlich religiös zu interpretieren und einen „Heiligen Krieg“ auszurufen. Unsere Kritik an westlicher Feindbildproduktion bedeutet natürlich nicht, dass es im Nahen Osten keinen Fanatismus, keinen religiösen Dogmatismus gäbe. Schließlich kritisieren wir solche Erscheinungen auch im eigenen Kulturkreis.

Es ist aber meist unsinnig, die realen und auch bedrohlichen Erscheinungen des Nahen Ostens aus religiösen Phänomenen erklären zu wollen. Nehmen wir ein etwas zurückliegendes, aber sehr illustratives Beispiel: die iranische Außenpolitik. Professor Bassam Tibi, ein in vielen deutschen Sendern präsenter Nahostexperte, schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor einigen Jahren einen Beitrag unter der Überschrift »Verheimlichung der Außenpolitik«.[15] Seine Argumentationsmuster sind typisch für zahllose Autoren. Er beginnt seinen Artikel über die iranische Außenpolitik so: »Schiitische Muslime praktizieren ihren Glauben oft als Untergrundreligion, da sie in ihrer Geschichte von den Sunniten verfolgt wurden. Zu ihrem eigenen Schutz entwickelten sie die Praxis der Taqiyya oder Verheimlichung des Glaubens; sie geben also ihre Religionszugehörigkeit nach außen nicht immer zu erkennen.« Etwas später erwähnt Tibi einen Besuch des iranischen Präsidenten und seines Verteidigungsministers in China, bei dem auch eine »nukleare Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern« erörtert worden sei. Er schreibt: »Auf Verdächtigungen, Iran arbeite an einem Nuklearprogramm für militärische Zwecke, versicherten Regierungssprecher, dass die iranisch-chinesische Zusammenarbeit auf diesem Gebiet nur friedlichen Zwecken diene. Ist dies Taqiyya, Verheimlichung der Außenpolitik?« Aber der Experte bleibt bei solchen Fragen nicht stehen, schließlich war im Untertitel die Antwort schon enthalten: »Iran läßt sich im Nahen Osten und in Zentralasien von der Praxis der Taqiyya leiten.« Und genau so wird auch argumentiert. Der Iran sei »zu seiner schon unter dem gestürzten Schah verfolgten Politik der Hegemonie am Golf« zurückgekehrt, eine zweifellos zutreffende Beobachtung. Aber dies geschehe eben heimlich, ganz in schiitischer Tradition. Dann ist von der Konkurrenz zwischen Iran und Türkei die Rede, die gerade auch in Zentralasien im Gange sei. Tibi fährt fort: »Im Gegensatz zu der für den Schiismus untypischen Chomeini-Ära mit ihrer marktschreierischen Rhetorik verfolgen die heutigen iranischen Politiker ihre Ziele im Stillen; sie kehren somit zur schiitischen Tradition der Taqiyya ... zurück. Sie handeln, ohne über ihre politischen Ziele zu sprechen, ganz im Sinne der Verheimlichung; das heißt, sie verheimlichen - auch in ihrer Hegemonialpolitik - ihre Absichten bis hin zur Selbstverleugnung“. Das Argument - wenn man es so nennen kann - ist deutlich: Der Iran verfolgt eine bestimmte Art der Außenpolitik, die sich aus der Religionsgeschichte, aus der Tradition der Schiiten erklären läßt. Das ist elegant, es ist bequem: Eine Analyse der Interessen des Irans und seiner Nachbarn wird dadurch überflüssig. Nach diesem - allerdings noch weiter simplifizierten - Verfahren hatte schon der Pseudoexperte Gerhard Konzelmann die Erklärung aktueller Konflikte aus dem Leben des Propheten zusammengereimt.

Der Iran verfolgt eine Hegemonialpolitik, und er tut dies diskret, heimlich. Soviel ist richtig. Aber: Was wäre die Alternative? Überall zu verkünden, dass man die Golfregion unter seine Kontrolle bringen möchte? Sein Atomprogramm öffentlich zur Schau stellen und CNN die Filmrechte einräumen?

So ziemlich alle Mächte verfolgen ihre Hegemoniebestrebungen diskret, sie verheimlichen und bestreiten sie. Und wenn nötig, lügen sie, dass sich die Balken biegen. Die USA und die Sowjetunion haben ihr Atomprogramm während und nach dem Zweiten Weltkrieg in großer Heimlichkeit betrieben. Israel hat bis heute noch nicht zugegeben, über Atomwaffen zu verfügen. Pakistan bestritt bis zum Test der Bombe im Mai 1998 ein militärisches Atomprogramm. Die sowjetische Intervention in Afghanistan diente der Sicherung des Weltfriedens und folgte - wie natürlich auch die Besetzung der ČSSR 1968 - einem brüderlichen Hilferuf. Die Eroberung der Karibikinsel Grenada durch die USA (1983) diente der »Geiselbefreiung“ (auch wenn es keine Geiseln gab) und der Abwendung einer Bedrohung der nationalen Sicherheit.

Warum ist es notwendig oder sinnvoll, einer so banalen Angelegenheit, dass ein Staat seine Machtpolitik verheimlicht und beschönigt, quasi-religiöse Weihen zu verleihen? Wenn so ziemlich alle Staaten ihre Hegemonialpolitik kaschieren, wieso soll das im Fall Irans an seiner Religionsgeschichte liegen?

Bassam Tibi wird nicht müde, »den Arabern« und anderen Muslimen (in diesem Artikel in der Form: »den wortstarken Arabern«) Befangen-Sein in religiösen Denkweisen und Mangel an Säkularität zu bescheinigen und sich selbst als aufgeklärt säkular zu präsentieren. Aber hier - und nicht nur hier - schreibt er der iranischen Politik ohne Not eine religiöse Quelle zu, wo rational-säkulare Überlegungen zur Erklärung völlig ausgereicht hätten. Und anschließend kann man dann über den religiösen Charakter nahöstlicher Politik philosophieren.

Die Logik wird zum Schluss dieses so kurzen wie aufschlussreichen Artikels noch einmal deutlich. »Iran spricht nicht mehr vom Export der islamischen Revolution« - richtig. Aber jetzt lautet der Vorwurf »Verheimlichung«. Also: Proklamiert die iranische Diktatur einen Revolutionsexport - was den potentiell durchaus säkularen Aspekt offensiver Machtpolitik beinhalten kann - wirft man ihr das vor. Wird davon nicht mehr gesprochen - um so schlimmer: dann ist es Verheimlichung. Auf diese Weise demonstriert Tibi, wie man sich gegen rationale Kritik immunisiert. Die Analyse wird überflüssig: da man ja weiß, dass die iranische Führung schiitisch ist, betreibt sie natürlich eine »schiitische Außenpolitik«. So gelingt es, politische Analyse durch religiöse und religionsgeschichtliche Ableitungen zu ersetzen, alles im Namen der westlichen, säkularen Rationalität.

Um den entscheidenden Punkt noch einmal zu betonen: Diese Kritik an einem typischen westlichen Scheinerklärungsmuster bedeutet keinerlei Sympathie für das iranische Regime und seine inzwischen gescheiterte Hegemonialpolitik. Aber auch ein brutales Regime muß mit den Mitteln der Logik analysiert werden. Und auch ein „religiöses“ wie das iranische kann durchaus Dinge tun - und dies wird sogar sehr häufig so sein -, die aus rein pragmatischen oder machtpolitischen Gründen erfolgen. Bagdad und Teheran wollen beide die Golfregion kontrollieren, und die USA wollen das auch. Und alle haben dafür genug handfeste Gründe ökonomischer, politischer und strategischer Art, als dass sie noch religiöse benötigten. Zugleich würde keiner der drei Staaten das offen formulieren. Und pikanterweise haben nicht nur die Teheraner Mullahs, sondern noch stärker Saddam Hussein und George Bush I. ihren Kampf um die Vorherrschaft am Golf in religiösen Begriffen formuliert: Heiliger Krieg gegen Kreuzzug.

Das »Feindbild Islam« lebt auch davon, Akteuren im Nahen und Mittleren Osten religiöse Gründe für ihr Handeln zu unterstellen, um dann ihre streng religiöse Orientierung zu beklagen. Dieses Verfahren ist oft ein Weg, sich mit den Problemen und Argumenten der anderen nicht auseinandersetzen zu müssen.

 

Der Umfang des Internationaler Terrorismus

Seit der Zeit der nationalistischen (palästinensischen und/oder arabischen) und schiitischen Attentate der 70er und 80er Jahre hat der internationale Terrorismus - bis zu den Anschlägen des September 2001 in den USA - schrittweise immer mehr an Bedeutung verloren.

Sieht man auf die globalen Zahlen des US-Außenministeriums, dann lassen sich zwei wichtige Punkte feststellen: erstens sank die Zahl der Anschläge des internationalen Terrorismus während der letzten zwanzig Jahre deutlich. Hatte es etwa in den Jahren 1985-88 jährlich jeweils mehr als 600 Anschläge weltweit gegeben (in den Jahren davor zwischen etwa 490 und 565), lag die Zahl für die Jahre 1996-2000 bei durchschnittlich nur noch 338.[16]

Betrachtet man die Zahlen der Anschläge für die Jahre 1995-2000 nach Region, fällt auf, dass der Nahe und Mittlere Osten – also die Region mit dem höchsten Anteil an Muslimen – am unteren Ende der Terrorhäufigkeit lag, von Nordamerika abgesehen. Im Nahen und Mittleren Osten lagen die Anschlagszahlen des Internationalen Terrorismus in diesem Zeitraum zwischen 16 und 45 (im Jahresdurchschnitt 33), während sie in Westeuropa (Schwerpunkt: Balkan) zwischen 30 und 272 (durchschnittlich 101) und in Lateinamerika (Schwerpunkt auf Kolumbien) zwischen 84 und 193 (im Durchschnitt 121) betrugen.[17]

Der Schluss besonderer Virulenz „islamischen“ Terrorismus lässt sich aus diesen Zahlen nicht ziehen. Sieht man sich zusätzlich die in Westeuropa verübten Anschläge näher an, dann gab es durchaus terroristische Akte durch Akteure aus dem Nahen und Mittleren Osten, allerdings in vergleichsweise geringem Umfang und oft mit nicht-religiösem Hintergrund (etwa durch Vertreter der kurdischen, säkularen PKK gegen eigene Mitglieder). Nüchtern betrachtet war der islamische Terrorismus deshalb bis zum 11. September 2001 quantitativ und qualitativ international nur von mäßiger Bedeutung – wichtig genug, um auf ihn wie auf andere Formen des Verbrechens ein strenges polizeiliches Auge zu halten, aber nach Art und Umfang kein Grund zu besonderer Aufregung. Noch im November 1998 hatte der Stellvertretende Direktor des Counterterrorist Centers der CIA – und damit der für den Terrorismus zuständige Mann des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes - in einer Rede so plastisch formuliert:

„Auch wenn jedes durch den Terrorismus verlorene Leben wertvoll ist, so ist deren Zahl, insbesondere der amerikanischen Menschenleben, bisher glücklicherweise klein – wenn man sie etwa mit der Zahl der Toten bei Autobahnunfällen oder durch Mord vergleicht.“[18]

 Nun bedeutet dies allerdings nicht, dass es im Nahen und Mittleren Osten nicht ein erschreckendes Niveau politischer Gewalt gäbe – allerdings meist interner Natur.

Ende der neunziger Jahre fanden 8 von 27 größeren Gewaltkonflikten auf der Welt in der Region des islamisch geprägten Orients statt.[19] Typisch für die dortigen Konfliktverläufe sind Situationen, in denen im Kontext von Aufständen, Bürgerkriegen oder organisiertem politischen Widerstand eine breite Mischung von Aktions- und Operationsformen eingesetzt wird: friedliche Demonstrationen und andere Protestformen, wenn möglich eventuell. sogar die Beteiligung an Wahlen, Sachbeschädigungen oder Gewaltakte mit eher symbolischer Bedeutung, organisierter gewaltsamer Widerstand bis hin zum Niveau des Krieges, Einschüchterungen des Gegners und potentieller Abweichler der eigenen Seite, verschiedene Formen des Terrorismus. Nehmen wir etwa die Gewaltkonflikte des letzten Jahrzehnts in Algerien, der Türkei (Kurdistan), Palästina oder Kaschmir, dann zeigt sich in allen Fällen eine enge Verknüpfung chronischer politischer Konflikte mit verschiedensten Gewaltformen, zu denen auch terroristische Anschläge gehören können und oft auch gehören.

 

Ursachen des islamischen Terrorismus

Es ist seltsam: trotz des rhetorischen Getöses in vielen Medien hat es oft den Anschein, als ob zumindest in der Vergangenheit das Feindbild Islam in der praktischen Politik der westlichen Staaten keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielte. Aufgeregte Ideologen scheinen die Außenpolitik zwar reichlich mit ihren Ratschlägen zu bedenken, aber nicht wirklich ernst genommen zu werden. Die Tagespolitik macht eher einen »pragmatischen«, wenn nicht opportunistischen Eindruck. Da gibt es dann gute und schlechte Fundamentalisten, unsere Islamisten und die anderen. Aber es gibt natürlich auch in der Außenpolitik eine Wahrnehmung des Islam - oder seiner »fundamentalistischen« Spielarten - als Bedrohung des Westens.

Im Zentrum dieser ideologischen Tendenz steht die Frage des Terrorismus, nicht erst seit dem Herbst 2001.

 Der nahöstliche Terrorismus ist ein sehr kompliziertes Phänomen. Es wäre absurd zu glauben, er wäre ideologischen oder gar religiösen Quellen entsprungen. Er entstand vielmehr, weil soziale Sektoren und Bewegungen - etwa im Libanon - keine andere Möglichkeit politischer Einflussnahme mehr sahen. Ohne den israelischen Einmarsch und die lange Besetzung des Südlibanon, ohne die unbestrittene militärische und politische Dominanz Israels in diesem Zusammenhang hätte es den dortigen schiitischen Terrorismus in der dann sich herausbildenden Form nicht geben können. Diese Tatsache entschuldigt keine terroristischen Verbrechen, sondern hilft, Zusammenhänge zu begreifen. Ohne die westliche Unterstützung der israelischen Politik und ohne die westliche Intervention im Libanon 1982 bis 1984 (mit US-amerikanischen, französischen, britischen und italienischen Truppen) wären kaum so viele westliche Staatsbürger im Libanon zu Opfern von Entführungen und zu Geiseln geworden. Die libanesischen Schiiten hatten den israelischen Besatzern, den westlichen Truppen oder der Machtstruktur im eigenen Land politisch und im engeren Sinne militärisch nichts Ernsthaftes entgegenzusetzen. In »offener Feldschlacht« hätten sie nicht den Hauch einer Chance gehabt. Durch Guerillataktik, Überfälle, Entführungen, Attentate und Anschläge konnten sie ihren Feinden trotz der eigenen Schwäche sehr schmerzhafte Schläge zufügen. Auf diese Weise gelang es sogar, die US-amerikanischen und westeuropäischen Truppen nach relativ kurzer Zeit wieder aus dem Land zu treiben. Die Attentate auf das US-amerikanische, das französische und das israelische Hauptquartier im Libanon forderten Hunderte von Toten, zerstörten die Gebäude weitgehend - militärische Attacken, die mit konventionellen Mitteln nie möglich gewesen wären.

Der Kern dieser Politik hat mit »Fanatismus«, »Irrationalität« und anderen psychologischen Kategorien nichts zu tun. Es handelt sich - durchaus im westlichen Sinne - zwar um gewalttätiges, skrupelloses, aber durchaus »rationales«, nämlich auf einen Zweck gerichtetes Verhalten: mit den beschränkten eigenen Mitteln ein Maximum an Wirkung zu erzielen. Und genau das wurde erreicht: Die Westmächte verließen fast panikartig den Libanon, Israel musste sich ebenfalls zurückziehen. Welche andere Politik hätte eine solche Bilanz ermöglicht?

Gewalt und Terrorismus sind auch im Nahen und Mittlerer Osten nicht neu, sind auch nicht erst mit dem aufkommenden Islamismus entstanden.[20] So wie es auch in Europa immer wieder religiös begründete, aber auch säkulare Gewalt gibt und gegeben hat, so auch in muslimisch geprägten Gesellschaften. In den siebziger Jahren wurde etwa der aus dem Palästinakonflikt resultierende Terrorismus (z.B. Flugzeugentführungen) nicht religiös, sondern „national“ gerechtfertigt, im Zusammenhang mit „nationaler Befreiung“ und dem Kampf einer Befreiungsbewegung. Die Täter waren meist Muslime, aber ihre Religion und Religiosität spielte für die Tatbegründungen praktisch keine Rolle. Heute würden die gleichen Taten mit gewisser Sicherheit auch oder völlig mit religiösen Argumenten untermauert – nicht, weil sie nunmehr aus der Religion entsprängen, sondern weil sich der politische Diskurs verschoben hat. So wie früher viele politische Probleme in der Sprache des Arabischen Nationalismus oder des Marxismus-Leninismus ausgedrückt wurden, so werden heute die gleichen Grundprobleme anders formuliert, in einen anderen Begründungskontext eingebettet – ohne dass sie deswegen notwendigerweise andere wären. Politische Bewegungen drücken ihre Forderungen, Erwartungen und Programme fast immer in einem sinnstiftenden Legitimationszusammenhang aus, der ihnen höhere Weihen etwa der „Geschichte“, der „Nation“, des „Klassenkampfes“ oder eben „Gottes“ gewährt. Zum Teil nehmen sie damit Stimmungen in der Gesellschaft auf, zum Teil prägen sie sie, aber auf jeden Fall dient das der Stärkung der eigenen Position durch Inanspruchnahme höherer Werte, die durchaus reale Aspekte und vernünftige Begründungen enthalten können.

Die Ursachen des Terrorismus und der anderen Formen politischer Gewalt im Nahen und Mittleren Osten sind vielfältig. Eine notwendige – aber nicht hinreichende – Grundvoraussetzung besteht in einer allgemeinen Situation der wirtschaftlichen und politischen Dauerkrise, die durch ökonomisch-soziale und politische Aspekte gekennzeichnet ist. Ein wichtiges Element besteht im Auseinanderklaffen der Erwartungen und Hoffnungen eines Großteils der Bevölkerung mit den gesellschaftlichen Realitäten. Nicht die Armut der Bevölkerung oder der Mangel an Demokratie an sich sind direkt und automatisch für politische Gewalt verantwortlich – auch extrem arme Gesellschaften können bemerkenswert friedfertig sein. Aber wenn diktatorische Verhältnisse oder Armut von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden, weil die Menschen mehr Wohlstand und Freiheit für erstrebenswert und möglich halten – und beides ihnen verweigert wird, dann entsteht ein Konfliktpotential mit möglicher Gewaltkomponente. Ob und in welcher Form und in welchem Maße sich die Gewalt tatsächlich äußern wird, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von den rechtlichen und politischen Möglichkeiten friedlicher Opposition. Gewalt wird um so wahrscheinlicher, je stärker gewaltlose Ausdruckformen von Opposition und gewaltlose Konfliktregelungsmechanismen fehlen oder blockiert sind. In einer ganzen Reihe von Ländern des Nahen und Mittleren Ostens bestehen chronische Krisen der Gesellschaften, die zunehmend durch Hoffnungslosigkeit und Wut geprägt sind. Korrupte und unfähige Regierungen verweigern der eigenen Bevölkerung grundlegende politische Rechte und sind zugleich nicht in der Lage, eine wirtschaftliche Zukunftsperspektive zu bieten. Massive Jugendarbeitslosigkeit, eine schamlose Spaltung der Gesellschaften zwischen Arm und Reich (letztere oft demonstrativ pro-westlich) und ein starkes Auseinanderklaffen der öffentlichen Werte und Normen einer Gesellschaft und der sozialen Realität sind Warnsignale. Als soziale Organisatoren eines resultierenden politischen Radikalismus (und später möglicherweise dessen gewaltsamen Praktiken) kommen häufig Sektoren der Mittelschichten in Betracht, etwa die Söhne ländlicher Familien, die in großen Städten oder sogar im Ausland neue Bildungselemente erwerben (vor allem an Universitäten) – und dann keine oder keine angemessenen Arbeitsplätze finden, zugleich aber nicht zurück in ihre Dörfer können oder wollen. Das politische Konfliktpotential speist sich aus sozialer Not und Verzweifelung, aber seine Organisation wird meist nicht von den Ärmsten, sondern von Vertretern der technischen Intelligenz, Ärzten oder Rechtsanwälten getragen.

Meist spielt ein zweiter Faktor eine zentrale Rolle, um bestehendes Konfliktpotential in politische Gewalt zu transformieren: die Symbolik politischer Regionalkonflikte. Für den islamischen Kulturkreis sind das vor allem Palästina, in geringerem Maße Kaschmir (vor allem in Pakistan und Afghanistan) oder die immer noch bestehenden Sanktionen gegen den Irak. Diese Konflikte haben einen starken mobilisierenden Effekt, sie repräsentieren die Unterdrückung ganzer Völker. Insbesondere im palästinensischen Fall kann die Mobilisierung auf nationaler Grundlage (Palästinenser sind Araber) oder quasi-religiös erfolgen (Palästinenser sind meist Muslime), ihre Grundlage ist die Identifikation mit den Unterdrückten. Die Bedeutung dieses Mechanismus wird beispielhaft deutlich in der Fatwa (ein islamisches Rechtsgutachten), die Usama bin Ladin mit anderen Extremisten im Februar 1998 veröffentlichte (ohne dass der Bauingenieur Usama bin Ladin zur Abgabe solcher Rechtsgutachten formell befugt gewesen wäre), um den USA und Israel den „Krieg“ zu erklären. Darin erhebt er drei substantielle Vorwürfe: 

  • Die Besetzung islamischer Länder, insbesondere „der heiligsten aller Orte, der Arabischen Halbinsel“, um deren „Reichtümer zu plündern, ihre Herrscher zu beherrschen“ („dictating to its rulers“), und zu anderen Zwecken durch die USA;

  • Die Auswirkungen der US-Politik („the Crusader-Zionist alliance“), des Golfkriegs und das seitdem andauernde Embargo auf die irakische Zivilbevölkerung „mit mehr als 1 Million Toten“;

  • Die „Besetzung Jerusalems und die Morde an Muslimen“ durch Israel, sowie die US-amerikanische Unterstützung.[21]

Bestimmte Regionalkonflikte im Nahen und Mittleren Osten können in Verbindung mit dem ohnehin innerhalb der Gesellschaften bestehenden Konfliktpotential eine explosive Mischung eingehen. Sie können politisch genutzt werden, um Konflikte und Gewaltpotential zu bündeln und ihnen eine Richtung zu geben – potentiell auch eine Richtung nach außen. Eine Vorbeugung gegen Gewaltkonflikte und Terrorismus sollte in diesem Zusammenhang also zugleich die innergesellschaftlichen Quellen und Ursachen der Gewaltpotentiale und die wichtigen, symbolträchtigen Regionalkonflikte ins Zentrum rücken: solange die Bevölkerungsmehrheiten über keine positive Lebensperspektiven verfügen und solange etwa der Palästinakonflikt nicht gelöst wird – solange wird die Gefahr bestehen, dass sich die Gewaltpotentiale reproduzieren. Sie können sich dann weiter auf sehr unterschiedliche Art und gegen unterschiedliche Ziele äußern, auch terroristisch.

Der aktuelle islamisch geprägte Terrorismus speist sich weiterhin aus säkularen Quellen: aus sozialen Problemen und Konflikten, Unterdrückung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Ohne diese Quellen würde der islamistische Terrorismus über kleine Grüppchen von Spinnern nicht hinausgelangen, er würde nicht bedeutsamer sein, als es die deutsche RAF in den siebziger Jahren war: geräuschvoll, großmäulig, aber politisch isoliert. Die Gefahr der Überreaktion wäre noch gefährlicher als der Terrorismus selbst. Der islamistische Terrorismus ist heute nicht bedeutsam, weil er islamistisch ist, sondern weil er über eine potentielle Basis in einigen Ländern verfügt, die nicht aus dem Koran, sondern den sozialen Realitäten entspringt. (Wer mit einfachen Menschen in arabischen Ländern spricht, wird öfter hören, dass Usama bin Ladin ein schlechter Mensch, ja ein Verbrecher sei, mit dessen religiösen Einstellungen man nichts zu tun haben wolle – dass seine Angriffe auf die USA oder das Saudische Königshaus aber trotzdem ihre Berechtigung hätten. Sympathie genießt der Anti-Amerikanismus, nicht notwendigerweise seine religiöse Form.)

Auf dieser politischen Basis kann allerdings jede Form von Religion zu einer zusätzlichen, mächtigen ideologischen Waffe werden, auch der Islam. Sein praktischer Nutzen besteht darin, dass er nicht-westlich ist (im Gegensatz etwa zum Nationalismus, der in gewissem Maße ein westliches Importprodukt war), dass er sich auf eine ausgesprochen hohe moralische Instanz beruft (Gott), die zusätzlich prinzipiell nicht widerlegt werden kann (Gott kann sich gegen seine politische Instrumentalisierung offensichtlich nicht wehren) und dass Religion eine besonders starke emotionale Komponente enthält, die manche säkulare Ideologien nicht – oder nicht mehr – besitzen.

Der Islam – bzw. bestimmte, unorthodoxe Interpretationen des Islam – können unter manchen Umständen also dazu beitragen, terroristische Täter ideologisch zu stärken, ihre politischen Motive durch spirituelle zu ergänzen und so ihre Motivation zu erhöhen. Der Islam kann ebenfalls – wie nationalistische oder andere Ideologien – die Funktion erfüllen, Gemeinsamkeit zu stiften und so politische Koalitionsbildung erleichtern: etwa an die Gemeinschaft aller Muslime appellieren, so wie früher, und zum Teil noch immer, die Gemeinsamkeiten etwa der Araber politisch genutzt wird. Umgekehrt kann er natürlich zur Ausgrenzung eingesetzt werden, etwa von Nicht-Muslimen. Er kann also insbesondere bei der Stärkung der Gruppenidentität, der Motivierung, und bei der Definition von In- und Outgroup eine wichtige Rolle spielen. Dabei fällt auf, dass der politische Islam als Begründungskontext für Terrorismus (was die seltene Ausnahme, nicht die Regel darstellt) zuerst im jeweiligen Land, nicht international herangezogen wird: der jeweiligen Diktatur oder Machtelite wird ihr islamischer Charakter bestritten, oft mit sehr säkularen Argumenten wie Korruption oder außenpolitischen Vorwürfen, aber auch dem sündigen Lebenswandel der Herrscher. Das Attentat auf den ägyptischen Präsidenten Sadat war ein klassisches Beispiel. Einen internationalen Charakter nehmen solche Formen des Terrorismus meist an, wenn es etwa um die Verfolgung von Oppositionellen oder Diplomaten des eigenen Landes im Ausland geht. In eher seltenen – aber potentiell besonders gefährlichen oder blutigen Ausnahmen – sucht sich islamistischer Terrorismus westliche Ziele im Ausland, wie die Attentate des 11. September 2001 dramatisch unterstrichen.

Eine Analyse des islamisch inspirierten Terrorismus sollte ihn nicht primär unter quasi-theologischen, sondern unter politischen und kriminalistischen Gesichtspunkten untersuchen. Die religiösen Begründungen der Terroristen zum Nennwert zu nehmen, geht ihnen auf den Leim und führt in die Irre. Das religiöse Bekenntnis der Täter ist deren Privatsache – aber ihre Verbrechen sind es nicht, und die Ursachen und Quellen politischer Gewalt und ihrer terroristischen Formen liegen nicht im Verhältnis des Individuums zu Gott, sondern in den sehr irdischen Fragen wie sozialer und politischer Gerechtigkeit, Entfremdung und kollektiver Perspektivlosigkeit. Hier muss die Analyse auch des religiösen Terrorismus, und hier müssen die Gegen- und Vorbeugungsmaßnahmen zuerst ansetzen. Wer demgegenüber den islamistischen Terrorismus primär als ein Phänomen des Islam auffasst und entsprechend handelt, spielt den Terroristen gerade in die Hände. Ihnen geht es ja unter anderem darum, eine Konfrontation zwischen „dem Islam“ und „dem Westen“ zu provozieren, und selbst zu den Exponenten der islamischen Seite zu werden. Genau dieses Kalkül gilt es aber zum Scheitern zu bringen, wenn man nicht noch Öl ins Feuer gießen will.

Für die meisten politischen Fragen ist der Glaube der Täter von zweitrangiger Bedeutung - wie es auch belanglos ist, ob die beiden George Bushs wirklich an den von ihnen proklamierten »Kreuzzug«-Charakter des Golf- und Afghanistankrieges oder an die göttlichen Ursachen des sowjetischen Zusammenbruchs glaubten. Oder, um zu einem früheren Beispiel zurückzukehren: Auch wenn die iranische Staatsführung ihre Außenpolitik selbst in einen religiösen Zusammenhang stellt und als »islamische Außenpolitik« betrachtet, bedeutet das immer noch nicht, dass der heimliche Charakter ihres Vormachtstrebens religiös fundiert ist.

 

Die US-Reaktion auf die Terroranschläge

Die Anschläge des September 2001 in den USA veränderten die Wahrnehmung des Terrorismus und die internationale Politik dramatisch. Er avancierte von einem unangenehmen Randproblem der Weltpolitik zu einer zentralen Frage. Zwar ist die in den ersten Monaten immer wieder zu findende Formulierung, dass nach den Anschlägen „nichts so ist wie zuvor“, eine der üblichen Übertreibungen beim Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums - trotzdem hat sich seit dem September 2001 vieles geändert. Neu war, dass Verbrechen dieser Größenordnung nun auch in den Zentren des Westens und nicht nur in der Dritten Welt verübt wurden, neu war, dass ausgerechnet die Symbole der US-amerikanischen Weltmacht zum Ziel genommen wurden - das World Trade Center und das Pentagon - und neu waren ebenfalls die Wahl der Mittel, der Grad an Planung und Vorbereitung und das Medienecho. Wenn Saddam Hussein mit westlicher – gerade auch deutscher - Technologie 5000 Kurden vergaste, fand das abseits der Weltöffentlichkeit statt - die Zerstörung des WTC mit 3000 Toten wurde demgegenüber zu einem live-übertragenen, weltweiten Medienereignis. All dies war neu. Nicht neu war die Zahl der Opfer, war die Brutalität des Verbrechens, waren seine Rechtfertigungen. Ein solcher Terrorakt in Bangladesh oder Kamerun wäre zwar ebenso schrecklich, aber weniger folgenreich gewesen: Er stellte eine offene Kampfansage gegen die einzig verbliebene Supermacht dar, die USA. Und die USA drehten den Spieß bald um: ihre Reaktion zielte zwar auch auf die Bekämpfung des Terrors - keine US-Regierung hätte sich schon aus innenpolitischen Gründen erlauben können, auf die Terrorakte „weich“ zu reagieren. Aber sie bettete ihr Reaktion in eine globale Gesamtstrategie ein, die über die Terrorismusbekämpfung weit hinausging. So wie die Attentäter die Verwundbarkeit der Weltmacht, ihre Verletzbarkeit selbst im Zentrum der Macht nachweisen wollten, um sie damit zu schwächen, so führten die USA ihren neuen „Krieg gegen den Terrorismus“ eben nicht primär als Maßnahme der Verbrechensbekämpfung, sondern vor allem als Strategie zur Stabilisierung und zum Ausbau der eigenen Vormachtstellung im internationalen System.

Die US-Antwort auf den Terror des September 2001 zielte auf vier Ebenen: einmal auf die Zerschlagung und Bestrafung von Al-Qaida und insbesondere die Ergreifung oder Tötung Usama bin Ladins; zweitens auf den Sturz der Taliban und die Etablierung einer neuen, US-freundlichen Regierung; drittens auf den Sturz anderer „Schurkenstaaten“, etwa der Regierungen des Irak, Iran, Sudans und andere, wechselnde Ziele, bzw. Eingriffe in andere Länder und Regionen, in denen die Regierungen nur eingeschränkte oder gar keine Kontrolle hatten (Somalia, Libanon, Georgien, etc.), und viertens durch die Etablierung einer internationalen „Allianz gegen den Terrorismus“ unter eigener Dominanz auf die Festigung der eigenen, globalen Führungsrolle.[22]

Neben der Terrorbekämpfung stellte diese Politik einen Versuch dar, die Weltpolitik neu zu ordnen: in Zentralasien und Umgebung wurde die eigene Position in einem Maße und in einer Art ausgebaut, die vor den Anschlägen undenkbar gewesen wäre - etwa bis hin zur Stationierung von Soldaten in Usbekistan und Pakistan. Darüber hinaus ging es der US-Regierung darum, bestimmte Schwarze Schafe der Weltpolitik, die sich ihrer Führungsrolle weiterhin widersetzen und auch von einer Teilnahme an der „Globalisierung“ nichts wissen wollten, zu disziplinieren oder unter Kontrolle zu bringen (Irak, Nordkorea, Sudan, Iran, etc.), andere Regionen mit Weißen Flecken auf der Landkarte - in denen etwa die jeweilige Regierung keine wirksame Kontrolle über ihr eigenes Staatsgebiet besaß (Somalia, Afghanistan, z.T. Libanon oder Georgien) zu bereinigen, damit sich in den Zonen der Unregierbarkeit keine US-feindlichen Kräfte oder Terroristen zurückziehen konnten - und schließlich um die zeitliche Verlängerung des „uni-polaren Augenblicks“ der Weltpolitik. Der Terrorismus wurde durch diese Politikmischung nicht allein ein polizeiliches Problem, sondern Terrorbekämpfung eine Frage der politischen Hegemonie. Das wurde - nebenbei bemerkt - von vielen anderen politischen Kräften reflektiert: kaum eine Diktatur oder Halbdemokratie, die die Verfolgung ihrer jeweiligen Opposition nunmehr nicht plötzlich als Notwendigkeit der Terrorismusbekämpfung verkaufte und sich begeistert der „Koalition gegen den Terror“ anschloss: China, Usbekistan, Simbabwes Präsident Mugabe ließen es hier an Deutlichkeit nicht fehlen, aber auch pro-westliche oder demokratische Regierungen wie Israel, Russland und Indien fanden es nun attraktiv, die Palästinenser, Tschetschenen und Kaschmiris  jetzt noch stärker als Terroristen behandeln und verfolgen zu dürfen.[23] Auch wenn der internationale Terrorismus ein ernstes Problem ist - sein politisches Süppchen darauf zu kochen war eine Versuchung, der viele Regierungen nicht widerstehen konnten. Der russische Präsident hatte dies schon seit Jahren in Bezug auf Tschetschenien versucht, aber bis zum April 2001 nur mit mäßigem internationalen Erfolg.[24]

All dies unterstreicht, dass es beim „Krieg gegen den Terrorismus“ nicht allein und nicht einmal hauptsächlich um den Terrorismus geht, dass er vielmehr zur Verfolgung anderer Zwecke ausgenutzt wird. Aber es sagt zwei Dinge nicht: die Instrumentalisierung des Terrors durch die USA und andere interessierte Regierungen bedeutet schließlich nicht, dass er nicht trotzdem ein wichtiges und schwieriges Problem wäre - und sie sagt nichts über den Zusammenhang von Islam und Terrorismus aus.

Bemerkenswert an der US-Reaktion war auch die völlig Konzentration auf Al-Qaida und insbesondere die Person Usama bin Ladins – wobei trotz des technischen Erfolges des Afghanistankrieges gerade dort Fehlschläge zu verzeichnen waren.[25] Auch die US-Regierung geht davon aus, dass Usama bin Ladin entkam. Darüber hinaus war es immer mehr als zweifelhaft, ob er als Person und seine Al-Qaida überhaupt im strengen juristischen Sinne für die Anschläge des 11. September verantwortlich waren. Der US-Experte Michael Collins Dunn hatte weniger als zwei Jahre vor den Terrorakten einen aufschlussreichen Aufsatz über Usama bin Ladin geschrieben. Darin wies er mit guten Gründen die Annahme zurück, der Terrorist kontrolliere tatsächlich die verschiedenen Terroroperationen bis hin zu einzelnen Anschlägen. „Zweifellos hat Bin Ladin eine Reihe der terroristischen Operationen, die man ihm anlastet, auch finanziert. Er hat auch dabei geholfen, islamistische Aufständische in einer Reihe von Ländern trainieren zu helfen. Ob er aber operationelle Kontrolle über deren Aktivitäten ausübt, ist eine andere Frage. Für zumindest einige Beobachter scheint er die Rolle eines Geldgebers und Sprechers zu übernehmen. Das spricht Bin Ladin nicht von seiner Verantwortung für die Taten anderer frei, wie es auch nicht bedeutet, dass er die ihm vorgeworfenen Taten nicht begangen hätte. Es legt allerdings nahe, dass wir ihm nicht größeren Einfluss nachsagen sollten, als er tatsächlich hat.“[26]

Während die US-Regierung und ihre politischen Sympathisanten nach den Terroranschlägen des September 2001 Usama bin Ladin als den entscheidenden Kopf und Anführer des internationalen islamistischen Terrors porträtierten, um ihre kriegerische Antwort zu rechtfertigen, dürfte eine solche Beschreibung das Problem kaum treffen:

„Der Charakter des Bin Ladin Netzwerkes scheint in einer losen Verbindung verschiedener „afghanischer“ Gruppen der arabischen Welt, Südasien und einigen entfernteren Gegenden zu bestehen, die zum Teil durch Bin Ladins Geld zusammengehalten werden. Er verfügt wahrscheinlich über keinerlei operationelle Kontrolle. Berichte eines von ihm ausgesetzten „Kopfgeldes“ für getötete Amerikaner legen nahe, dass er einfach für die Dienste anderer zahlt.“[27]

Bis zum Herbst 2001 stimmt die US-Regierung dieser Einschätzung zu. So unterschied der FBI-Direktor Louis Freeh noch im Mai 2001 zwischen „formellen Terrororganisationen“, die über ihre eigene Infrastruktur, Personal und ähnliches verfügten, und „lose verknüpften Extremisten“, zu denen er Usama bin Ladin und seine Al-Qaida zählte. Al-Qaida sei zwar gefährlich, aber „nur ein Teil“ eines internationalen sunnitischen Terrornetzwerkes, zu denen „Individuen verschiedener Nationalitäten, ethnischer Gruppen, Stämme, Rassen und Mitgliedern terroristischer Gruppen“ gehörten.[28]

Und zuvor hatte der Koordinator des US-Außenministeriums für Terrorismusfragen, Philip Wilcox, unmissverständlich formuliert: „Obwohl es informelle Kontakte zwischen Islamisten gibt - insbesondere im Ausland, wo ihre Führer häufig Sicherheit und Möglichkeiten zur Geldbeschaffung finden – gibt es kaum Beweise eines koordinierten internationalen Netzwerks oder einer Kommandostruktur zwischen diesen Gruppen“.[29]

Auch die US-Regierung sprach von Terrorzellen in möglicherweise bis zu 60 Ländern – und auch wenn diese Zahl vermutlich sehr großzügig aufgerundet sein dürfte: kaum ein Sicherheitsexperte wird ernsthaft vertreten, dass diese alle Usama bin Ladins Kommando unterstehen. Nur Autonomie kann die Gruppen lebensfähig erhalten – sonst bestünde die Gefahr, durch einen einzigen Abtrünnigen oder Überläufer die gesamte Struktur zu gefährden.

Die Konzentration auf Usama bin Ladin war sachlich unsinnig und führte darüber hinaus sogar dazu, sein Ansehen in vielen muslimischen Ländern zu stärken: David gegen Goliath – so wollte sich der Terrorist darstellen, und so konnte man ihn nun auch wahrnehmen. So unsinnig diese Personalisierung auch sein mochte, so war sie doch nicht zufällig: sie diente dazu, der breiter angelegten US-Politik in der Region nach dem September 2001 ein zugkräftiges Verkaufsargument zu geben: erst der Kampf gegen einen Teufel würde den eigenen Kriegsanstrengungen die höhere Weihe eines Kreuzzuges geben. Bemerkenswert war auch die Betonung der Rolle Afghanistans für den internationalen Terrorismus, die ja das Schlüsselargument der US-Regierung für den Krieg gegen das Afghanistan der Taliban darstellte: zwar führen die USA seit langem eine offizielle Liste der Staaten, die Terrorismus fördern – und sind gelegentlich ausgesprochen großzügig, welche Staaten dort aufgenommen werden (etwa Kuba). Afghanistan, auch unter den Taliban, war auf dieser Liste nie verzeichnet.

 

Der Nahe und Mittlere Osten - die Interessen des Westens

Das Schöne an der Politik in Washington - im Gegensatz zu Berlin - ist ihre Offenheit. Eine Weltmacht kann es sich leisten, die eigenen Interessen glasklar zu formulieren und erst in einem zweiten Schritt allerlei große Worte zu verlautbaren, die der eigenen Politik die höheren moralischen Weihen verleihen sollen. Seltsamerweise nehmen wir in der BRD durch unsere Auslandskorrespondenten in Washington meist nur den verbalen Bombast zur Kenntnis, die großen und hehren Ziele, die neuesten Weltordnungsentwürfe, die von ihren Urhebern so selten ernst gemeint sind. Wie also werden in Washington die Rahmenbedingungen der eigenen Nahostpolitik eingeschätzt?

Der damalige Direktor des US-amerikanischen Militärgeheimdienstes, Generalleutnant James Clapper, gab ein Jahr nach dem Golfkrieg vor einem Kongressausschuss einen Überblick über die außen- und militärpolitische Interessenlage der USA. »Im Nahen Osten wird dauerhafte Stabilität schwer zu erreichen sein. Die Anstrengungen unserer militärischen Geheimdienstarbeit werden sich zum großen Teil auf den Wiederaufstieg der irakischen und iranischen Militärmacht und deren nukleare Fähigkeiten richten. In den nächsten zehn oder fünfzehn Jahren werden Iran und Irak weiterhin um die Vorherrschaft am Persischen Golf konkurrieren und sich um die Stärkung ihrer militärischen Machtmittel bemühen. Ein säkularer Staat im Irak und ein religiöser im Iran sind ihrer Natur nach im Konflikt. Diese Feindschaft wird zu Situationen führen, in denen der Krieg zu einer Möglichkeit wird. Ein neuer Krieg am Golf würde erneut die Weltölversorgung gefährden.«[30]

Die militärische Macht dritter Länder, die Weiterverbreitung von Atomwaffen und die Konkurrenz zweier - beider mit den USA verfeindeter - Regionalmächte, die die Weltölversorgung bedrohen könnten: das waren die Bedrohungsvorstellungen des Militärgeheimdienstes. Die religiöse Frage taucht hier nur indirekt auf: im Rahmen der Konkurrenz von Irak und Iran - und ihre Bedeutung ist offensichtlich bei weitem nicht so groß, dass die USA automatisch die säkulare irakische Diktatur gegen das religiös legitimierte Regime im Iran unterstützen würden. Aus den hier zitierten Worten Clappers spricht wenig Aufregung.

Dabei ist seine Einschätzung durchaus typisch für die Politik der US-Regierung. Besonders deutlich wurden die US-Interessen - die sich in diesen Fragen mit den westeuropäischen überlappten - im Zusammenhang mit dem zweiten Golfkrieg. Damals hatte US-Verteidigungsminister Cheney (heute Vizepräsident) ebenfalls die Interessenlage seines Landes am Golf - insbesondere gegenüber dem Irak - definiert: »Wenn wir der irakischen Aggression und seinem Gebietszuwachs nicht entgegentreten würden, hätte das ernste Auswirkungen auf die amerikanischen Interessen. Kurzfristig könnte der Irak die internationalen Ölmärkte manipulieren und in destabilisierende Unsicherheit stürzen, durch Drohungen gegen regionale Staaten die Ölpreise auf ein schädlich hohes Niveau zwingen und sich eine breite und starke politische Basis aufbauen. Durch die Eroberung Kuwaits kontrolliert Saddam Hussein direkt eine Produktionskapazität von fünf Millionen Fass pro Tag und gewinnt einen möglicherweise starken Einfluss auf die Produktion im Rest der arabischen Halbinsel, die noch einmal sieben Millionen Fass täglich beträgt. Das gäbe Saddam eine sehr mächtige Ölwaffe. Mit dieser Waffe könnte er ölimportierende Länder in Europa, Japan und sogar die USA - die alle zunehmend auf Golf-Öl angewiesen sind - unter Druck setzen. Langfristig würde der Irak militärisch viel stärker. Mit seinen zusätzlichen Mitteln könnte er seinen riesigen Vorrat an konventionellen und nichtkonventionellen Waffen ausdehnen - und bald auch über Atomwaffen verfügen. Seine militärische Stärke in Verbindung mit seiner größeren wirtschaftlichen und politischen Macht gäbe Saddam Hussein ein noch größeres Druckpotential gegenüber seinen Nachbarn in bezug auf die Ölpolitik und andere Fragen.«[31]

Es steht hier nicht zur Debatte, ob diese Sicht richtig oder falsch war. Schließlich geht es nicht darum, die westliche Energiepolitik am Golf und ihre Annahmen zu untersuchen, sondern den Zusammenhang zwischen ihrer Außenpolitik und bestimmten ideologischen Mustern. Und Cheney präsentiert hier eine ausgesprochen unideologische, materialistische Interessendefinition: Die Bedrohung durch Saddam bestehe für die USA - und den gesamten Westen - darin, dass 1. der Irak die Ölpreise deutlich erhöhen, 2. der Westen durch die »Ölwaffe« vom Irak unter Druck gesetzt werden könnte und 3. der Irak durch seine zunehmende militärische Macht noch weiter an Gewicht in der Region gewinnen würde.

Die westlichen Interessen am Persisch-Arabischen Golf drehen sich natürlich zum großen Teil um Öl, um die Energieversorgung. Aber dabei geht es nicht um bloße wirtschaftliche Variablen, um Menge und Preis des Ölexportes. Es geht um Macht. Es geht um die Kontrolle der Ölregion und darum, sie anderen - vor allem unfreundlich gesonnenen - vorzuenthalten. Diesem Ziel sind viele andere Interessen untergeordnet.

Aber der Nahe und Mittlere Osten besteht nicht nur aus der Golfregion. Und die westlichen Interessen sind entsprechend komplexer. Shireen Hunter hat in einem Aufsatz rückblickend zusammengefasst, welche Bedrohungen des Westens, vor allem der USA, im Nahen und Mittleren Osten bis zum Ende der achtziger Jahre auszumachen waren.

»Traditionell resultierten die wichtigsten Bedrohungen der regionalen Sicherheit aus dem sowjetischen Expansionismus und dem regionalen Radikalismus.« Darauf aufbauend nennt Hunter mehrere Kategorien der Bedrohung westlicher Interessen. Es handelt sich um: 

·         Öl als politische Waffe;

·         die Bedrohung konservativer, mit dem Westen verbundener arabischer Herrscher;

·         die Wahrnehmung der Interessen Israels als westlichem Verbündetem in der Region;

·         regionale Rivalitäten zwischen Staaten oder Bewegungen, die zu Instabilität führen könnten;

·         innenpolitische und wirtschaftliche Probleme einzelner Länder oder der Region.

All diese Bedrohungen mussten natürlich zu Zeiten des Kalten Krieges immer zugleich auf die Konkurrenz zur Sowjetunion bezogen werden. Allerdings ist offensichtlich, dass sich diese Grundkonstellation westlicher Interessen seitdem nicht wirklich verändert hat – Öl, Stabilität und Israel sind weiterhin entscheidende Kriterien. Ein weiterer Punkt in der Aufzählung Hunters (dort allerdings an vierter Position) bezieht sich auf ideologische Fragen und berührt unser Thema direkt. Es handelt sich um die Bedrohung westlicher Interessen durch den Islam und den arabischen Nationalismus: »Die Sichtweisen der militanten Islamisten und der radikalen arabischen Nationalisten sind in bezug auf die Regierungen und herrschenden Eliten der arabischen Golfstaaten sehr ähnlich. Die beiden Gruppen teilen auch ihre Feindschaft gegenüber dem Westen. Allerdings sind die Islamisten bis auf wenige Ausnahmen im Gegensatz zu den arabischen Nationalisten zugleich anti-sowjetisch.«[32]

Was Hunter uns hier in bezug auf den »militanten Islam« als Befürchtung der westlichen Außenpolitik vorstellt, ist, dass er anti-westlich eingestellt ist. Es ist wenig überraschend, dass der Westen eine solche Einstellung nicht schätzt. Es wird aber zugleich deutlich, dass der militante Islam - also islamistische Bewegungen - als weniger feindlich als der arabische Nationalismus (etwa Nasserscher oder baathistischer Prägung) angesehen wurde. Diese Bedrohung galt als geringer, weil der arabische Nationalismus nicht auch anti-sowjetisch war. Und in Zeiten einer scharfen Ost-West-Konkurrenz war gerade die Stellung zur Sowjetunion das entscheidende Kriterium für die Freund-Feind-Zurechnung. Die in vielen Massenmedien so populäre »islamische« Bedrohung taucht hier - und auch das ist durchaus typisch - als eine von sechs Bedrohungen auf, und selbst das nur knapp. Sie wird als Untergattung feindseliger Ideologien betrachtet, und dabei noch als minder gefährliche. Mit dem Verschwinden der Sowjetunion musste hier eine ideologische Verschiebung eintreten: der Islamismus rückte vom zweiten auf den ersten Platz der Liste „feindseliger Ideologien“, und seine Nützlichkeit als Waffe gegen einen gemeinsamen Gegner verschwand mit diesem Gegner.

 

Die „Achse des Bösen“

Nach dem leichten militärischen Erfolg gegen die afghanischen Taliban – der nicht mit politischer Stabilität in Afghanistan verwechselt werden darf[33] - erklärte US-Präsident George W. Bush zum Jahresanfang die drei Staaten Irak, Iran und Nordkorea zu einer „Achse des Bösen“. Dabei ist die Formulierung des „Bösen“ in der internationalen Politik einerseits ungewöhnlich, da es sich um eine im Kern „moralische“, eigentlich quasi-religiöse Begrifflichkeit handelt – das Gute versus das Böse, das Reich des Lichts versus das der Finsternis, so etwas neigt dazu, die internationalen Beziehungen nicht als Arena des Konflikts und Ausgleichs von Interessen, sondern der eines grundlegenden Kampfes zweier gegensätzlicher moralischen Prinzipien zu deuten. Wenn es nicht um die Vermittlung von – prinzipiell selbstverständlichen und legitimen – Interessensgegensätzen ginge, sondern eben um einen Kampf zwischen Gut und Böse: dann wären auch Kompromisse schwierig oder unmöglich. Diese Moralisierung und quasi-religiöse Überhöhung von Außenpolitik mag für manche europäischen Ohren befremdlich klingen – sie ist aber nicht neu. US-Präsident Reagan hatte sie mit Leidenschaft gegenüber der Sowjetunion genutzt, etwa indem er diese explizit als „Reich der Finsternis“ brandmarkte – und sich selbst so im Umkehrschluss zur Lichtgestalt ernannte. Auch andere Mitglieder der US-Regierung konnten der Versuchung einer ideologischen Überhöhung des Konfliktes nicht widerstehen. So formulierte der US-Justizminister – und christliche Fundamentalist – John Ashcroft die Mission seines Landes in der Welt: „Unsere Nation ist zur Verteidigung der Freiheit berufen – eine Freiheit, die nicht von irgendeiner Regierung oder durch irgendein Dokument gewährt, sondern uns von Gott verliehen wurde.“ Ein amerikanischer Journalist hatte bereits zuvor den Minister mit den Worten zitiert: „Der Islam ist eine Religion, nach der Gott verlangt, dass man seinen Sohn für ihn sterben lassen soll. Das Christentum ist ein Glaube, nach dem Gott seinen Sohn gesandt hat, um für uns zu sterben.“[34] Diese Äußerungen waren nicht rein abstrakter Natur, sondern erfolgten im Kontext des US-amerikanischen „Krieges gegen den Terrorismus“. Da nützte es nichts, wenn andere hochrangige Politiker immer wieder versicherten, „unser Krieg gegen den Terrorismus ist kein Krieg gegen den Islam“.[35] Letztlich ergab sich in der Öffentlichkeit ein sehr widersprüchliches Bild: mal besuchte US-Präsident Bush in New York demonstrativ eine Moschee, dann wieder sprach er mehrfach von einem „Kreuzzug“. Ähnlich widersprüchlich waren die Äußerungen auch in anderen Ländern: während viele europäische Politiker immer wieder betonten, „Die Vereinigten Staaten von Amerika und wir als Verbündete führen keinen Krieg gegen einzelne Staaten oder Völker und schon gar nicht gegen die islamische Welt insgesamt“ (Bundeskanzler Schröder)[36] wurden immer wieder auch andere Stimmen laut. Der italienische Ministerpräsident Berlusconi wurde besonders deutlich: „Der Westen ist dazu bestimmt, die Völker zu verwestlichen und für sich zu erobern. Dies ist ihm schon mit der kommunistischen und mit einem Teil der islamischen Welt gelungen. Aber es gibt einen anderen Teil dieser Welt, der vor 1.400 Jahren stehen geblieben ist“.[37]

Trotz des häufig rituellen Geredes von einem „interkulturellen Dialog“ sind die anti-islamischen Konnotationen des vorgeblichen Dualismus zwischen dem Westen und dem Islam offensichtlich. Deshalb ist es wenig überraschend, dass viele Muslime trotz der offiziellen Beteuerungen des Gegenteils den Verdacht äußern, der Westen – vor allem die USA – betriebe eine systematische Politik gegen den Islam oder die muslimischen Länder.

Dieser Verdacht wurde dadurch noch genährt, dass die USA nach dem Sieg über die Taliban zunehmend Drohungen gegen andere Staaten des Nahen und Mittleren Ostens äußerten. Sie erhoben Vorwürfe, dass manche Staaten – wie Afghanistan – ebenfalls den internationalen Terrorismus unterstützen oder zumindest tolerierten, und deshalb ebenfalls „zur Verantwortung gezogen“ würden. Diese Drohungen mischten sich mit den bereits üblichen Angriffen gegen die „Schurkenstaaten“, die praktischerweise mit den neuen Feinden oft identisch waren. In der Diskussion in Washington über potentielle Angriffsziele wurde die Liste möglicher Ziele immer länger und bunter. In erster Reihe wurden immer wieder der Irak, der Iran und – eine zeitlang – Somalia erwähnt, aber auch der Sudan, der Jemen, Syrien, der Libanon waren Kandidaten, dazu verschiedene palästinensische Gruppen, Libyen, die Abu Sayyaf in den Philippinen, Organisationen in Kaschmir und Pakistan gehörten dazu. Auch wenn zusätzlich noch Nordkorea (und bizarrerweise gelegentlich Kuba) in Schusslinie gerieten, so war doch kaum zu übersehen, dass der größte Teil der Ziele muslimische Länder oder Gruppen waren.

Im Zentrum der US-Aufmerksamkeit stand allerdings von Anfang an der Irak. Die offizielle Begründung bestand in dessen angeblichem oder tatsächlichen Besitz von Massenvernichtungswaffen, der allerdings unklar blieb und den Irak auch nicht von einer Reihe anderer Länder der Region (von Israel, der Türkei, Ägypten bis Syrien) unterschied – von der Tatsache einmal angesehen, dass die USA selbst über die weltweit größten Vorräte solcher Waffensysteme verfügen. Präsident Bush drohte, sich den Irak „vorzunehmen“ und formulierte in Bezug auf den irakischen Präsidenten Saddam Hussein: „Er ist ein Problem, und wir werden uns mit ihm befassen.“ Der Kontext dieser Bemerkungen bestand darin, dass „Staaten, die mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen drohen“ zum Ziel militärischer, auch atomarer Angriffe Washingtons werden könnten – zu einem Zeitpunkt, an dem die US-Regierung gerade selbst die Entwicklung neuer taktischer Atomwaffen betrieb und mit ihrem Einsatz drohte. Interessanterweise – und ohne Rücksicht auf das Völkerrecht – wurde aus Washington auch immer wieder der Sturz der irakischen Regierung (einer in der Tat widerlichen Diktatur) als Ziel militärischer Aktionen genannt.

Ein Krieg zum Sturz Saddam Husseins wurde schon während der Präsidentschaft Clintons immer wieder von Persönlichkeiten wie Dick Cheney, Paul Wolfowitz, Donald Rumsfeld und James Woolsey („Wir müssen dieses Regime zerstören, das uns zerstören und seine Nachbarn terrorisieren möchte“[38]) gefordert, die sich an einer ausgewachsenen Kampagne zu diesem Ziel beteiligten. Heute sind die meisten Aktivisten dieser Bewegung hohe Amtsträger der Regierung Bush, und es überraschte deshalb nicht, dass diese Regierung von vornherein – bereits vor dem September 2001 – den Irak zum Sturz seiner Regierung ausersehen hatten. Dabei ging es in gewissem Sinn schon um die Frage von Massenvernichtungswaffen, aber doch nur in zweiter Hinsicht: wenn der Irak so pro-amerikanisch wie die Türkei oder Israel wäre, dann wären auch B- oder C-Waffen kein wirkliches Problem. Aber für ein Land, das sich dauerhaft der US-Dominanz verweigerte, sollte so etwas nicht in Betracht kommen. (So erläuterte auch Margaret Thatcher in Bezug auf den Iran und Syrien, dass diese zwar Usama bin Ladin, die Taliban und die Anschläge des September 2001 verurteilten – „Aber, sie sind beide Feinde der westlichen Werte und Interessen“.)[39]

Der Hinterrund der Politik Washingtons dürfte vermutlich präzise mit dem erhellenden Bonmot Henry Kissingers charakterisiert sein, dass „Öl viel zu wichtig ist, um es den Arabern zu überlassen.“ Der Irak ist – neben dem Iran und Saudi Arabien - ein Schlüsselstaat am Persischen Golf, der noch immer wichtigsten Ölregion der Welt. Die Regierung Bush war mit der Absicht ins Amt gelangt, weniger Aufmerksamkeit als unter Clinton auf den Nahen Osten (insbesondere den Palästinakonflikt), aber mehr auf den Persischen Golf zu verwenden – und das war immer ein Euphemismus für den gewaltsamen Sturz der irakischen Regierung und die Einsetzung eines pro-amerikanischen Nachfolgeregimes.

Insgesamt ergibt sich das Bild, dass eine ganze Reihe muslimischer Staaten unter besonderen Druck der US-Politik gesetzt wurden. Aber vieles deutet darauf hin, dass dies nicht wegen ihres muslimischen Charakters, sondern aus rein machtpolitischen und strategischen Gründen erfolgt: weder der Irak noch Syrien oder Libyen sind sonderlich religiös orientiert, und gehören trotzdem zu den bevorzugten Zielen der US-Politik. Diese ist vor allem davon geprägt, dass die große Region der muslimischen Länder von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Zentralasien und Malaysia und Indonesien von überragender wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung und zugleich von hoher Instabilität ist, dass dort auch wichtige Sektoren der Bevölkerung und Politik eine globale US-Hegemonie mit Ablehnung oder gar Feindseligkeit betrachten. Diese Region einer stabilen eigenen Dominanz zu unterwerfen ist das offensichtliche und „rationale“ Ziel – die Frage islamischer oder anderer Religiosität wird für die US-Außenpolitik nur dann relevant, wenn sie dieses allgemeine Politikziel tangiert. Das solche Formen „rationaler“ Machtpolitik nicht harmlos sein müssen, wurde im März 2002 einmal mehr bekannt. Da musste die Frankfurter Allgemeine Zeitung nämlich berichten:

„Das amerikanische Verteidigungsministerium betrachtet den Irak und mindestens sechs weitere Staaten nach einem internen Bericht als mögliche Ziele für einen Angriff (der USA; J.H.) mit Atomwaffen. ... US-Außenminister Powell bestätigte am Sonntag die Existenz des Berichtes. ...Als potentielle Gegner werden der Irak, Iran und Nordkorea genannt, die Präsident Bush als „Achse des Bösen“ bezeichnet hatte, sowie Syrien, Libyen und China.“[40] Bald stellte sich heraus, dass der Iran bereits seit 1979 und der Irak seit 1991 auf der Zielliste der amerikanischen Atomwaffen standen.[41]

 

Einige zusammenfassende Überlegungen

Der Islam in Nord-Süd-Beziehungen war der Gegenstand unserer Betrachtung. Die Ergebnisse sind offensichtlich widersprüchlich. Auf der einen Seite haben wir Beispiele dafür gefunden, dass das von Andrea Lueg untersuchte Feindbild in die Außenpolitik hineinwirkt. Das gilt nicht nur für die außenpolitische Berichterstattung der Medien, sondern auch für bestimmte Politikfelder wie die Politik gegen Terrorismus oder die US-amerikanische Iran-Politik. Auch auf dem Feld der Außenpolitik werden dem islamisch geprägten Kulturkreis oder bestimmten Kräften oder Bewegungen gelegentlich von vornherein religiöse Antriebe als zentral unterstellt - etwas, dass man im eigenen Kulturkreis als weltfremd betrachten würde.

Zugleich aber ist deutlich, dass der Kern westlicher Außenpolitik sich vom Feindbild Islam nicht sonderlich beeindrucken lässt, sondern „den Islam“ oder seine islamistischen Varianten in verschiedene Zusammenhänge einordnet. Es wurde klar, dass die westliche Orientpolitik primär von einer Definition der eigenen Wirtschafts- und Machtinteressen bestimmt wird, nicht von der Einschätzung einer Religion. Nur in diesem Zusammenhang fürchtet sich der Westen vor einer islamischen Bedrohung: nämlich dann, wenn seine konkreten Interessen bedroht sind.[42] Vor diesem Hintergrund sieht der Westen gute und schlechte Muslime, gute und schlechte Fundamentalisten. Pro-amerikanische oder pro-westliche islamistische Kräfte mögen ebenso intolerant, fanatisch oder gewalttätig sein wie ihre anti-westlichen Kollegen - wir erinnern uns an Saudi-Arabien oder an die afghanischen Mudschahedin. Das ist dann aber keine »islamische Gefahr«, sondern Lokalkolorit.

Das Feindbild Islam taugt für die Außenpolitik nur mit Einschränkungen. Einerseits ist es hochgradig attraktiv, da es einen naheliegenden Ersatz für das verlorene Feindbild Sowjetunion/Kommunismus bilden kann. Hochgerüstete Militärapparate und eine auf Vorherrschaft am Golf zielende Außenpolitik brauchen eine plausible Begründung, brauchen ein glaubwürdiges Feindbild. Und dieses Feindbild sollte mehr sein als ein konkreter Feind, es sollte eine umfassende Ideologie beinhalten, wie das Feindbild Kommunismus mit dem Marxismus-Leninismus. Da bieten sich »der Islam« oder der »islamische Fundamentalismus« geradezu an - auch, weil attraktive Alternativen fehlen.

Andererseits schafft das Probleme. Viele wichtige Verbündete des Westens sind selbst Regierungen des islamischen Kulturkreises, manche gar selbst fundamentalistisch. Ein anti-islamischer - oder auch nur anti-islamistischer - Kreuzzug wäre daher schwer durchzuhalten. Entweder käme er in beträchtliche Glaubwürdigkeitsprobleme, oder er würde wichtige Verbündete verprellen. Aus diesem Grund gibt es bezüglich des außenpolitischen Feindbildes Islam eine Art Schwebezustand. Immer wieder wird die Gefahr wortreich und fast lyrisch beschworen, je nach Konjunktur in unterschiedlichen Regionen oder verschiedenen Ländern. Und dann wieder wird es sehr still, ist keine Rede mehr von islamistischen Bedrohungen. Als der Kampf gegen Saddam Husseins Irak im Vordergrund stand, war der Iran keine populäre Bedrohung, sondern ein Faktor, den man diplomatisch in die anti-irakische Front einbeziehen, zumindest aber neutralisieren wollte. Einige Zeit später war wieder zunehmend von der iranischen Gefahr die Rede, die eigentlich doch schlimmer sei als die irakische. Dann taucht die islamistische Bedrohung wieder aus der Versenkung auf. Beim Afghanistan-Krieg 2001 war es ähnlich: plötzlich sollten auch alte Feinde politisch eingebunden werden, etwa der Iran und Syrien. Nach Kriegsende verschärfte sich das Klima diesen Ländern gegenüber wieder.

Dieses Hin-und-her-Pendeln je nach politischer Opportunität wird die westliche Außenpolitik gegenüber muslimischen und islamistischen Regierungen und Bewegungen auch in Zukunft bestimmen.

Bemerkenswert ist ein Auseinanderklaffen der holzschnittartigen Feindbildproduktion für den internen Bedarf, also in Publizistik und Medien, und der widersprüchlichen Verwendung des Feindbildes Islam in der konkreten Politik. Während manche Ideologen und viele Medien oft geradezu hysterische Horrorszenarien und emotional aufgeladene Schein-Berichterstattung verbreiten, finden wir in der Außenpolitik zumindest zum Teil relativ nüchterne Einschätzungen, die sich von eigenen Interessen und weniger von eigenen Ängsten leiten lassen. Die westliche Politik gegenüber dem Orient mag ihre Belange mit großer Konsequenz und sogar Brutalität durchsetzen und Menschenleben im Nahen und Mittleren Osten nicht besonders hoch einschätzen - sie ist aber meist zweckrational und kühl kalkuliert. Sie fällt nur in Ausnahmesituationen auf den Popanz herein, der für den heimischen Konsum aufgebaut wird. Wie ist dieses Auseinanderklaffen zu verstehen?

Zwei Gründe kommen vor allem in Betracht. Einmal der immer noch elitäre Charakter von Außenpolitik. Innenpolitik, Wirtschafts- und Sozialpolitik haben eine breite Lobby, Interessengruppen erzwingen Diskussionen, stellen Forderungen. Außenpolitik ist weiterhin eine Sache von Minderheiten, einer relativ kleinen Elite, nur gelegentlich behelligt durch Basisbewegungen zu Einzelfragen - »Nachrüstung« und Friedensbewegung waren in den 80er Jahren die wichtigsten Beispiele für das Abweichen von der Regel. Emotionalisierung und reißerische Feindbilder sind eher für den breiten Massenkonsum gedacht, sie sind für die außenpolitische Machtelite wenig attraktiv. Die Vertreter westlicher Ölinteressen etwa dürften die Schriften Scholl-Latours kaum für relevant halten.

Ein zweiter Grund für das Auseinanderfallen der innen- und außenpolitischen Wahrnehmung des Islam hängt damit zusammen, dass die allgemeine Feindbildproduktion den Orient und den Islam nur zum Vorwand nimmt, aber nicht eigentlich zum Gegenstand hat. Sie hat wenig mit dem Orient und dem Islam zu tun, aber viel mit inner-westlicher Identitätsstiftung. Es geht um Selbstvergewisserung, um das sich gegenseitige Bestätigen, wie rational, aufgeklärt und vernünftig wir Westler sind. Die Notwendigkeit dafür besteht in dem bedauerlichen Tatbestand, dass Zivilisiertheit sich auch in Europa und Nordamerika in bescheidenen Grenzen hält und immer wieder von eruptiven Rückschlägen aufgehoben wird. Der deutsche Faschismus, der Stalinismus oder solche archaischen Erscheinungen wie die Kriege auf dem Balkan oder der Bürgerkrieg in Nordirland - um nur ein paar drastische Beispiele zu nennen - mahnen hier zu einer vorsichtigen Selbsteinschätzung westlicher Zivilisation. Das Anzünden libanesischer Mädchen am Niederrhein und ähnliche Äußerungen der »Volksseele« sind kein Indiz für die tiefe Verankerung zivilisatorischer Werte im christlichen Abendland. Durch die Karikierung fremder Kultur, durch die beliebige und willkürliche Verzeichnung islamischer Gesellschaften erteilen wir uns selbst die Absolution. Die anderen sind fanatisch, nicht wir, die anderen sind irrational, nicht wir.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Feindbild Islam in den Köpfen der bundesdeutschen Bevölkerung und ihrer öffentlichen Meinung tief verankert ist. Eine diffuse, irrationale Angst vor dem Islam, »den Arabern« (wobei nicht selten beispielsweise Perser, Türken oder die zahlreichen ethnischen Gruppen Afghanistans oder Pakistans kurzerhand zu „Arabern“ erklärt werden), einer anderen Kultur und vor der Armut der »Dritten Welt« - all das verbindet sich mit rassistischen und fremdenfeindlichen Gefühlen zu einer dumpfen Mischung. Innenpolitisch sind diese Ängste präsent, ist dieses Feindbild voll entwickelt, auch wenn es sich oft nicht öffentlich äußert und auch wichtige Gegenströmungen vorhanden sind. Außenpolitisch bleibt das Feindbild immerhin latent. Es ist unter der Oberfläche vorhanden, wird aber nur in Ausnahmefällen aktiviert und für außenpolitische Zwecke eingesetzt.

Diese Situation hat einen beruhigenden und einen alarmierenden Aspekt. Eher erfreulich ist der Schluss, dass die westliche Außenpolitik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten rational ist, auch wenn sie von dem Interesse an politischer und wirtschaftlicher Dominanz gekennzeichnet ist, und von der Bereitschaft, in »zweckrationaler« Manier gelegentlich ein paar Tausend oder Zehntausend Menschenleben – arabische oder vielleicht afghanische, versteht sich - der Durchsetzung der eigenen Interessen zu opfern. Der Westen betreibt also keinen »Kreuzzug«, keine Politik, die sich von einem rassistischen Feindbild leiten ließe, sondern »nur« imperiale, zweckrationale Politik. Wenn das die gute Nachricht ist - was ist die schlechte?

Bedrohlich ist, dass diese imperiale Politik je nach Opportunität auf die latente Emotionalisierung zurückgreifen kann. Wenn sich die westlichen Strategen zur Durchsetzung ihrer Interessen zu weiteren Interventionen, Kriegen oder neuen Formen neo-kolonialer Dominanz entschließen sollten - dann stehen die politisch-psychologischen Voraussetzungen bereit. Fast jedes politische oder militärische Abenteuer könnte innenpolitisch gerechtfertigt werden. Das Feindbild lässt sich nutzen, es gestattet, je nach Bedarf eine islamische Bedrohung zu präsentieren, gegen die es sich zu »verteidigen« gilt.

 

 

 Quelle:

Jochen Hippler
Der Islam, der Westen und die politische Gewalt in den internationalen Beziehungen,
 in: Jochen Hippler/Andrea Lueg (Hrsg.), Feindbild Islam - oder Dialog der Kulturen, Konkret Literatur Verlag, Hamburg  2002, S. 159-195

 


Fußnoten

[1] Cheney: Anti-Terror War will be Long, in: ap-Meldung in der Online-Ausgabe der Washington Post, March 13, 2002

[2] zur Frage der Bedrohungen des Westens aus der Region siehe u.a.: Harald Müller, Middle Eastern Threats to the Atlantic Community, in: Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), Heft 4/2001, S. 412 ff

[3] Zur Geschichte von Hamas siehe u.a.: Hamas Makes it to the Centrestage, in: The Middle East, February 1993, S. 9f; siehe auch: Jochen Hippler: Ein trojanisches Pferd: Hamas und die Hintermänner, in: Freitag, 15. März 1996, S. 7

[4] Building an Enemy - America, Israel and Arab States created the Islamic militants they now fear, in: Newsweek, 15.February 1993, p.9-12, hier: p.10

[5] zur US-Afghanistanpolitik jener Zeit siehe: Jochen Hippler „Bis zum letzten Afghanen“, in: Konkret, April 1989, S. 28-31

[6] Siehe dazu u.a.: Ahmed Rashid, Die Taliban – Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München 2001, Kapitel 11-13

[7] Building an Enemy - America, Israel and Arab States created the Islamic militants they now fear, in: Newsweek, 15. February 1993, p.9-12, hier: p.10

[8] Judith Miller, The Islamic Wave, in: The New York Times Magazine, May 31, 1992, p. 25, 42

[9] Margaret Thatcher, Islamism is the New Bolshevism”, in: The Guardian, February 11, 2002

[10] Jürgen Liminski, Aus dem Schatten der Moschee: Europas Bedrohung durch den islamischen Radikalismus, in: Das Parlament, Nr.3/4, 10./17.Januar 1992

[11] Bush Outlines New World Order, Economic Plans - Text: State of the Union Address, in: USIS, US Policy Information and Texts, 29.1.1992, p. 4

[12] US News and World Report, zit. nach: Der Spiegel, 1/1991, S. 107

[13] zit. nach: Seth P. Tillman, The United States in the Middle East - Interests and Obstacles, Bloomington 1982, S.46

[14] ebenda, S. 46

[15] FAZ, 14. Oktober 1992, S.14

[16] US Department of State, Patterns of Global Terrorism 2000, Appendix C: Statistical Review (Charts): Total International Terrorist Attacks, 1981-2000

[17] ebenda, Appendix C, Total International Attacks by Region, 1995-2000

[18] Deputy Chief, DCI Counterterrorist Center, Central Intelligence Agency, „International Terrorism: Challenge and Response; Rede vor dem World Affairs Council, Naples/Florida, zit. nach der Internet-Seite der CIA: www.cia.gov/cia/di/speeches/intlterr.html

[19] Siehe dazu: Jochen Hippler, Konflikte und Krisenprävention, in: Stiftung Entwicklung und Frieden, Globale Trends 2000: Fakten, Analysen, Prognosen, hrsg. von Ingomar Hauchler, Dirk Messner, Franz Nuscheler, Frankfurt 1999, S. 421-437; im Internet erreichbar über: http://www.jochen-hippler.de/Volltexte/volltexte.html

[20] die folgenden Abschnitte enthalten Passagen aus: Jochen Hippler, Terrorismus und Islam - Einordnung eines komplizierten Verhältnisses, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Dezember 2001, S. 710-717

[21] Text of Fatwa Urging Jihad Against Americans, published in Al-Quds al-Arabi, 23. Februar 1998, zit. nach Internet website: www.ict.org.il/articles/fatwah.htm

[22] siehe dazu: Jochen Hippler, Das Modell „Afghanistan Plus“ – Bündnistreue in Zeiten der Bekenntnispflicht: Bedingungslose Unterstützung für eine Politik der USA, die man noch gar nicht kennt, in: Freitag, 28. September  2001, S. 1

[23] Washington Post,

[24] siehe aus dem Jahr 1996 etwa: Christian Caryl, Is Putin Fomenting a Holy War?, in: New Statesman, May 1, 1996

[25] zu den politischen Problemen, die zum Teil aus dem militärischen Erfolg in Afghanistan erwachsen würden, bzw. von diesem nicht gelöst werden konnten: Jochen Hippler, Die Konzeptionslosigkeit wird sich langfristig rächen - Für stabile Strukturen in Afghanistan nach einem Sturz der Taliban fehlen verlässliche Akteure, in: Frankfurter Rundschau, 22. Oktober 2001, S. 6 (Dokumentationsseite)

[26] Michael Collins Dunn, Usama Bin Ladin: The Nature of the Challenge, in: Middle East Policy, Vol. 6, No. 2, October 1998, S. 24

[27] ebenda, S. 27

[28] Louis J. Freeh, Director, Federal Bureau of Investigation, Statement before the US-Senate Committees on Appropriations, Armed Services, and Select Committee on Intelligence, “Threat of Terrorism to the United States”, zit. nach der website des FBI: www.fbi.gov/congress01/freeh051001.htm

[29] zit. nach: Arthur L. Lowrie, The Campaign against Islam and American Foreign Policy, in: Middle East Policy, Vol. 4, No. ½, 1995, S. 213

[30] Regional Flashpoints Potential for Military Conflict - Excerpts: Clapper congressional testimony, in: USIS, US Policy Information and Texts, 23.1.1992, p.44

[31] Cheney Says Ignoring Iraq Would be Dire Error, in: USIS, US Policy Information and Texts, 12.9.1990, S.25f

[32] Shireen T. Hunter, Persian Gulf Security: Lessons of the Past and the Need for New Thinking, in: SAIS Review, Vol.12, No.1, Winter/Spring 1992, S. 156/157

[33] siehe dazu: Jochen Hippler, Die Konzeptionslosigkeit wird sich langfristig rächen - Für stabile Strukturen in Afghanistan nach einem Sturz der Taliban fehlen verläßliche Akteure, in: Frankfurter Rundschau, 22. Oktober 2001, S. 6  (Dokumentationsseite)

[34] Ashcroft Invokes Religion in U.S. War on Terrorism, in: Washington Post, 20. February 2002, p. 2

[35] Die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice im Interview mit dem arabischen Fernsehsender Al-Jazeera am 15. Oktober 2001, zit. nach der Presseerklärung der US-Botschaft in Indonesien vom 17.10.2001

[36] Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 192. Sitzung, 11. Oktober 2001, Plenarprotokoll, Seite 18678

[37] zitiert nach: taz vom 28.9.2001, S. 4

[38] zit. nach: Nina J. Easton, The Hawk – James Woolsey Wants Iraq’s Saddam Hussein Brought to Justice, in: Washington Post, 27. December 2001, p. C01; siehe auch: Michael Dobbs, Old Strategy on Iraq Sparks New Debate, in: Washington Post, 27. December 2001, p. A1

[39] Margaret Thatcher, Islamism is the New Bolshevism”, in: The Guardian, February 11, 2002

[40] Pentagon nennt den Irak als Ziel für Atomwaffenangriff, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. März 2002, S. 6

[41] ‘Rogue’ Nations Policy Builds on Clinton’s Lead, in: Washington Post, March 12, 2002, p. A4

[42] für eine etwas andere Sichtweise siehe: Arthur L. Lowrie, The Campaign against Islam and American Foreign Policy, in: Middle East Policy, Vol. 4, No. 1/2, 1995, S. 210ff