Jochen Hippler

 

Irak

 

 

1          Einleitung

Der Irak ist nach dem Krieg von 2003 ein Schlüsselstaat für die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens. So wie er früher durch seine für die Nachbarn bedrohliche Stärke das Gleichgewicht in Frage stellte, könnte dies heute durch seine interne Instabilität und die Welle der Gewalt geschehen, die das Land bis an den Rand eines Bürgerkrieges geführt haben. Zugleich wird die weitere Entwicklung im Irak mit über die zukünftige Position der USA in der Region entscheiden: Prinzipiell hat ihre Rolle als zuerst Besatzungs- und nun dominierende Macht im Irak ihren Einfluß dort weiter deutlich erhöht. Andererseits haben bestimmte Politiken (z.B. der Folterskandal von Abu Ghraib), aber auch die Unfähigkeit, die Sicherheitslage und den Wiederaufbau im Irak in den Griff zu bekommen, das Ansehen Washingtons schwer geschädigt und die Frage aufgeworfen, ob militärische Vorherrschaft allein ausreicht, eine fremde Region konstruktiv neu zu ordnen. Die Zukunft des Iraks selbst hängt heute vor allem davon ab, ob sich die Lebensumstände der Bevölkerung (wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Art) in absehbarer Zeit bessern werden und ob es gelingt, die verstärkten Widersprüche zwischen den politischen Parteien und Strömungen und ethno-religiösen Gruppen wieder zu vermindern und in einem integrativen politischen System zu überbrücken.

 

2          Historischer Überblick

Das Gebiet des heutigen Irak gehörte bis zu seinem Zusammenbruch im Ersten Weltkrieg zum Osmanischen Reich und wurde darin als eines der weniger entwickelten und ärmeren Landesteile betrachtet. Bei der Aufteilung der Konkursmasse des Osmanischen Reiches wurde der Irak unter einem Mandat des Völkerbundes britischer Verwaltung unterstellt. Zur Minimierung der eigenen Verwaltungskosten und aus politischen Gründen setzte London in Bagdad unter König Feisal eine haschemitische Monarchie ein und gewährte ein gewisses Maß an Autonomie, ohne dabei die Kontrolle über das Land aufzugeben. 1932 wurde der Irak unabhängig, wobei der bestimmende britische Einfluss weitgehend erhalten blieb.

Dieser wurde erst 1958 gebrochen, als ein militärischer Putsch sich zu einer sozialen Transformation ausweitete und den quasi-feudalen Charakter Iraks beseitigte. Das nächste Jahrzehnt war von einer dichten Folge weiterer Staatsstreiche und Gegenputsche gekennzeichnet, die alle unter zumindest rhetorisch nationalistischen und "revolutionären" Vorzeichen standen. 1968 gelangte die arabisch-nationalistische Baath-Partei durch einen Putsch gemeinsam mit nasseristischen Offizieren an die Macht, um nur kurz darauf gegen die nasseristischen Verbündeten erneut zu putschen und allein die Macht zu ergreifen. Von diesem Zeitpunkt bis zum Irakkrieg von 2003 wurde der Irak von der Baath-Partei regiert.

Die baathistische Regierung widmete sich sofort nach ihrem Machtantritt der Stabilisierung des Landes, wozu sie sich vier Hauptinstrumentarien bediente: der Repression ihrer Gegner, die in der Brutalität und Konsequenz deutlich über die der vorherigen Militärdiktaturen hinausging; der zeiteiligen, taktischen Kooptierung derjenigen politischen Kräfte, die zur direkten Zerschlagung noch zu stark erschienen, wobei zu einem späteren, günstigen Zeitpunkt ebenfalls auf Repression umgeschaltet wurde; der politischen und ideologischen Gleichschaltung der staatlichen, halbstaatlichen und gesellschaftlichen Organisationen (Militär, Verwaltung, ideologische Apparate); sowie Anstrengungen zur Entwicklung des Landes und seiner Infrastruktur sowie der einer wirksamen Sozialpolitik und gewisser Elemente eines sozialen Transfers. Dieser letzte Aspekt der Herrschaftssicherung, der eher integrativ und unter Nutzung ökonomischer Anreize funktionierte, wurde erst dadurch zu einem wirksamen Instrument, dass ab 1973 die staatlichen Ressourcen drastisch wuchsen: Das massive Steigen des Ölpreises traf mit der kurz zuvor erfolgten Verstaatlichung des Ölsektors zusammen, so dass die zusätzlichen Finanzmittel dem Staat zuflossen und das Verteilungs- und Investitionspotenzial entsprechend erhöhten. Das Bildungs- und Gesundheitswesen und die Infrastruktur wurden ab diesem Zeitpunkt besonders gefördert und entwickelt.

Das strategische Hauptziel der Baath-Regierung bestand insbesondere seit der Machtübernahme Saddam Husseins (Präsident von 1979-2003, aber bereits zuvor der starke Mann des Regimes) darin, den Irak zu einem mächtigen Land zu machen. Er sollte zur Vormacht am Golf und zur Führungsmacht der arabischen Welt werden und die Rolle des Hauptgegenspielers Israels spielen können.

Es ist bemerkenswert, mit welcher Konsequenz die irakische Führung diesen Zielen gefolgt ist. Zuerst wurden die innenpolitischen Voraussetzungen geschaffen - Stabilisierung, Ausschaltung jeder Opposition, Entwicklung von Wirtschaft und Infrastruktur. Parallel erfolgte eine massive Aufrüstung der Armee. Diese Voraussetzungen waren Ende der 70er Jahre weitgehend realisiert.

Der nächste Schritt folgte dann im September 1980. Der Irak begann den ersten Golfkrieg, indem er seine Armee in den Iran einmarschieren ließ. Dabei handelte es sich nicht, wie oft angenommen, um einen Grenzkonflikt, der um die Wasserstraße des Schatt-al-Arab geführt wurde. In Wirklichkeit war der Krieg ein Kampf um die Vorherrschaft am Golf. Die Situation schien günstig: Der Iran war durch seine islamische Revolution geschwächt und der Irak hoffte, ihn in einem Blitzkrieg niederwerfen zu können. Nach einer kurzen Offensive geriet der Angriff allerdings ins Stocken. Seit 1982 fand sich der Irak in der Defensive, und 1986 bestand sogar die Gefahr einer Niederlage. Der Irak verlegte sich immer mehr darauf, den größeren Umfang der iranischen Streitkräfte mit besonderen Rüstungsanstrengungen und dem Kauf von Waffen auszugleichen.

1988 gelang es dem Irak, aufgrund ungeheurer Anstrengungen und durch den Einkauf modernster Waffensysteme den Iran militärisch entscheidend zu schlagen. Fünf Siege vom März bis August 1988 zwangen den Iran, sich zum Waffenstillstand bereit zu erklären. Damit war der Irak zur regionalen Vormacht am Persischen Golf geworden. Wirtschaftlich allerdings stellte sich die Lange ausgesprochen schwierig dar: Der achtjährige Krieg forderte nicht nur hohe menschliche Opfer, sondern zerstörte große Teile der Wirtschaftskraft und Infrastruktur im Osten und Südosten des Landes. Darüber hinaus war der Krieg zum großen Teil auf Kredit finanziert worden, so dass der Irak nach Kriegsende hoch verschuldet war (schätzungsweise 60 Milliarden Dollar). Da zugleich in den achtziger Jahren die Ölpreise dramatisch gesunken waren, befand sich das Land in einer ökonomisch schwierigen Situation. In diesem Zusammenhang besetzte der Irak im August 1990 das ölreiche, kleine Nachbarland Kuwait (etwa ein Zehntel der weltweiten Ölvorkommen, größter Gläubiger des Irak, besserer Zugang zum Meer), was im Januar 1991 zum Zweiten Golfkrieg führte. Eine breite Staatenkoalition unter Führung der USA erzwang durch umfassende Sanktionen, einen Luft- und anschließenden kurzen Bodenkrieg den Abzug aus Kuwait, wobei man sich auf eine indirekte Ermächtigung zum Krieg (nicht einen direkten Kriegsbeschluss) durch den UNO-Sicherheitsrat stützen konnte.

Dieser Krieg führte zur kurzzeitigen innenpolitischen Schwächung der Diktatur, die allerdings bald überwunden wurde, während die bis 2003 andauernden von der UNO mandatierten Wirtschaftssanktionen das Land noch weiter ökonomisch zerrütteten und die Bevölkerung des einst reichen Ölstaates extremer Armut aussetzte. Das Bruttosozialprodukt sank bis 2002 auf rund 800 Dollar pro Kopf.

Nach dem Amtsantritt der Regierung von George W. Bush (2001) und insbesondere den Terroranschlägen des 11. September 2001 – mit denen der Irak nichts zu tun hatte - verschärfte sich das ohnehin dauerhaft gespannte Klima zwischen den USA und dem Irak. Während bereits unter der Präsidentschaft Clintons immer wieder begrenzte Luftangriffe auf irakische Einrichtungen geflogen worden waren, eskalierte die Bush-Administration den Streit um angebliche (aber nicht mehr existierende) irakische Massenvernichtungswaffen bis zum Krieg (März 2003). Dieser erfolgte ohne Mandatierung durch die UNO und diente primär einem – völkerrechtswidrigen – Regimewechsel und dem Machtgewinn der USA am Persischen Golf durch Kontrolle des Irak, während die Frage der vorgeblichen Massenvernichtungswaffen nur zum Vorwand genommen wurde.

Das irakische Militär brach in Folge des massiven Luftkrieges schnell zusammen und leistete nur geringen Widerstand gegen die vorrückenden US-Truppen und ihre britischen Verbündeten. Die Einnahme Bagdads führte zum Sturz der langjährigen Diktatur Saddam Husseins, der von der irakischen Bevölkerung zugleich mit Freude, als auch voller Misstrauen gegen Washington aufgenommen wurde. Der irakische Staatsapparat löste sich überwiegend in den letzten Kriegstagen selbst auf, seine Reste wurden von der US-Militärbesatzung zügig liquidiert. Damit wurde ein neuer Staatsbildungsprozess nach Kriegsende zur zentralen politischen Notwendigkeit, um interne Stabilität, Sicherheit, Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung zu gewährleisten.

 

3          Politisches System

Im Juni 2004 kam es zur offiziellen Übertragung der staatlichen Souveränität von den Besatzungsbehörden auf eine irakische Provisorische Regierung, die (unter Beteiligung der UNO und nach längeren Gesprächs- und Verhandlungsprozessen mit irakischen Politikern und Parteien) von der Besatzung eingesetzt wurde. Aufgrund der Schwäche dieser Regierung und der Präsenz von bis zu 160.000 US-Soldaten bedeutete dieser Schritt zwar eine deutliche Ausweitung irakischen Einflusses, aber keine tatsächliche Souveränität. Selbst über ein Vetorecht über militärische Operationen der ausländischen Streitkräfte im eigenen Land verfügt diese (nicht länger nur provisorische) „souveräne“ Regierung bis heute nicht.

Im Zuge des Prozesses der Bildung irakischer staatlicher Institutionen wurde Ende Juni 2004 die Zivilverwaltung der Besatzung (Coalition Provisional Authority, CPA, unter Paul Bremer) aufgelöst, zahlreiche ihrer Funktionen allerdings seitdem von der US-Botschaft (zuerst unter Botschafter John Negroponte, seit Juli 2005 Zalmay Khalilzad, mit rund 1.100 Mitarbeitern) wahrgenommen. Der US-Botschafter blieb neben dem US-Militär der vermutlich wichtigste Machtfaktor im Irak, was sich unter anderem an seiner aktiven Rolle beim Verfassungsprozess zeigte. Neben der US-Botschaft bestanden weiter von den USA kontrollierte Behörden im Irak, die Einfluss auf dessen Entwicklung nahmen. Die provisorische Zivilverwaltung der Besatzung stellte vor ihrer Auflösung unter anderem noch sicher, dass US-Militär- und teilweise Zivilpersonal Immunität vor jeder Strafverfolgung durch spätere irakische Behörden erhielten.

Ende Januar 2005 wurde eine provisorische irakische Nationalversammlung gewählt, die im April den kurdischen Parteiführer Jalal Talabani zum Staatspräsidenten wählte und etwas später nach längerem Tauziehen eine Übergangsregierung bildete. Im Oktober 2005 fand eine Volksabstimmung über einen Verfassungsentwurf statt, und im Dezember 2005 kam es auf dieser Grundlage zur Wahl eines Parlaments, das im März 2006 die Provisorische Nationalversammlung ablöste. Im Mai 2006 wurde der vom Parlament gewählte Nouri al-Maliki von der schiitisch-islamistischen Dawa-Partei Regierungschef.

Ein Schlüsselproblem des Verfassungsprozesses bestand in der Frage, wie zentralistisch oder föderalistisch der neue irakische Staat strukturiert sein sollte. Während bei den arabischen (insbesondere sunnitischen) Parteien eine zentralstaatliche Verfassung favorisiert wurde, setzten die kurdischen Parteien durch massiven Druck eine föderale Lösung durch. Jeweils drei Provinzen erhielten weitgehende Einspruchsrechte gegenüber zentralstaatlichen Entscheidungen und die Möglichkeit weitreichender Autonomie. Da es drei kurdisch geprägte Provinzen gibt, verfügt die frühere kurdische Autonomiezone damit über eine faktische Absicherung ihrer Stellung, zugleich wird aber die Option eröffnet, dass auch andere Landesteile (etwa im schiitisch geprägten Süden) ihren regionalen Einfluß stärken.

Die Bildung neuer Staatlichkeit unter Nachkriegsbedingungen und das Paradigma der Ent-Baathisierung führten zuerst – bis etwa zum Sommer 2005 – zu einer Entfremdung der sunnitischen Araber vom politischen Prozess, die sich in deren Boykott der ersten Wahl und des Verfassungsreferendums niederschlug. Danach kam es zu einem Überdenken des Fernbleibens vom politischen Prozess durch die Sunniten, da sie dadurch im Übergangsparlament und im Kontext des Verfassungsprozesses unterrepräsentiert blieben. Deshalb beteiligten sich verschiedene sunnitisch-arabische Parteien (überwiegend, aber nicht nur religiöser Ausrichtung) an den Parlamentswahlen vom Dezember 2005. Von 275 Parlamentssitzen – bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent – gewann die schiitisch-religiös geprägte „Vereinigte Irakische Allianz“ 128 Sitze, die säkularen kurdischen Parteien und ihre Verbündeten 53, und die sunnitisch-religiösen Parteien (unter den Namen „Irakische Harmoniefront“ und „Irakische Front für Nationalen Dialog“) 44 bzw. elf Sitze, während die arabisch-säkulare „Nationale Irakische Liste“ (Sunniten und Schiiten) 25 Sitze erzielte. Damit waren die religiös-sunnitischen Parteien mit insgesamt 55 Mandaten knapp stärker als die kurdischen Parteien, was in etwa der demographischen Stärke der Bevölkerungsgruppen entspricht und den Eintritt der Sunniten in den politischen Prozess signalisierte. Ob der Prozess sich allerdings fortsetzen wird, und die Sunniten sich völlig in das neue politische System integrieren werden, ist weiter offen. Sollte dies gelingen, könnte sich so mittelfristig eine Chance auf ein Ende des sunnitischen Aufstandes eröffnen.

 

4          Bevölkerungsstruktur

Im Irak leben rund 28 Millionen Einwohner (geschätzt, 2006), davon sind rund 40 Prozent Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 14 Jahren. Das Bevölkerungswachstum liegt bei geschätzten 2,66 Prozent (2006), die Lebenserwartung bei 69 Jahren. Die Analphabetenrate dürfte insgesamt bei etwa 60, bei Frauen bei rund 75 Prozent liegen.

Wie fast alle Länder der Welt ist auch der Irak ethnisch nicht homogen. Seine Bevölkerung ist zu knapp 80 Prozent arabisch, knapp 20 Prozent kurdisch. Unter 5 Prozent gehören kleineren Bevölkerungsgruppen an, sind etwa Turkmenen oder Assyrer. Neben diesen „nationalen“ bzw. sprachlichen Unterschieden bestehen religiöse: Rund 60 Prozent der Bevölkerung sind schiitisch, weniger als 3 Prozent sind Christen oder gehören kleinen Religionsgemeinschaften wie den Yeziden an, die restlichen 35-40 Prozent sind Sunniten. Dabei sind nationale/sprachliche und religiöse Gemeinschaften nicht deckungsgleich: Die arabische Bevölkerungsgruppe ist zwar überwiegend schiitisch, aber rund ein Viertel der Araber sind Sunniten. Die Kurden sind sehr überwiegend Sunniten – außer einige hunderttausend schiitische Kurden im Großraum Bagdad (die Faili-Kurden).

Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Gruppenzugehörigkeiten nicht unbedingt überall im gleichen Maße im Zentrum der Selbstzurechnung stehen. So betrachten sich die irakischen Kurden selten primär als Sunniten oder Schiiten, sondern als nationale Gruppe. Religiöser Extremismus fehlt bei ihnen nicht völlig, ist aber vergleichsweise gering. Umgekehrt setzen die meisten irakischen Araber in ihrem Land das Arabische als quasi selbstverständlich voraus (wenn auch unzutreffenderweise) und betonen in den letzten Jahren zunehmend ihre religiöse Konfession zu Selbstdefinition. Andererseits gibt es auch in allen religiösen Lagern – und nicht nur bei den Kurden, die dafür am bekanntesten sind – relevante säkulare Strömungen, die sich vor allem politisch und nicht religiös definieren.

Nach Ende der Diktatur Saddam Husseins existierte aufgrund der vorherigen Repression kaum eine irakische Zivilgesellschaft, wenn wir von religiösen Netzwerken und Stämmen absehen. Im baathistischen Irak war die Gesellschaft im Wesentlichen politisch gleichgeschaltet, unabhängige politische Betätigung oder Interessenvertretung außerhalb des staatlich kontrollierten Rahmens unmöglich. Nur in den im Norden bzw. Nordosten gelegenen kurdischen Autonomiegebieten herrschte seit dem Ende des Zweiten Golfkrieges (1991) ein politischer Spielraum. Dort regierten die beiden kurdischen Parteien KDP und PUK in Konkurrenz zueinander zwei kleine autonome Regionen, wodurch sie organisatorisch und militärisch gut verankert waren und außerhalb der Macht der Zentralregierung blieben. Schiitische Parteien religiösen Charakters – SCIRI und Dawa - bestanden im iranischen Exil, so dass sie nach Kriegsende 2003 Positionsvorteile genossen. Andere Parteien (wie die früher mächtige Kommunistische Partei) waren sehr schwach oder wurden als künstliche Gebilde in Großbritannien oder den USA mit vor allem US-Regierungsgeldern am Leben gehalten, verfügten aber über keine Basis im Irak.

Nach Kriegsende kam es zur schnellen Gründung zahlreicher neuer, überwiegend kleiner oder bedeutungsloser Parteien. So kandidierten bei der Parlamentswahl vom Dezember 2005 insgesamt 7.200 Kandidaten auf 111 Listen. Dabei handelt es sich um 75 Parteien, neun Wahlbündnisse und 27 Einzelkandidaten. Umfragen weisen darauf hin, dass trotz der relativ hohen Wahlbeteiligung sämtliche Parteien in der Bevölkerung mit Misstrauen, Gleichgültigkeit oder Ablehnung konfrontiert sind, und dass sie nicht als wirklich repräsentativ wahrgenommen werden.

 

5          Wirtschaftliche Entwicklung

Die Zukunft des Irak entscheidet sich durch das Zusammenspiel der drei Faktorenbündel Sicherheitslage, wirtschaftlicher Wiederaufbau und Entwicklung und politischer Aufbau. Letztlich entscheidend dürfte dabei die Entstehung eines funktionierenden, sozial und ethnisch-religiös integrativen politischen Gesamtsystems sein, dessen Gelingen allerdings zum großen Teil von der Sicherheitslage und der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt. Die drei Faktorenbündel wirken jeweils aufeinander zurück: Ohne ein wirksames politisches System werden weder die wirtschaftlichen noch die Sicherheitsprobleme lösbar sein, ohne wirtschaftlichen Erfolg müssen die politische Entwicklung wie die Herstellung von Sicherheit fraglich bleiben, und ohne Sicherheit kann es weder wirtschaftliche Entwicklung noch vertrauensvolle politische Zusammenarbeit geben.

Im Bereich des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der Entwicklung steht der Irak in der ersten Jahreshälfte 2006 ebenfalls vor weit größeren Schwierigkeiten, als die meisten Beobachter – und die US-Regierung – dies direkt nach dem Sturz Saddam Husseins erwartet hatten. Insgesamt ergibt sich eine ausgesprochen widersprüchliche Bilanz, in der die Probleme überwiegen.

Einerseits gelang im Oktober 2003 eine erfolgreiche Währungsreform, was alles andere als selbstverständlich war. Der neue irakische Dinar hat sich bisher als durchaus stabil erwiesen (zwischen 1470 und 1480 Dinar für einen Dollar), was als Erfolg verbucht werden kann. Auch die Aufhebung der UNO-Wirtschaftssanktionen stellte eine wirtschaftliche Entlastung dar. Außerdem gelang es durch beträchtliche Transferzahlungen aus dem Ausland (US- und internationale Unterstützung), das Konsumniveau für größere Sektoren der Bevölkerung zu heben, was vor allem durch Lohn- und Gehaltserhöhungen relativ schnell erreicht wurde. Darüber hinaus waren im Januar 2006 fast 120.000 Iraker bei US-Einrichtungen beschäftigt.[1] Die Arbeitslosenrate zu Beginn des Jahres 2006 lag trotzdem weiter bei geschätzten 25-40 Prozent. Das Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf war von 2002 auf 2003 kriegsbedingt von 802 auf 518 US-Dollar gesunken, wobei auch die Vorkriegszahl aufgrund von mehr als einem Jahrzehnt der internationalen Wirtschaftssanktionen und Misswirtschaft bereits katastrophal niedrig war. 2004 erreichte das BSP pro Kopf 942 Dollar, 2005 vermutlich 1.051 Dollar. Auch wenn man den niedrigen Ausgangspunkt und Inflationsraten von 20 bis über 30 Prozent berücksichtigt, so ist doch eine positive Tendenz erkennbar. Allerdings bleibt das Pro-Kopf-BSP sowohl absolut, erst recht aber im Vergleich mit den Nachbarn - oder anderen Ölländern - schockierend gering, insbesondere, wenn man eine Reduzierung des Wachstums im Jahr 2005 auf unter vier Prozent berücksichtigt.[2] Insgesamt muss festgestellt werden, dass ein selbsttragender Wirtschaftsaufschwung noch nicht in Sicht ist. Dafür gibt es mindestens vier Gründe:

Einmal erwies sich die Wirtschaftspolitik im ersten Jahr nach dem Sturz Saddams durch die CPA als höchst improvisiert, sogar hilflos. Sie pendelte zwischen ideologisch bedingten Versuchen, durch radikale Liberalisierung und Privatisierung und die Freisetzung von Marktkräften die irakische Ökonomie umzugestalten (was auch völkerrechtlich fragwürdig ist, da dies nicht in die Kompetenz von Besatzungsmächten fällt) und einem pragmatischen trial-and-error, so dass keine wirtschaftspolitische Linie erkennbar wurde.

Zweitens fehlten einer erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung entscheidende infrastrukturelle Voraussetzungen: Ohne zuverlässige Strom- und Wasserversorgung kann eine Ökonomie sich kaum dynamisch entfalten. Und die Infrastruktur blieb katastrophal schlecht. Selbst 2005 gab es im Land durchschnittlich nur 9,3 Stunden elektrischen Strom pro Tag, in Bagdad gar nur 5,1 Stunden pro Tag.[3]

Drittens stellte die Sicherheitslage eine schwere Belastung der ökonomischen Entwicklung dar: Ausländische Firmen zögerten, sich am Wiederaufbau zu beteiligen oder sahen sich gezwungen, ihre Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen aus dem Irak abzuziehen, und die Kosten von Sicherheitsmaßnahmen von Projekten konnten sich durchaus im Bereich von 20-30 Prozent der gesamten Projektkosten bewegen. Zusätzlich kam es immer wieder zu Anschlägen und Sabotage gegen wirtschaftliche Projekte oder die Infrastruktur.

Und viertens gelang der Wiederaufbau des Ölsektors, insbesondere der Ölexporte nur sehr ungenügend, wozu auch die Anschläge maßgeblich beitrugen. Zwar wurde das – bereits geringe – Vorkriegsniveau der Ölproduktion von 2,5 Millionen barrel pro Tag im Herbst 2004 kurzzeitig wieder erreicht, womit man dem Ziel einer Förderung von drei Millionen barrel für Ende 2004 näher zu kommen schien. Aber aufgrund der zunehmenden Anschläge und Sabotageakte lag die durchschnittliche Förderung im Jahr 2005 bei durchschnittlich nur 1,83 Millionen barrel, ging also gegenüber dem Jahresende 2004 deutlich zurück. Am Jahresende 2005 wurden nur noch 1,57 Millionen barrel produziert, zu Beginn des Jahres 2006 lag die Produktion noch niedriger. Besonders schwer wurde der Export getroffen: Gerade die entscheidende Pipeline von Kirkuk nach Ceyhan (Türkei) wurde immer wieder zum Ziel von Anschlägen. Vom Sturz Saddams im März 2003 bis zum Januar 2006 kam es allein zu etwa 300 Anschlägen auf diese Pipeline. Während über sie vor dem Krieg rund 800.000 barrel pro Tag exportiert wurden, fiel diese Menge 2005 auf nur noch ein Zwanzigstel.[4] Da die Pipelines nach Syrien seit 2003 und die nach Saudi Arabien seit 1991 geschlossen sind, ist diese Exportmöglichkeit neben der Pipeline über Basra von strategischer Bedeutung. Die Schwierigkeiten bei der Ölproduktion und vor allem dem Export wurden zum Teil durch die hohen Ölpreise kompensiert, stellten aber insgesamt eine schwere Belastung der gesamten Wirtschaftsentwicklung und der staatlichen Finanzen dar, da der Irak wirtschaftlich fast völlig vom Ölsektor abhängig ist.

 

6          Aktuelle Situation

Im Jahr 2006 stellt sich die zukünftige Entwicklung des Irak offen und widersprüchlich dar. Einerseits sind beim Aufbau eines neuen staatlichen Systems deutliche Fortschritte zu verzeichnen: Zwar verfügen die USA weiter über beträchtliches politisches (und militärisches) Gewicht in der irakischen Innenpolitik, aber inzwischen sind eigenständige irakische politische Institutionen entstanden, die zumindest formal die Verantwortung für den Irak übernommen haben. Der Verfassungsprozess samt Referendum, Wahlen zu einem Parlament und die Bildung einer Regierung sind – wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten - abgeschlossen.

Neben der prekären wirtschaftlichen Situation stellt sich insbesondere die Sicherheitslage problematisch dar, deren Kontrolle ja eine Voraussetzung für die Lösung der politischen und ökonomischen Schwierigkeiten darstellt. Die – damals noch eher gering dimensionierten – gewaltsamen Widerstandsakte gegen die US-Besatzungstruppen begannen im Sommer 2003, weiteten sich allerdings schnell aus und verschoben sich immer mehr gegen irakische Ziele und die Infrastruktur. Im Jahr 2005 nahm die Zahl der Anschläge und Sabotageakte durch Aufständische deutlich zu. Ihre Summe erhöhte sich von 26.496 im Jahr 2004 auf 34.131 in 2005. Dabei kam es zu einem leichten Sinken der Zahl der getöteten US-Soldaten (von 714 auf 673) und einem deutlichen Rückgang der US-Verwundeten (7.990 auf 5.639)[5], während sich die Verluste der irakischen Sicherheitskräfte deutlich erhöhten. Dies dürfte an zwei Entwicklungen gelegen haben: Einmal operierten die US-Truppen in 2005 zurückhaltender als im Vorjahr (so gab es z.B. keine große Militäroperation gegen eine Stadt, wie in Falludscha im November 2004, mit relativ hohen eigenen Opferzahlen) und das US-Militär bemühte sich, die Aufrechterhaltung der Sicherheit zunehmend auf irakische Einheiten zu übertragen. Darüber hinaus scheinen die Aufständischen ihre Angriffe verstärkt auf die irakischen Sicherheitskräfte zu verlagern, da diese leichter zu treffen sind. Die US-Regierung stellte allerdings fest, dass zwar 80 Prozent aller Angriffe auf Ziele der „Multinationalen Koalition“ (also die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten) erfolgten, 80 Prozent aller Opfer aber irakisch seien.[6]

Cordesman schätzt, dass 2005 deutlich über 2.700 irakische Regierungsbeamte, Polizisten und Soldaten getötet wurden. Auch die Taktik der Aufständischen änderte sich, indem sich etwa die Zahl der Autobomben gegenüber dem Vorjahr auf 873 mehr als verdoppelte und die Zahl der Selbstmordattentate (durch Autofahrer oder Träger von Bombengürteln) von 140 auf 478 stieg.[7] Insgesamt ist deutlich, dass zwar die Zahl an US-Opfern 2005 leicht zurückgegangen war, die Sicherheitslage sich allerdings deutlich verschärft hatte.

Ein weiteres Schlüsselproblem besteht im Verhältnis der ethno-religiösen und sprachlichen Gruppen zueinander bzw. der internen Konkurrenzen innerhalb dieser Gruppen. Die kurdische Politik hält sich weiterhin die Option eines Ausbaus der Autonomie zur staatlichen Unabhängigkeit offen, was die Machtgleichgewichte in einem verbleibenden Rumpfirak aus den Fugen bringen würde. Das Verhältnis der sunnitischen und schiitischen arabischen Bevölkerungsgruppen bleibt prekär und von widersprüchlichen Tendenzen geprägt: Während einerseits – wie erwähnt – die sunnitischen Araber heute zumindest teilweise in den politischen Prozeß integriert sind, hat die Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten doch massiv zugenommen. Eine Lösung dieses Problems ist nicht in Sicht. Und schließlich ist mittel- und langfristig nicht auszuschließen, daß auch innerhalb der schiitischen Bevölkerungsgruppe die Konflikte zunehmen und dies neue Gewaltpotenziale schafft. So hat die politische und militärische Bedeutung der radikalen Bewegung des schiitischen Predigers Muqtadar Sadr hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

Insbesondere 2006 ließen sich dann auch Tendenzen feststellen, die zunehmend in Richtung eines Bürgerkrieges deuteten. Die aus dem Ausland eingesickerten jihadistischen Kämpfer (arabische Sunniten, insbesondere um den Jordanier Zarqawi) hatten ihre Angriffe von Beginn an nicht allein gegen die fremden Militäreinheiten und ihre irakischen Partner gerichtet, sondern auch gegen schiitischen Zivilisten und schiitische Moscheen. Ihr politisches Ziel bestand in der Auslösung einer gewaltsamen Konfrontation zwischen Sunniten und Schiiten, die einerseits ideologische Gründe hatte, aber auch die irakische Regierung schwächen sollte. Diese Strategie trug in den zwei oder drei ersten Jahren nach dem Sturz Saddam Husseins kaum Früchte, 2005 und vor allem 2006 nahm die inter-religiöse Gewalt (eigentlich die zwischen sunnitischen und schiitischen Arabern, die nicht unbedingt religiöse sein müssen) deutlich zu und erreichte teilweise bürgerkriegsähnliche Ausmaße. Ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht in Sicht, was die politische und wirtschaftliche Entwicklung schwer belastet.

 

 

Fußnoten

[1] US Department of State, Bureau of Near Eastern Affairs: Iraq Weekly Status Report, Washington, February 1, 2006, S. 16.
[2] Measuring Stability and Security in Iraq October 2005, Report to Congress (durch das US-Verteidigungsministerium, JH) in accordance with Conference Report 109-72, Emergency Supplemental Appropriations Act, Washington 2005, S. 11.
[3] US Department of State, Bureau of Near Eastern Affairs: Iraq Weekly Status Report, Washington, February 1, 2006, S. 11.
[4] Anthony H. Cordesman: Iraq’s Evolving Insurgency: The Nature of Attacks and Patterns and Cycles in the Conflict, CSIS, Washington, Working Draft, Revised: February 3, 2006, S. III.
[5] Anthony H. Cordesman: a.a.O., S. II
[6] Measuring Stability and Security in Iraq October 2005, Report to Congress (durch die US-Regierung, JH) in accordance with Conference Report 109-72, Emergency Supplemental Appropriations Act, Washington 2005, S. 23.
[7] Anthony H. Cordesman: a.a.O., S. II

Literaturauswahl:

·         Tariq Ali: Bush in Babylon. Die Re-Kolonisierung des Irak. 2005
·         Henner Fürtig: Kleine Geschichte des Irak. Von der Gründung 1921 bis zur Gegenwart. 2003
·         Kai Hafez, Birgit Schäbler, Der Irak. Ein Land zwischen Krieg und Frieden. 2003
·         Jochen Hippler: Der Irak zwischen Dauerkrise, Bürgerkrieg und Stabilisierung, in: Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Corinna Hauswedell, Jochen Hippler, Ulrich Ratsch (Hrsg.), Friedensgutachten 2006, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), u.a., Münster 2006, S. 121-130
·         Jochen Hippler: Vom Krieg zum Bürgerkrieg im Irak? - Probleme, Lehren und Perspektiven des Wiederaufbaus, in: Streitkräfteamt der Bundeswehr, Reader Sicherheitspolitik, Ergänzungslieferung 04/2005, Nr. III/1 A, S. 194-200
·         Jochen Hippler: Militärische Besatzung als Schöpfungsakt – Nation-Building im Irak, in: derselbe (Hrsg.), Nation-Building – ein sinnvolles Instrument der Konfliktbearbeitung?, Dietz Verlag (Bonn), Reihe Eine Welt der Stiftung für Entwicklung und Frieden, 2004, S. 121-140
·         Jochen Hippler: Der Weg in den Krieg – Washingtons Außenpolitik und der Irak, in: Friedensgutachten 2003, hrsg. von Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Ulrich Rasch, Christoph Weller, für das Institut für Friedenspolitik und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (ISFH), die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Bonn International Center for Conversion (BICC) und Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Juni 2003, S. 89-98
·         Hans J. Nissen, Peter Heine: Von Mesopotamien zum Irak. Kleine Geschichten eines alten Landes. 2003
·         Peter Sluglett, u. a.:Der Irak seit 1958: Von der Revolution zur Diktatur. 1999

Quelle:

Jochen Hippler
Irak
in: Walter M. Weiss (Hrsg.), Die arabischen Staaten – Geschichte, Politik, Religion, Gesellschaft, Wirtschaft,
Heidelberg 2007