Jochen Hippler

Nationalstaaten aus der Retorte? -

Nation-Building zwischen Entwicklungspolitik, militärischer Intervention und Krisenprävention

 

Einleitung

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes haben sich die Strukturen des Internationalen Systems und die außen-, entwicklungs- und sicherheitspolitischen Diskurse deutlich verschoben. An die Stelle der Debatten über eine wechselseitige „Abschreckung“ der beiden globalen Machtzentren, eines nuklearen Gleichgewichts der Supermächte oder regionaler „Stellvertreterkriege“ traten neue Begriffe wie „failed states“, „kleine Kriege“, „neue Bedrohungen“, trat die Angst vor neuen Konfliktformen, die von Staatszerfall, gesellschaftlicher Fragmentierung und ethnischen oder religiösen Auseinandersetzungen gekennzeichnet seien. Nicht mehr die militärische Stärke eines Gegners, sondern die Schwäche gesellschaftlicher und politischer Strukturen sei das Hauptproblem, das in Zukunft zu „asymmetrischen Konflikten“ führen werde. Dieser militär- und sicherheitspolitische Diskurs mündete in einen „erweiterten Sicherheitsbegriff“, der soziale, ökonomische, politische und andere Faktoren einbezog und zum Scharnier der außen- und entwicklungspolitischen Debatten wurde. Dort hatte sich – zumindest in Europa, in geringerem Maße in den USA – ein Diskussionsstrang entwickelt, der den Sicherheitsbegriff ebenfalls entwicklungs- und außenpolitisch erweiterte und auf Krisenprävention und Konfliktbearbeitung fokussierte (Hippler 2003).

Die außenpolitischen Diskussionen wurden seit Ende des Ost-West-Konfliktes neben dem Auflösungs- und Neustrukturierungsprozess in der Region des ehemaligen Ostblocks vor allem von einer Reihe von Regionalkonflikten bestimmt, von denen der Irak (Golfkrieg 1991, Irakkrieg 2003), Somalia, die Auflösungskriege des ehemaligen Jugoslawiens, Afghanistan und die Kriege und Gewaltexzesse in Afrika (Ruanda, Burundi, Kongo, Liberia und andere) besonders hervortraten. Viele dieser Kriege und Konflikte wären noch wenige Jahre zuvor unter dem Gesichtspunkt des Kalten Krieges als „Stellvertreterkriege“ wahrgenommen worden, wie dies noch in den 1980er Jahren in Mittelamerika geschehen war.

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre verschob sich die Perspektive, und die internen Konfliktursachen gerieten stärker ins Blickfeld. Neben anderen Konzepten ließ sich seitdem der Begriff „Nation-Building“ insbesondere in der angelsächsischen Debatte zunehmen häufig beobachten. Dies war in der politischen Diskussion zu bemerken, etwa durch Persönlichkeiten wie Alexander Haig, Senator Bob Kerry oder UN-Generalsekretär Boutros-Ghali (Haig 1994, Kerry 1994, UN-Chronicle 1994), im Journalismus und den Medien - wie in Newsweek oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Newsweek 1994, Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1994), oder in der wissenschaftlichen Analyse, wie etwa durch Arbeiten wie die von Eriksen (1993) oder Lenhart (1992). Zu Beginn wurde häufig auch über Prozesse und Probleme von Nation-Building oder deren Scheitern diskutiert, der Begriff aber vermieden. Umgekehrt ist seitdem zu beobachten, dass Nation-Building als Begriff wieder zunehmend prominent benutzt, aber überhaupt nicht ausgeführt oder theoretisch bearbeitet wird. Frühe Beispiele sind Arbeiten von Muscat (1990), Randall (1993), Kuah (1991) oder anderer.

Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat sich der Begriff Nation-Building auf breiter Front durchgesetzt, ist inzwischen zum selbstverständlichen Bestandteil der politischen wie wissenschaftlichen Debatte geworden. Die Erfahrungen der internationalen Gemeinschaft in Ländern wie Somalia, auf dem Balkan, in Afghanistan und dem Irak haben den Blick dafür geschärft, dass Staatszerfall und die Fragmentierung von Gesellschaften Gewaltkonflikte entweder auslösen oder unlösbar werden lassen können. Solche Situationen können wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung längerfristig zum Scheitern bringen, große humanitäre Katastrophen nach sich ziehen, ganze Regionen destabilisieren und potentiell sogar zu Quellen eines transnationalen Terrorismus werden – insgesamt also auch weit entfernte Länder berühren und westliche Politikziele in Frage stellen. Vor allem in diesen Zusammenhängen wird Nation-Building international diskutiert: entweder als präventive Politikoption zur Vermeidung von Staatszerfall und gesellschaftlicher Fragmentierung, als Alternative zu militärischer Konfliktbearbeitung, als Bestandteil militärischer Interventionen, oder als Element der Konfliktnachsorge. Eine so verstandene Politik des Nation-Building bildet danach ein Scharnier zwischen Außen-, Entwicklungs- und Militärpolitik, das Gewaltkonflikten vorbeugen oder sie bearbeiten, lokale und regional Stabilität erreichen und Entwicklung ermöglichen soll.

Nation-Building ist aber weder einfach noch problemlos. Die Chancen, dieses Ziel von außen zu erreichen, werden sehr unterschiedlich, oft skeptisch beurteilt, die Wege und Instrumente zum Erfolg sind häufig unklar, und ob der zeitliche und finanzielle Aufwand durch externe Akteure lange genug durchgehalten werden kann, ist nicht selten fraglich. Ein externes Nation-Building kann die fremden Akteure in lokale Machtkämpfe hineinziehen, aus denen man schwer wieder herausfindet. Auch Fragen der Legalität sind oft schwierig zu beantworten, da das Einmischungsverbot der UNO-Charta zwar oft missachtet wird, aber weiter mit gutem Grund besteht. Und schließlich ist Nation-Building alles andere als klar definiert, wird häufig unklar oder widersprüchlich benutzt, und oft ist nicht klar, was der Begriff eigentlich tatsächlich bedeuten soll.

 

Nation-Building: frühere Diskussionen

Nation-Building ist ein alter Begriff, der bereits eine Zeit der Blüte und eine des Niedergangs erlebte. Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren war Nation-Building schon einmal ein Schlüsselkonzept der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Damals stand er in einem engen Kontext mit den in diesen Jahren modischen Modernisierungstheorien, die den Entwicklungsprozess in der Dritten Welt vor allem als ein Nachholen westlicher Modelle begreifen wollten. Gesellschaften sollten „modernisiert“, also strukturell den Industriestaaten angepasst werden: aus „traditionellen“ oder „tribalen“ Gesellschaften müßten „moderne“ Nationalstaaten werden, wobei das europäische Modell implizit oder explizit als Ziel gedacht wurde.

Die Nationalität und der Nationalstaat waren Grundkategorien. Wirtschaftliche und politische Entwicklung sei nur in diesem Rahmen Erfolg versprechend. Rivkin formulierte auf Afrika bezogen: „Nation-building and economic development … are twin goals and intimately related tasks, sharing many of the same problems, confronting many of the same challenges, and interrelating at many levels of public policy and practice.“ (Rivkin 1969: 156)

Wirtschaftliche Entwicklung setze Marktwirtschaft, politische Entwicklung den Nationalstaat voraus. Politische Entwicklung als Bestandteil oder Voraussetzung wirtschaftlicher wurde damit vor allem als Nation-Building Prozess betrachtet. Beides zusammen, die Durchsetzung des Marktmechanismus und die des Nationalstaates, wurden als eng verknüpft und als „Modernisierung“ betrachtet.

Es ist offensichtlich, dass diese Sichtweise einer Identifizierung von „Entwicklung“, Modernisierung, Nationalstaat und Nation-Building westlich-europäische Erfahrungen eher schematisch auf die Dritte Welt übertrug. In einigen Fällen wurden sogar explizit westliche Staatsbildungsprozesse neu aufgearbeitet, um Lehren für Nation-Building in der Dritten Welt zu ziehen (etwa Lipset 1963).

Zugleich fand Nation-Building in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts auch im Kontext des Ost-West-Konfliktes statt und bildete ein westliches Strategem zur Einhegung des Sozialismus und der Sowjetunion in der Dritten Welt. Wie andere Konzepte sollte es eine Alternative zum Sieg von Befreiungsbewegungen und zur „Revolution“ darstellen. Rückblickend formulierte dies der Chef der US-Entwicklungsbehörde USAID, Brian Atwood, folgendermaßen:

„Thirty years ago, nation building was largely a postcolonial phenomenon, an ambitious program to help newly independent countries acquire the institutions, infrastructure, economy, and social cohesion of more advanced nations. Nation building was a strategic and competitive enterprise, part of the Cold War competition between the United States and the Soviet Union. In this environment, the success or failure of less-developed nations was measured only partly by whether the lives of citizens improved; how individual governments aligned themselves with the superpowers also figured prominently in judgments of ‘success’ and ‘failure’.“ (Atwood 1994:    )

Der Nation-Building Begriff geriet im Verlauf der 1970er Jahren fast in Vergessenheit: durch seine ständige Betonung im Vietnamkrieg, seine Verbindung mit militärischen Strategien und seine konzeptionelle Verknüpfung mit ausgesprochen brutalen Politikformen einer „Pazifizierung“ des Landes kompromittiert, kam er politisch und akademisch aus der Mode. Erst eine knappe Generation später kam er – wie erwähnt – erneut zu Ehren, indem er zuerst eher zufällig, dann aber auch systematisch im Kontext komplexer Gewaltkonflikte wieder belebt wurde, vor allem, wenn diese starke ethnische Dimensionen oder Elemente des Staatszerfalls aufwiesen.

 

Klärung des Begriffs

Heute wird der Begriff des Nation-Building weiterhin ausgesprochen vage und widersprüchlich verwandt. Vereinfachend können wir Begriffsverwendungen unterscheiden, die entweder auf den realen Ablauf, die Beschreibung oder Analyse (vergangener oder gegenwärtiger) historisch-gesellschaftlicher Prozesse abzielen, oder normativ orientiert sind und ein Zielsystem bzw. politische Strategien ins Zentrum rücken. Beides wird sich im Sprachgebrauch häufig überlappen.

·          Nation-Building ist einerseits ein Prozess sozio-politischer Entwicklung, der idealtypisch – meist über eine längere historische Zeitspanne – aus zuerst locker verbundenen Gemeinschaften eine gemeinsame Gesellschaft mit einem ihr entsprechenden „National“-Staat werden lässt. Ein solcher Prozess kann aufgrund politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller und anderer Dynamiken in Gang kommen. Allerdings gibt es keinen Automatismus, das solche Nation-Building Prozesse erfolgreich verlaufen. Sie können höchst unterschiedliche Dimensionen und Instrumentarien beinhalten, etwa wirtschaftliche Verflechtung, kulturelle Integration, politische Zentralisierung, bürokratische Kontrolle, militärische Eroberung oder Unterwerfung, die Schaffung gemeinsamer Interessen, Demokratisierung und Etablierung gemeinsamer Citizenship, oder Repression und „ethnische Säuberungen“. Historisch hat es eher friedliche und ausgesprochen blutig verlaufende Prozesse des Nation-Building gegeben, sowohl in Europa, als auch in der Dritten Welt. Er ist also nicht per se friedfertig oder ein Beitrag zur konstruktiven Konfliktbearbeitung, aber auch nicht notwendigerweise gewaltsam. Dieser Prozess verknüpft „naturwüchsige“ Entwicklungen wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Art, die durch einzelne Akteure kaum zu steuern sind, mit strategischen Entscheidungen und aktiver Politik von Schlüsselakteuren, die die von ihnen nicht zu verantwortenden Entwicklungen einbeziehen und für sich nutzen.

·          Nation-Building kann andererseits eine politische Zielvorstellung, auch eine Strategie zur Erreichung konkreter Politikziele sein. Interne oder externe Akteure streben die Schaffung oder Stärkung eines nationalstaatlich verfassten politischen und sozialen Systems an, wenn dies ihren Interessen zu nützen scheint, wenn es bestimmte funktionale Erfordernisse besser erfüllt als ein zuvor bestehendes Arrangement, oder wenn es ihre Macht stärkt oder ihre Gegner schwächt. In einem solchen Zusammenhang dient der Begriff des Nation-Building nicht der Beschreibung oder Analyse gesellschaftlicher und politischer Prozesse, sondern trägt programmatischen oder konzeptionellen Charakter. Entweder streben interne Akteure nach der Durchsetzung nationalstaatlicher Herrschaftsmodelle, oder externe verfolgen das gleiche Ziel. In beiden Fällen kann dies aus funktionalen Gründen erfolgen, etwa der Stärkung gesellschaftlicher Stabilität oder wirtschaftlicher Entwicklungschancen, aber auch zu Zwecken der Gewinnung eigener Dominanz und Kontrolle in der entsprechenden Gesellschaft. Nation-Building kann also beispielsweise eine Entwicklungs-, aber auch eine imperiale Strategie sein, je nach den politischen Umständen und Akteuren.

Diese beiden Grundströmungen der Verwendung des Begriffs Nation-Building, nämlich die deskriptive oder analytisch einerseits, die normativ-strategische andererseits, sind jeweils sehr facettenreich und heterogen. Gerade bei der zweiten Variante ist dies offensichtlich, da ja ein strategischer Umgang mit Nation-Building höchst unterschiedlich erfolgen kann, was die konkreten Ziele, Akteure, Instrumente, und Ergebnisse betrifft. Deshalb implizieren beide Begriffsverwendungen nicht allein unterschiedliche Sichtweisen auf den gleichen Gegenstand, sondern beinhalten sehr unterschiedliche Dimensionen, was den Zeitfaktor, die Mechanismen, die Ergebnisse und die Bestimmung der zentralen Bereiche von Nation-Building betrifft. Allerdings gibt es in allen Prozessen von Nation-Building bestimmte Kernelemente, die man entweder analysieren oder politisch forcieren kann, ohne die der Prozess aber kaum dauerhaft erfolgreich verlaufen könnte.

 

Elemente von Nation-Building

Es lassen sich drei zentrale Elemente von Nation-Building unterscheiden, die meist eng verknüpft sind. Nötig sind eine gemeinschaftsbildende, überzeugungskräftige Ideologie, die Integration der Gesellschaft, und ein funktionsfähiger Staatsapparat.

·          Auf Dauer erfolgreich wird Nation-Building nur sein, wenn es entweder aus einer entsprechenden integrativen Ideologie entspringt, oder ab einem bestimmten Punkt eine solche hervorbringt. Eine grundlegende Umstrukturierung von Politik und Gesellschaft bedarf besonderer Legitimierung, sowohl, was die Rechtfertigung der Politik, als auch die soziale Mobilisierung zu ihren Zwecken betrifft. Als klassische Ideologie des Nation-Building müssen offensichtlich die verschiedenen Spielarten des Nationalismus gelten – wobei „Nationalismus“ hier alles meint, das von der sinnstiftenden Herausbildung gemeinsamer nationaler Identität bis zur auch gewaltsamen Abgrenzung von anderen nationalen oder ethnische Gruppen reicht. Nation-Building setzt notwendigerweise die Herausbildung einer „Nation“ voraus, die allerdings höchst unterschiedlich konstituiert sein kann. Solange in einer Region die Menschen sich primär als Paschtunen, Maroniten, Bayern, Yussufzai (ein paschtunischer Stamm), Ismaeliten, oder Mitglied eines bestimmten Clans definieren, ist Nation-Building entweder unvollendet oder gescheitert. Die Existenz der jeweiligen Identitäten ist dabei nicht an sich das Problem, sondern deren Verhältnis zu einer gruppenübergreifenden, „nationalen“ Identität (zur Bedeutung und Wandel politischer Identitäten siehe: Hippler 2001). Man vermag durchaus zugleich Pakistaner oder Afghane und Paschtune oder Schiit sein, wenn beides ideologisch als möglich konstruiert wird, wie man ja auch Bayer, Muslim und Deutscher sein kann. Solange aber die primäre Identität und Loyalität beim Stamm, Clan oder einer ethnischen oder ethno-religiösen Gruppe liegt und die „nationale“ Loyalität dem nachgeordnet bleibt oder fehlt, wird ein Nationalstaat prekär bleiben. Allerdings ist es nicht unbedingt erforderlich, dass eine solche integrierende Ideologie als Basis für Nation-Building immer und automatisch „national“ ausgerichtet ist. Auch andere Werte- und Identitätsmuster können an die Stelle treten, zumindest eine Zeit lang: Verfassungspatriotismus, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, säkulare Ideologien (z.B. Sozialismus) oder Religion können die gleiche Funktion oder Hilfsfunktionen übernehmen. Die Fälle der Staatsgründungen Pakistans und Israels sind hier illustrativ: als Staaten für „die Muslime Indiens“ bzw. „die Juden“ gegründet, wurden diese primär religiösen Bestimmungen zunehmend „national“ uminterpretiert.

·          Die zweite Voraussetzung für einen erfolgreichen Prozess von Nation-Building besteht in der Integration einer Gesellschaft aus den zuvor bestehenden lose verbundenen Gruppen. Paschtunen, Belutschen und Pundschabis müssen nicht allein davon überzeugt sein, zu einer gemeinsamen Nation zu gehören, diese Vorstellung muss sich in der sozialen Realität auch wieder finden. Dazu ist es nötig, dass sich die Kommunikationsmuster zwischen den sozialen Gruppen so weit verdichten, dass Kommunikation nicht im Wesentlichen innerhalb der Gruppen stattfindet. Auch wenn die Binnenkommunikation der (ethnischen, religiösen und anderen) Gruppen weiterhin stärker bleiben mag als die zwischen ihnen, so ist ein bestimmtes Maß der Kommunikationsdichte zwischen ihnen ein Erfordernis für erfolgreiche und dauerhafte Nationenbildung. Dies hat allerdings nicht allein politisch-kulturelle Voraussetzungen, sondern auch praktische: Nation-Building braucht eine „nationale“ Infrastruktur. Verkehrs- und Kommunikationswege, die Herausbildung einer „Nationalökonomie“ aus regionalen oder lokalen Wirtschaftsbereichen, Massenmedien für die Etablierung eines nationalen politischen und kulturellen Diskurses sind Schlüsselvariablen.

·          Eine entscheidende Komponente von Nation-Building ist die Herausbildung eines funktionsfähigen, sein Staatsgebiet tatsächlich kontrollierenden Staatsapparates. Dies impliziert einmal, dass die entsprechende Gesellschaft sich als politische Gemeinschaft konstituiert hat, was mit den beiden oben skizzierten Prozessen korrespondiert, insbesondere der Herausbildung einer sich selbst bewussten, gemeinsamen Gesellschaft. Der Staat wird so zur politischen Organisationsform einer handlungsfähigen Gesellschaft – wenn er nicht schon zuvor bestand und eine Schlüsselrolle bei der gesellschaftlichen Integration spielte. State-building ist ein Schlüsselaspekt von erfolgreichem Nation-Building. Er setzt eine Reihe praktischer Fähigkeiten voraus, etwa die Schaffung einer finanziellen Basis für einen funktionierenden Staatsapparat, also ein wirksames Steuerwesen, ein organisiertes Polizei- und Rechtssystem, einen Verwaltungsapparat, der im ganzen Land wirksam und akzeptiert wird. Der Staat braucht loyales Personal, das sich eben nicht mit einzelnen sozialen, ethnischen oder religiösen primär identifiziert, sondern mit ihm und der „Nation“. Und insbesondere muss der Staatsapparat sein Gewaltmonopol auf dem ganzen Staatsgebiet durchsetzen, um dauerhaft erfolgreich zu sein.

Zusammengenommen ergibt sich für erfolgreiches Nation-Building ein Dreieck aus den jeweils sehr komplexen Elementen state-building, gesellschaftlicher Integration und ideologischer Legitimation. Dabei ist deutlich, dass bestimmte der nötigen Komponenten relativ leicht von außen bereitgestellt werden können, etwa Teile der Infrastruktur, während andere von außen schwer oder gar nicht zu leisten sind, zum Beispiel beim ideologischen Nation-Building. Erst das sich gegenseitig verstärkende Ineinandergreifen wird allerdings über Erfolg oder Scheitern von Nation-Building entscheiden. In der Regel werden externe Akteure Nation-Building daher erleichtern oder erschweren, aber kaum jemals erzwingen oder völlig verhindern können, wenn die internen Faktoren dem entgegenstehen.

 

Nation-Building, Staat und soziale Mobilisierung

Die politischen Kerne von Nation-Building bestehen im Nationalstaat und einem höheren Niveau sozialer Mobilisierung. Dabei steht der Staat nicht allein deshalb im Zentrum, weil seine moderne, nationalstaatliche Form eines der wichtigsten Ergebnisse von Nation-Building, sondern weil er meist zugleich der entscheidende Akteur ist.

Entgegen der seit der deutschen Romantik bei uns vorherrschenden Auffassung, eine Nation bestehe a priori und müsse – oder solle - sich schließlich in einem Staat konstituieren, verliefen die meisten historischen Prozesse wesentlich komplexer, und häufig sogar umgekehrt. „Nationen“ sind nicht einfach vorhanden, sondern entstehen wie viele andere soziale Phänomene in einem schwierigen und widersprüchlichen Prozess – oder eben auch nicht. Und in den meisten Ländern ging die Existenz eines Staates der einer Nation voraus, selbst in den Musterbeispielen europäischer Nationalstaaten, Frankreich und England (Greenfeld 1992). Nicht selten schufen Staatsapparate aus sehr praktischen Gründen, absichtlich oder unabsichtlich, eine ihnen entsprechende Nation: die alten Monarchien basierten praktisch nie auf ethnischen oder nationalen Grenzlinien, sondern auf religiösen oder personalen Legitimationsmechanismen. Ihre spätere Form nahmen sie durch Eroberung oder Heirat mit anderen Herrscherhäusern an, nicht durch ein irgendwie definiertes Selbstbestimmungsrecht der Nationen, die es noch nicht gab. Und erst über oft lange historische Prozesse formten die stärker und bürokratischer werdenden Staatsapparate durch – beispielsweise – das Zurückdrängen lokaler Machthaber, eine zunehmend alle Menschen betreffende Verrechtlichung der sozialen Beziehungen und des Steuerwesens, den Homogenisierungsdruck einer gemeinsamen Religion aller Untertanen, und später durch landesweite Schulsysteme oder eine allgemeine Wehrpflicht eine Nation aus diversen sozialen Gruppen. In vielen multiethnischen (Proto)-Gesellschaften ging und geht der Impuls zur Durchsetzung gesellschaftlicher Integration und der Schaffung eines Nationalstaats vom Staatsapparat selbst aus, wobei u.a. materielle Anreize (finanzielle, ökonomische, Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, etc.), kulturelle Mittel (Sprachenpolitik, Bildungswesen, Religionspolitik) oder Zwang eingesetzt werden. In vielen Fällen kam und kommt es dabei zu einer Verknüpfung interner und externer Ursachen: etwa der Versuche einer schwachen oder rudimentären Regierung, ihre Position in der eigenen Gesellschaft zu festigen (und etwa ihre Steuerbasis zu festigen oder auszudehnen oder lokale Machtfaktoren zurückzudrängen) und außenpolitische Herausforderungen besser bestehen zu können, insbesondere kriegerischer Art. Gerade die Interessen an einem von lokalen Adeligen oder Kriegsherren unabhängigen Steuersystem und an einem gut organisierten und schlagkräftigen Militär stellten wichtige Antriebe dar, Staatsapparate organisatorisch zu entwickeln und neu zu legitimieren. Die meisten Fälle von Nation-Building dürften in diesem Sinne von Oben nach Unten dominiert worden sein, nicht durch ein naturwüchsiges Wachstum des Nationalstaates aus der Gesellschaft heraus. Und fast immer entstand aus einem solchen staatlich induzierten Nation-Building eine komplexe Dialektik zwischen Staatsapparat und gesellschaftlichen Gruppen (sowie zwischen verschiedenen Teilen des Staatsapparates und zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen).

Zugleich bedeutet Nation-Building immer auch einen Prozess gesellschaftlicher Mobilisierung, entweder von unten oder von oben. Das gilt häufig besonders in der Konstituierungsphase. Der ideologische und politische Prozess einer Bildung von Nation impliziert eine Teilhabe ihrer Mitglieder an Politik, ein Eintreten zahlreicher Personen in die politische Sphäre. Während über lange historische Perioden die Politik – und damit Herrschaft – einer kleinen Gruppe oder schmalen Schicht Bevorrechtigter vorbehalten und die Bevölkerung das Objekt, kein Subjekt der Politik war, ändert sich dies grundlegend. Die Konstituierung von „Nation“ bedeutet, dass nun zuerst ideologisch alle ihre Mitglieder zu politischen Subjekten werden, anstatt nur Untertanen zu sein und Politik der Herrscher zu erdulden. In diesem Sinne enthält die Nationenbildung ein demokratisches Potential, da die Zugehörigkeit zur Nation nicht durch edle Geburt oder religiösen Stand, sondern durch Staatsbürgerlichkeit oder ethnisch-nationale Gemeinsamkeit definiert wird. Zumindest dem Anspruch nach liegen Herrschaft nun nicht mehr – beispielsweise – bei einem durch die Gnade Gottes erwählten König, sondern bei der neu konstituierten Gesellschaft. Dass diese ihre prinzipielle Souveränität nicht unbedingt demokratisch wahrnehmen muss, sondern oft klientelistisch, elitär, diktatorisch organisiert sein kann, ist sehr bedauerlich, ändert aber nichts an der legitimatorischen Bindung von Herrschaft an die „Nation“, also an eine zumindest behauptete Gemeinschaft Aller. Nation-Building öffnet also demokratisches Potential, aber nicht unbedingt die Tür zu tatsächlicher Demokratie, im Gegenteil: Herrschaft „im Namen“ der Nation kann repressiver sein als Feudalismus oder Gottesgnadentum, von „traditionellen“ Herrschaftsformen zu schweigen.

Unser Punkt hier ist, dass Nation-Building die Mitglieder einer Nation prinzipiell zu politischen Subjekten macht, auch wenn in der Realität die Wahrnehmung partizipativer Rechte oft genug verweigert wird. Nation-Building „politisiert“ die Bevölkerung zu einer Nation, es mobilisiert gerade im Konstituierungsprozess weite Teile der Gesellschaft. Das impliziert praktisch meist bestimmte soziale Voraussetzungen: etwa setzt es ein bedeutsames Maß an innergesellschaftlicher Kommunikation voraus, was wieder durch einen hohen Alphabetisierungsgrad und Massen- und Kommunikationsmedien (in bestimmten historischen Phasen war dies die Erfindung des Buchdrucks, später Zeitungen, Radio oder Fernsehen) begünstigt wird.

Der Prozess der Konstituierung von Nation und die stärkere Partizipation und politische Mobilisierungsfähigkeit der zur „Nation“ gewordenen Bevölkerung bedeutet allerdings, dass in der Gesellschaft zuvor schlummernde Konflikte, die durch den Ausschluss der Bevölkerung von der Politik nur geringe Artikulationsmöglichkeiten hatten, verstärkt wirksam werden können. Umso mehr wird dies zutreffen, wenn die Bestimmung dessen, wer eigentlich zur „Nation“ gehört, ungeklärt oder umstritten ist, also insbesondere in multi-ethnischen oder multi-religiösen Gesellschaften, die sich nicht auf gemeinsame Staatsbürgerschaft als Gemeinschaftskriterium einigen können. Wenn die Zugehörigkeit zur Nation nicht auf der Basis der staatsbürgerlichen Gleichheit, sondern nach Sprache, ethnischer Abstammung oder Religion bestimmt werden soll, kann dies leicht zwei problematische Folgen zeitigen: einmal besteht die Gefahr, dass die Ethnisierung des politischen Diskurses in einem Kontext latenter Konflikte und sozialer Mobilisierung die Gewaltschwelle senkt und Gewaltkonflikte auslöst und ethnisch strukturiert. Zweitens transformiert ein solcher Kontext den Nation-Building Prozess: statt eine gesamtgesellschaftliche Integration anzustreben oder zu erreichen stellt sich dann die Alternative, Nation-Building entweder als repressives Projekt der Vorherrschaft einer Ethnie über andere zu betreiben, oder eine Situation der Konkurrenz unterschiedlicher Nation-Building Projekte der verschiedenen Ethnien herbeizuführen. Beides führt zur Verschärfung bestehender Konflikte und öffnet die Gefahr, dass diese zukünftig gewaltsam ausgetragen werden.

Jeder Prozess des Nation-Building beinhaltet die Schaffung neuer politischer und gesellschaftlicher Strukturen und Mechanismen, zugleich aber die Überwindung und Zerstörung alter. Deshalb ist er immer und notwendigerweise mit der Neuverteilung von Macht verbunden: Nation-Building hat politisch, ökonomisch und sozial Gewinner und Verlierer – und deshalb kann es auch als Mittel eingesetzt werden, um der eigenen politischen oder sozialen Gruppe Vorteile zu verschaffen.

Die Durchsetzung einer Zentralregierung, wo es zuvor vielleicht nur regionale oder lokale Machthaber gab, die bürokratische Verregelung eines politischen Systems, das früher auf personalen Bindungen, Klientelbeziehungen oder charismatischer Herrschaft beruhte, stellen nicht einfach Elemente einer eher technischen „Modernisierung“ gesellschaftlicher Strukturen dar, sondern eine Machtumverteilung, die von manchen Gruppen als positiv, von anderen als bedrohlich empfunden wird. Darum ist Nation-Building immer ein konfliktiver Prozess, der politisch, kulturell, sozial, ökonomisch oder militärisch ausgekämpft wird. Sobald eine Gesellschaft in dieser Situation zusätzlich zu den ökonomischen, sozialen und anderen Konfliktlinien auch noch ethnisch oder religiös gespalten ist, wird dem bestehenden Konfliktpotential eine weitere Dimension hinzugefügt, die den Konfliktverlauf sowohl verschärfen, als auch völlig neu strukturieren kann. So können etwa Verteilungs- und Machtkonflikte ethno-religiös ideologisiert werden, was den sozialen Mobilisierungsgrad weiter erhöht und pragmatische Lösungsmöglichkeiten erschwert. Das gilt natürlich auch für Fälle, in denen Nation-Building vor allem als Strategie externer Akteure versucht wird: gleichgültig, ob deren Intentionen humanitär oder imperial sind, im Zielland muss Nation-Building zu passivem oder aktivem Widerstand und einer Verschiebung der Machtverhältnisse führen.

 

Gewaltkonflikte und Nation-Building

Nation-Building in Gewaltkonflikten oder Post-Konflikt-Situationen wird häufig so wahrgenommen, als sei es ein Mittel gegen Chaos und Fragmentierung. Dies mag unter Umständen auch zutreffen, aber es sollte nicht übersehen werden, dass manche Gewaltkonflikte gerade aus aggressiven Nation-Building Projekten resultieren: ethnische Vertreibungen und manche Massaker sollen ja häufig gerade dazu dienen, eine bestimmte, ethnisch „reine“ Version von „Nation“ durchzusetzen oder Widerstand gegen eine nationalstaatliche Regierung zu brechen. Andere Gewaltkonflikte entspringen gerade dem Widerspruch zweier (oder mehrerer) konkurrierender Nation-Building Projekte: etwa einer Politik, den „Nationalstaat“ in einem multi-ethnischen Kontext auch mit Zwang aufrecht zu erhalten oder den Versuch eine Nation gewaltsam zu schaffen oder zu homogenisieren, die von einer oder mehreren Ethnien oder Nationalitäten durch Unabhängigkeitsbestrebungen in Frage gestellt wird. Während etwa ein groß-serbisches Projekt von Nation-Building nicht nur Serbien (inklusive der ungarischen Minderheit), die serbisch besiedelten Teile Bosniens und den Kosovo einbeziehen soll, und jeder Verzicht oder Verlust eines dieser Regionen als Niederlage des Nation-Building Projektes bedeuten würde, impliziert ein kosovo-albanisches Nation-Building selbstverständlich die Unabhängigkeit von Serbien, und – je nach politischem Geschmack – die staatliche Selbständigkeit oder einen Zusammenschluss mit Albanien. In der politischen Realität besteht die Alternative zu Nation-Building nicht unbedingt in dessen Abwesenheit, sondern häufig in einem konkurrierenden Modell von Nation-Building. In ähnlicher Weise stehen externe Versuche von Nation-Building nicht selten im Gegensatz zu internen Varianten, anstatt immer zu einer Situation der Fragmentierung, Auflösung und Herrschaftslosigkeit. So haben in Afghanistan auch die Taliban oder der Extremistenführer Hekmatyar ihre speziellen Formen von Nation-Building durchsetzen wollen, wenn auch auf besonders brutale Weise. Und in vielen Situationen setzt der konstruktive Aspekt von Nation-Building – also die Schaffung von Nation und Nationalstaat – zuerst einmal die Auflösung oder Zerstörung früherer politischer Einheiten voraus: der türkische Nationalstaat setzte die Auflösung des Osmanischen Reiches, der kroatische die Jugoslawiens, oder die der baltischen oder zentralasiatischen Staaten das Verschwinden der Sowjetunion voraus.

Die entwicklungs- und friedenspolitische Diskussion von Nation-Building muss den Prozess also einmal zur Auflösung und Zersetzung von Gesellschaften und Staaten als im Gegensatz begreifen, darf aber nicht vergessen, dass in vielen Gewaltsituationen gerade der Konflikt mehrerer Nation-Building Prozesse den Kern des Problems ausmacht, und das nicht selten Nation-Building zuerst die Fragmentierung von Gesellschaften und Staaten voraussetzt. Es geht also nicht primär um die Frage, ob Nation-Building stattfindet oder stattfinden sollte, sondern darum, welches der konkurrierenden Projekte wünschbar ist, und wie ein solcher Prozess gestaltet werden soll. Im friedens- und entwicklungspolitischen Kontext sind also die konkrete Ausgestaltung gesellschaftlicher Konstruktions- und Dekonstruktionsprozesse, die spezifische Dynamik der auf Nation-Building bezogenen Ideologie-Produktion (z.B. gemeinsame Staatsbürgerschaftskonzepte versus ethnische Konfrontationsideologien), und die Politik des Staatsapparates gegenüber der Gesellschaft und den unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen bedeutsam.

Insgesamt ist Nation-Building also nicht a priori friedensfördernd. Im Gegenteil: in der Anfangsphase kann es sogar ausgesprochen konfliktverschärfend wirken, da seine Integrationstendenz von einigen Sektoren der Gesellschaft zurückgewiesen werden oder diese ausgeschlossen bleiben sollen, da die Methoden des Prozesses Widerstand hervorrufen oder die unvermeidbaren Machtverschiebungen von den Verlierern bekämpft werden können. Auch wenn dabei die Gewaltschwelle nicht unbedingt überschritten wird, werden politische und gesellschaftliche Konflikte eine Zeit lang zunehmen und mit Zuckerbrot, Peitsche und Geduld unter Kontrolle gehalten. Erst wenn das spezifische Nation-Building Projekt erkennbar erfolgreich und einigermaßen konsolidiert ist, kann mit einer konfliktvermindernden und friedensfördernden Wirkung gerechnet werden, da das Gewaltmonopol eines von der Gesellschaft akzeptierten Staates und die Verminderung oder das bessere Management innergesellschaftlicher Grenzlinien das interne Gewaltniveau senken können. Dieser positive Effekt von Nation-Building der zweiten Stufe muss nicht davon abhängen, ob es kooperativ oder repressiv betrieben wurde, auch wenn aus politischen Gründen nicht-repressive Methoden natürlich weitaus vorzuziehen sind – aber auch gewaltsames Nation-Building kann langfristig zu Gewaltverminderung führen, wenn es dauerhaft erfolgreich ist. Dabei muss allerdings noch sichergestellt sein, dass die internen Gewaltpotentiale nicht einfach nach außen umgelenkt werden.

 

Nation-Building von außen?

In einer Reihe von Ländern in Post-Konflikt-Situationen spielen heute externe Akteure die entscheidende Rolle in Staat und Verwaltung: etwa im Kosovo, wo eine offizielle UNO-Verwaltung regiert, in Bosnien, wo einem von außen dekretierten, komplexen internen Regierungssystem ein Vertreter der internationalen Gemeinschaft übergeordnet ist, in Kabul, wo der nach der US-Militärintervention eingesetzte Präsident Karzai inzwischen von einem NATO-Militärkontingent unterstützt wird, oder im Irak, wo eine US-Militärverwaltung (mit nomineller britischer Beteiligung) faktisch herrscht, auch wenn irakische Politiker zunehmend beteiligt werden sollen. In anderen Ländern spielten externe Akteure ebenfalls eine maßgebliche Rolle bei der Gestaltung der politischen Verhältnisse: die USA nach ihrer Intervention in Haiti (1994/95), die UNO bei der Organisation von Wahlen in Kambodscha (1993) oder der Vorbereitung der Unabhängigkeit Ost-Timors (1999-2002), um nur drei Beispiele zu nennen. Für diese und andere Operationen wird der Begriff Nation-Building benutzt. In den meisten Fällen kann festgestellt werden, dass nicht die externen Akteure mit Nation-Building begannen, sondern nur eine andere Art dessen erzwangen oder organisierten. Die Gründe externer Akteure sind höchst unterschiedlich: etwa die Reaktion auf eine humanitäre Notlage, die zur Übernahme bestimmter Verwaltungs- und Sicherheitsfunktionen führt; das Interesse an regionaler Stabilität; innenpolitische Interessen, etwa das Bedürfnis, angesichts einer in den Medien beachteten Krise nicht als „hilflos“ oder untätig zu erscheinen; strategische und Machtinteressen.

In den weitestgehenden Fällen – Kosovo, Afghanistan, Irak – haben die externen Akteure ein bestehendes Macht- und Regierungssystem (und deren spezifischen Nation-Building Konzepte) zuerst gewaltsam zerschlagen, um dann einen Prozess des materiellen und politischen Wiederaufbaus zu beginnen. Dabei war Nation-Building nie das eigentliche Ziel des jeweiligen Engagements, sondern ein Mittel: die NATO führte nicht Krieg gegen Serbien, um im Kosovo Nation-Building zu betreiben, sondern aus einem komplexen Bündel außenpolitischer, humanitärer und innenpolitischer Interessen. Nach dem Krieg blieb allerdings keine andere Option, als selbst die Verwaltung zu übernehmen bzw. sie der UNO zu übertragen. In Afghanistan bestanden die Politik- und Kriegsziele der USA und ihrer Verbündeten nicht in der Schaffung eines afghanischen Nationalstaates, sondern in der Zerschlagung des Terrornetzwerkes al-Qaida, dem Sturz der Taliban, der Stärkung der eigenen Position in Zentralasien und der Demonstration der eigenen Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit nach dem 11. September 2001. Nach dem schnellen Sieg mussten dann Wege gefunden werden, Einfluss und regionale Stabilität zu sichern und ein international vorzeigbares Herrschaftsmodell zu präsentieren. Und im Irak ging es primär um strategische Positionsgewinne am Persisch-Arabischen Golf, den Sturz eines regionalen Rivalen und die politische Neuordnung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens unter US-Führung, nebenbei um die Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen. Nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins und der Auflösung oder Zerschlagung der Kernbereiche seines Staatsapparates wurde die Rekonstituierung des Irak als Gesellschaft und Staat zur Notwendigkeit, um einerseits ein politisches Vakuum zu vermeiden und zugleich die eigenen Interessen zu fördern. Externes Nation-Building stellt also nicht allein einen schweren Eingriff in die lokalen Machtbeziehungen dar, sondern ebenfalls eine machtpolitische Auseinandersetzung zwischen internen und externen Akteuren. Wer fremde Nation-Building Projekte zum Scheitern bringt und eigene an deren Stelle setzt, hat zugleich seine eigene Macht gegen die anderer durchgesetzt. In diesem Sinn hat Nation-Building auch imperiale Züge, wie Ignatieff (2003) im Titel seines Buches pointiert zuspitzt: „Empire Lite – Nation-Building in Bosnia, Kosovo and Afghanistan“.

Solche imperialen Unternehmungen sind eng mit einer Verschiebung internationaler Diskurse verknüpft – etwa den Diskussionen um die Zulässigkeit humanitärer Interventionen trotz der Einschränkungen der UNO-Charta (Gewaltverbot, Gebote der Nichteinmischung und der Respektierung der Souveränität anderer Staaten), einer Neudefinition (praktisch der Einschränkung oder Konditionierung) der staatlichen Souveränität bestimmter Staaten oder einer Relativierung des Völkerrechts und der Rolle der UNO allgemein.

 

Ausgewählte Dimensionen externen Nation-Buildings

 Ausgangspunkte

·         Fragmentierte Staaten und/oder Gesellschaften
·          Failing states
·          Post-Konflikt Situationen

Ziele

·          Gewinnung, Ausbau oder Sicherung einer Macht- oder Dominanzposition
·          Stabilisierung einer Gesellschaft oder eines Staates, einer Regierung oder Region
·          Humanitäres: Abwendung, Reduzierung oder Überwindung einer humanitären Katastrophe
·          Schaffung von Voraussetzungen für ökonomische und politische Entwicklung

Funktionen

·          humanitäre Hilfe
·          Wiederherstellung/Bereitstellung technischer Infrastruktur
·          Wiederherstellung/Bereitstellung sozialer Infrastruktur
·          Wirtschaftliche Entwicklung
·          Gewährleistung von Sicherheit
·          Durchsetzung oder Absicherung des staatlichen Gewaltmonopols

Notwendige oder sinnvolle Mechanismen und Strukturen, bzw. deren Einführung oder Stärkung

·          capacity building: Stärkung von Fähigkeiten und Abläufen wirksamer Problemlösung in einer Gesellschaft
·          state-building: die Anwendung von capacity-building auf staatliche Strukturen, Verwaltungen und Regierungen
·          good governence: die Verpflichtung von Regierungsinstitutionen auf Prinzipien wie Transparenz, Rechtsstaatlichkeit
·          Soziale Integration verschiedener sozioökonomischer, ethno-religiöser etc. Gruppen durch Mechanismen der Kommunikation und Kooperation
·          Stärkung der Zivilgesellschaft, soweit nicht im Konflikt zum Nation-Building Projekt
·          Verknüpfung und Integration partialer mit Gesamtinteressen
·          Demokratisierung und Wahlen, Schaffung trans- oder interethnischer Partizipationsmechanismen
·          peace keeping
·          militärische Besetzung und Verwaltung

 

Imperiale Varianten von externem Nation-Building sollten allerdings nicht mit positiven Anstrengungen verwechselt werden, interne Prozesse von Nationen-Bildung von außen politisch, ökonomisch, entwicklungspolitisch oder sicherheitspolitisch zu unterstützen. Für externe Akteure kann Nation-Building die Versuchung bedeuten, sich sein Gegenüber nach dem eigenen Bilde zu schaffen. Aber sie können bei anderer politischer Einbettung und stärker entwicklungs- und friedenspolitischer Akzentuierung durchaus positive Beiträge zu Nation-Building in Drittstaaten leisten.

Allerdings: auch dabei bewegt sich die externe Unterstützung von Nation-Building in einem Spannungsfeld der Förderung – oft widersprüchlicher – interner Prozesse und den eigenen politischen Zielen und Interessen, die nur selten völlig übereinstimmen werden. Auch internes Nation-Building zielt nur in Ausnahmefällen primär auf eine Förderung der Menschenrechte, auf sozialen Ausgleich, good governance und partizipative Demokratie. Es will in der Regel – und das ist weder überraschend noch an sich verwerflich – die Machtsicherung- oder Ausdehnung bestimmter sozialer und politischer Gruppen, von denen die erwähnten positiven Politikziele je nach Umständen als hilfreich oder hinderlich wahrgenommen werden können. Auch ein nicht-imperiales Nation-Building durch Externe wird das interne Projekt nur in Ausnahmefällen als Gesamtpaket unterstützen können, wenn es die eigenen entwicklungspolitischen Ziele nicht kompromittieren möchte, sondern sorgfältig deren Komponenten auf die Vereinbarkeit mit den eigenen Politikzielen prüfen müssen. Externes Nation-Building zur Förderung strategischer Interessen – auch des Interesses nach Stabilität – mag dieses Dilemma außer Acht lassen und beispielsweise Stabilität höher gewichten als Demokratie. Unter entwicklungspolitischen Gesichtpunkten macht dies keinen Sinn: eine Förderung der Nation-Building Politik einer repressiven Regierung mag nicht selten außen- oder sicherheitspolitisch attraktiv erscheinen (z.B. die Unterstützung Somalias unter Siad Barre als Folge der RAF-Flugzeugentführung nach Mogadischu; die jahrzehntelange Unterstützung Saudi Arabiens durch die USA), entwicklungspolitisch sind sie fragwürdig. Dieses Spannungsverhältnis imperialen (oder, höflicher ausgedrückt: sicherheitspolitisch dominierten) Nation-Buildings und seiner entwicklungspolitischen Variante kann auch innerhalb einzelner Nation-Building Projekte beobachtet werden: in Afghanistan beispielsweise besteht ein nicht auflösbarer Widerspruch zwischen den Versuchen, in Kabul eine funktionierende nationalstaatliche Regierung zu installieren und zu festigen, während das US-Militär in den Provinzen eng mit lokalen Warlords zusammenarbeitet und diese unterstützt, um sie als Hilfstruppen gegen die Reste der Taliban oder al-Qaidas nutzen zu können. So wird Nationalstaatsbildung untergraben. Auch im Irak besteht ein solcher Widerspruch: einerseits sollen eine neues politisches, gesellschaftliches System, ein neuer Staatsapparat und gar eine Demokratie unter irakischer Verantwortung aufgebaut werden, zugleich möchten die US-Behörden zentrale irakische Akteure (etwa den schiitischen Parteien und Organisationen) unter Kontrolle halten, um die eigenen Interessen nicht zu gefährden.

Eine entscheidende Grundfrage bei externen Anstrengungen zu Nation-Building ist, wer den Gesamtprozess steuert. Sind die fragliche interne Regierung oder Sektoren der internen Gesellschaft (zwei bereits sehr unterschiedliche Möglichkeiten), sind internationale Organisationen (etwa die UNO) oder einzelne externe Regierungen (z.B. die US-Regierung) die Schlüsselakteure?

Imperiales und entwicklungspolitisches Nation-Building unterscheiden sich nicht nur graduell, sondern strukturell. Es sind gegensätzliche Projekte, die unterschiedliche Grundansätze, unterschiedliche Instrumentarien und unterschiedlichen Personal- und Mitteleinsatz erfordern. Imperiales Nation-Building muss im Prinzip einen Nationalstaat neu schaffen, und dazu häufig auch die entsprechende Gesellschaft. Dies durch externe Akteure zustande bringen zu wollen (gleichgültig, ob durch unilaterale oder im UNO-Rahmen erfolgende Politik organisiert) ist kein Zeichen politischer Bescheidenheit, sondern ein Schöpfungsakt gigantischen Ausmaßes, der – je nach Größe und Komplexität des Landes und seiner Ausgangslage beträchtliche Finanzmittel (leicht in dreistelliger Milliarden-Euro-Größe) und ein oder zwei Generationen Geduld erfordern kann. Er ist ausgesprochen personalintensiv und mit beträchtlichem Risiko behaftet: nicht unmöglich, aber häufig politisch oder rechtlich zweifelhaft und so komplex, sowie mit so hohem Anspruch an Ressourcen, politischem Willen und politischem Durchhaltevermögen zu bestehen, dass sein Scheitern auf Dauer eine realistische Möglichkeit darstellt. Dagegen stellt ein Engagement externer Akteure bei Projekten entwicklungspolitischem Nation-Building im Sinne von Hopp/Kloke-Lesch (bei ihnen „Nationenbildung“ im Gegensatz zu „Nation-Building“ genannt; in diesem Band) eine immer noch komplexe, aber doch bescheidenere und realistischere Politikvariante dar: durch seinen Grundansatz der Unterstützung internen statt der externen Schaffung von Nation-Building hält er das Risiko und das eigene Engagement in Grenzen, wirft weniger politische und völkerrechtliche Probleme auf und vermeidet das Risiko der Selbstüberforderung und der Hybris. Ist imperiales Nation-Building ein dramatischer Schöpfungsakt von Nationen, so stellt entwicklungspolitische Nationenbildung das selektive Bohren dicker Bretter dar. Zwar kann man immer noch die falschen Löcher bohren oder bei der Arbeit der Bohrer abbrechen, so ist doch die Gefahr gering, dass dem Handwerker das ganze Haus auf den Kopf stürzt.

 

Grundprobleme imperialen Nation-Buildings

Imperiales Nation-Building ist nicht prinzipiell unmöglich, wird aber im 21. Jahrhundert nur in seltenen Ausnahmefällen erfolgreich verlaufen.

Dafür lassen sich folgende Gründe identifizieren.

·          Das Sicherheitsproblem: bei Konfliktsituationen in fragmentierten Gesellschaften ist die Gewalt oft selbst fragmentiert. Externe Besatzungstruppen haben oft große Schwierigkeiten, Zivilisten von Kämpfern zu unterscheiden, und da der mögliche Widerstand nicht in größeren militärischen Formationen erfolgt (und dann relativ leicht bekämpft werden könnte) und selten zentral kontrolliert wird, ist die Herstellung von Sicherheit eine schwierige Angelegenheit, für die das Militär oft wenig geeignet ist. Häufig bleiben die Ziele, gegen die die Besatzer vorgehen könnten, im Dunkeln, oder sie sind so eng mit Zivilisten oder zivilen Zielen verknüpft, dass sie nur bekämpft werden können, wenn zivile Opfer in größerer Zahl in Kauf genommen werden. Dies ist nicht nur ethisch und völkerrechtlich problematisch, sonder oft auch politisch: zivile Opfer bringen die Bevölkerung gegen die Besatzungstruppen auf und legitimieren den Widerstand. Und in Fällen, in denen in einer multi-ethnischen Gesellschaft manche Gruppen stärker unter zivilen Opfern leiden als andere, werden die ethnischen Grenzen vertieft und ethnische Identitäten zugespitzt und radikalisiert.

·          Das Problem lokaler Machthaber und Warlords: Da bei imperialem Nation-Building die Priorität auf die militärische Sicherheit (auch der eigenen Truppen) gelegt werden muss, besteht ein großer Anreiz, lokale Machtstrukturen, Milizen, Kriegsherren, selbst Verbrecherbanden als Hilfstruppen zu nutzen. So arbeitete die UNO-Verwaltung im Kosovo lange mit der UCK-Miliz zusammen, obwohl diese in zahlreiche kriminelle Aktivitäten, in Einschüchterung der Bevölkerung, die Vertreibung der serbischen Minderheit  und andere Aktivitäten verwickelt war – zum Teil, weil man einen militärischen Widerstand der UCK, etwa Anschläge auf KFOR-Einheiten, befürchtete. In Afghanistan führt das Paktieren mit lokalen Warlords durch Lieferung von Waffen und Geld dazu, diese gegen die Zentralregierung zu stärken und so Nation-Building zu untergraben. Das Schlüsselziel eines staatlichen Gewaltmonopols rückt so in immer weitere Ferne. Alternativen zu dem Paktieren mit lokalen Gewaltstrukturen sind begrenzt: Versuche, sie zu entwaffnen oder aufzulösen, sind oft  hoch riskant und setzen einen Umfang an Zeit und Ressourcen voraus, der in der Regel unrealistisch ist.

·          Die Frage der Ressourcen: Angesichts enger haushaltspolitischer Rahmenbedingungen und begrenzter militärischer Kapazitäten müssen militärische Einsätze zeitlich begrenzt und mit möglichst geringem personellem und finanziellem Aufwand durchgeführt werden. Dies ist nicht immer einfach: so erwiesen sich die Besatzungskosten der USA im Irak mit monatlich rund 4 Mrd. Dollar als doppelt so hoch wie zuerst kalkuliert. Aber genau dieses Erfordernis eines minimalen Mitteleinsatzes und möglichst begrenzten Zeitrahmens blockiert die Erfolgschancen imperialen Nation-Buildings: in wenigen Jahren mögen konkrete militärische Ziele zu erreichen und Projekte zu verwirklichen sein, aber kaum jemals die Neukonstituierung eines Staatsapparates und einer funktionierenden Gesellschaft durch „Außenseiter“ in einer fremden Umgebung.

·          Der innenpolitische Faktor: Gesellschaften in Europa und Nordamerika haben angesichts ferner Regionalkonflikte nur eine begrenzte Geduld und Engagementbereitschaft. Es ist zwar möglich, die Interventionsbereitschaft in nördlichen Industriegesellschaften insbesondere mit „moralischen“ (etwa humanitären oder menschenrechtlichen) Argumenten herzustellen und eine zeit lang aufrecht zu erhalten, aber ein größeres Engagement über 10, 20 oder mehr Jahre mit großem finanziellen und personellen Aufwand innenpolitisch durchzuhalten, dürfte in den meisten Fällen ausgeschlossen sein. Darüber hinaus besteht das offensichtliche Problem einer innenpolitischen Reaktion auf außenpolitische Überforderung: die Bundeswehr ist mit Ihrer Präsenz auf dem Balkan und in Afghanistan am Rande ihrer Kapazitäten, und die US-Besatzung Iraks ist so personalintensiv, das selbst das US-Militär bereits seit dem Sommer 2003 an Engpässen leidet. Dass die Parlamente und Öffentlichkeit einer dauerhaften umfassenden Präsenz oder gar der Ausweitung auf andere Länder zustimmen könnten, wird mittelfristig fraglich.

·          Schließlich bestehen beträchtliche Probleme, die aus Zielkonflikten und Ziel-Mittel-Konflikten resultieren. Bei imperialem Nation-Building besteht ein häufiger Konflikt zwischen dem Interesse an tatsächlichen Nation-Building und dem Interesse an Kontrolle. Beides erfordert allerdings sehr unterschiedliche Herangehensweise und Instrumente: Kontrolle muss den Sicherheitsaspekt ins Zentrum stellen, weil sie sonst leicht erodieren kann, gerade bei externen Akteuren, die im Zielland selbst ohnehin in einer prekären Lage sind. Nation-Building wird in diesem Kontext vor allem zum Mittel sozialer und politischer Kontrolle des Landes, ist also kein Ziel, sondern Instrument anderer Zwecke. Diese Variante von Nation-Building wird entsprechend geprägt, was meist auf eine Betonung militärischer, polizeilicher und geheimdienstlicher Mittel (etwa entsprechende Unterstützung oder Ausbildung des lokalen Staatsapparates), entsprechende Infrastrukturmaßnahmen (etwa die Erschließung unzugänglicher Gegenden, um diese als Rückzugsmöglichkeiten schwerer Nutzbar zu machen) und streng reglementierte Demokratisierungs- und Partizipationsmöglichkeiten (um zwar lokale Kräfte in die Verwaltung des Landes einzubeziehen und in der Öffentlichkeit besser akzeptiert zu werden, aber zugleich die Zügel nicht aus der Hand zu geben. Auch die Versuchung, Taktiken des Teilens-und-Herrschens anzuwenden, ist vorhanden, was gesellschaftliche Integration erschwert.
Ziel-Mittel-Konflikte bestehen häufig darin, dass das primäre Instrument imperialen Nation-Buildings – das Militär – für viele zivile Aufgaben nationaler Integration und des State-Building ziemlich ungeeignet ist, andere Instrumente (etwa aus der Entwicklungspolitik) aber weniger Handlungsspielraum und Mittel verfügen.

 

Grundprobleme entwicklungspolitischen Nation-Buildings

Auch entwicklungspolitisch intendiertes Nation-Building – im Sinne der Unterstützung lokaler Prozesse – ist politisch hoch sensibel, da es ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße, die politischen Machtverhältnisse im Zielland beeinflussen möchte. Aber diese Interventionen sind begrenzter, und sie zielen nicht auf die externe Kontrolle, sondern die Stärkung der internen Strukturen des betroffenen Landes.

 

Erfahrungen auf dem Balkan, in Afghanistan und dem Irak

Seit Ende des Kalten Krieges hat es in einer Reihe von Gewaltkonflikten und Post-Konflikt-Situationen ambitionierte Nation-Building Anstrengungen gegeben. Der erste Fall war Somalia, wo nach der Phase militärischer Intervention durch die USA zur Verteilung von Nahrungsmitteln der damalige UN-Generalsekretär Boutros-Ghali die Notwendigkeit des Nation-Building proklamierte (UN Chronicle 1994: 13). Fast gleichzeitig sprach er auch von einer ähnlichen „monumentalen Aufgabe“ in Kambodscha (UN Chronicle 1994: 38). Gerade das Scheitern in Somalia trug wesentlich dazu bei, dass Nation-Building in der US-Innenpolitik umstritten wurde: während die Clinton-Administration gerade zu Beginn ihrer Amtszeit nachdrücklich dafür eintrat, um präventiv Konflikte zu bearbeiten, neigten viele Republikaner und konservative Demokraten zu großer Skepsis. Beispielhaft deutlich wurde dies in einer Debatte im Brown Journal of World Affairs. Ruth Wedgwood (1994: 49) formulierte damals pointiert: „Nation building is a sensible aim of our foreign policy, addressing civil breakdowns before conflict breaks out.”

Die deutlichste Gegenposition stammte vom ehemaligen Außenminister Alexander Haig (1994: 8)

„I would suggest, however, that experience should caution us against adopting "nation building" as either an end or a means of our foreign policy for at least three reasons: 1) it rarely works; 2) it requires enormous effort and staying power; and 3) it is not the main international problem before us.”

Diese unterschiedlichen Sichtweisen erwiesen sich bis in den Herbst 2001 als relative stabil: selbst im US-Präsidentschaftswahlkampf 2000 profilierte sich George W. Bush mit deutlicher Kritik an einer Clintonschen Politik des Nation-Building. Präsidentensprecher Ari Fleischer fasste etwas später Bushs Position so zusammen:

„What the President could not have made any plainer during the campaign, which he repeats emphatically today, is the purpose of the military is to fight and win wars. The purpose of the military is not, as he said on October 12th, during the course of the campaign, to use troops all around the world to serve as social workers or policemen or, you know, school walking guards. I'm not for that, the President said.“ (Fleischer 2001)

Während der zukünftige Präsident Bush sich noch im Wahlkampf eher pauschal und explizit gegen Nation-Building ausgesprochen hatte, weichte diese Position seit dem Krieg in Afghanistan auf. Zuerst wurde – im Sinne der Äußerungen Fleischers – Nation-Building nur noch als Aufgabe des US-Militärs ausgeschlossen, was eine Beteiligung ziviler Instanzen offen ließ. Etwas später ging die US-Administration sogar so weit, eine aktive Rolle bei Nation-Building explizit von der UNO und anderen Akteuren (etwa Europa) zu fordern. So formulierte Präsident Bush (2001)

„I believe that the United Nations would - could provide the framework necessary to help meet those conditions. It would be a useful function for the United Nations to take over the so-called 'nation-building,' - I would call it the stabilization of a future government - after our military mission is complete.”

Ari Fleischer (2002) erläuterte:

“The President does believe in helping nations to grow, to be successful. And you can call that nation-building if you want; the President has always been for that.”

Die Diskussion in Washington verlief unter anderem deshalb etwas kompliziert, weil sie nicht nur von politischen und parteipolitischen Unterschieden geprägt, sondern begrifflich auch sehr unscharf geführt wurde. Im Lager der Republikaner wurde „Nation-Building“ zum Teil synonym mit „peace-keeping“ benutzt, mit impliziter Verknüpfung mit UNO-Einsätzen. Die Skepsis der amerikanischen Rechten gegen Multilateralismus und insbesondere die UNO färbte so auf den Nation-Building Begriff ab, den man ohnehin eng mit Clinton in Verbindung brachte. Und als sich die Bush-Administration aufgrund ihrer Erfahrungen in Afghanistan und dem Irak dem Begriff annäherte, bedeutete dies nicht tatsächlich die Vertretung von umfassendem Nation-Building, sondern oft nur eine Sammelkategorie für prinzipiell nicht-militärische Politikinstrumente, etwa bezüglich der humanitären Hilfe, Wiederherstellung der Infrastruktur oder Bekämpfung von Plünderungen. Die neue Offenheit der Bush-Administration für Nation-Building bedeutete also nicht die Verfolgung eines entsprechenden Gesamtkonzeptes, sondern ein Nation-Building á-la-carte unter imperialen Vorzeichen. Dabei wurden zunehmend auch militärische Einheiten in solche prinzipiell zivilen oder polizeilichen Aufgaben einbezogen, etwa im Konzept der zivil-militärischen Entwicklungsteams in Afghanistan, oder auf breiter Front im Irak. Dies geschah allerdings aus konkreten praktischen Zwängen vor Ort, nicht aufgrund politisch-konzeptioneller Überlegungen.

  


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Quelle:

Jochen Hippler
Gewaltkonflikte, Konfliktprävention und Nationenbildung - Hintergründe eines politischen Konzepts,
in: Jochen Hippler (Hrsg.), Nation-Building – ein sinnvolles Instrument der Konfliktbearbeitung?,
Dietz Verlag (Bonn), Reihe Eine Welt der Stiftung für Entwicklung und Frieden, 2004, S. 14-30