Jochen Hippler

Jihadismus, Integration und Kultur

 

Fast alle haben es gemerkt: Wir haben ein Problem. Eigentlich mehr als eines, sondern ein ganzes Problemknäuel. In den Niederlanden ist die Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geerd Wilders weiter ein Indiz für breite Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Bedingungen, insbesondere der Migrationspolitik. In Frankreich hat es die Front National geschafft, in die erste Reihe der Parteien aufzusteigen, und in Großbritannien versetzt die United Kingdom Indepencence Party (UKIP) die etablierten Parteien in Angst und Schrecken. Und in Griechenland haben die neofaschistische Chrysi Avgi („goldene Morgenröte“) und die rechtspopulistische Anexartiti Ellines (ANEL; "Unabhängige Griechen") Wahlerfolge zu verzeichnen. In Deutschland schließlich drückten PEGIDA, LEGIDA ("Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes") und andere Basisbewegungen eine Zeitlang lautstark ihre kultur- und politikkritische Befindlichkeit aus, die sich um Ausländer- und Islamfeindlichkeit gruppierte. Die populistische AfD - "Aktion für Deutschland" - nimmt diese Stimmungen teils taktisch, teils aus Überzeugung auf. Pöbeleien und Angriffe gegen Juden haben in Europa in den letzten Jahren zugenommen.

Neben dem Aufstieg von rechtspopulistischen oder rechtsradikalen Parteien und Bewegungen darf man auch eine Radikalisierung mancher Migrantengruppen nicht übersehen: Aufgrund von Ghettoisierung und Pauperisierung kam es nicht allein in den französischen Banlieues immer wieder zu Unruhen, meist durch Jugendliche (2005 vor allem bei Paris, 2007 in Villier-le-Bel, 2010 in Grenoble oder 2012 in Amiens). Auch in anderen Ländern kam es immer wieder zu sozial und kulturell bedingten Krisensituationen, die auf ein teilweises Scheitern früherer Integrationspolitik verwiesen. Ein besonderes Alarmzeichen stellt natürlich der gewachsene Jihadismus dar, der in Städten wie Madrid, London, Paris, Brüssel oder Kopenhagen bereits zu Terrorakten in Europa führte. Inzwischen sind auch bereits mehr als 3500 europäische Jihadisten (mehr als ein Drittel davon aus Frankreich, fast 700 aus Deutschland, etwa ebenso viele aus Großbritannien, gefolgt von Belgien) nach Syrien und in den Irak gereist, um sich dort extremistischen Gruppen wie dem "Islamischen Staat" oder der "Nusra-Front anzuschließen.

Zusammengenommen zeigen diese Phänomene des rechtsextremistischen oder rechtspopulistischen Aufschwungs bei gleichzeitiger Stärkung jihadistischer oder salafistischer Tendenzen in Europa nicht nur die kulturelle Bandbreite der europäischen Gesellschaften, sondern sind zugleich ein Krisensymptom, das auf grundlegende Probleme dieser Gesellschaften verweist.

 

Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Salafismus und Jihadismus sind zugleich politische, gesellschaftliche und kulturelle Phänomene. Sie verbindet eine holzschnittartige Freund-Feind-Zurechnung und die Projektion eigener oder gesellschaftlicher Probleme auf ein kollektives Feindbild. Bemerkenswert ist, daß die Feindseligkeit gegen bestimmte Gruppen offensichtlich nicht darauf angewiesen ist, daß diese größere Anteile an der Bevölkerung stellten oder dramatisch wüchsen. So liegt der Anteil von Juden in Frankreich bei knapp einem, in Deutschland unter einem Viertel Prozent der Bevölkerung, und der Anteil der Muslime in Sachsen - dem Bundesland, in dem die PEGIDA/LEGIDA-Bewegung die mit Abstand größte Bedeutung gewann - bei 0,1 Prozent. Zumindest in Deutschland scheint es also so zu sein, daß Islamfeindlichkeit dort am besten gedeiht, wo es praktisch keine Muslime gibt. Dies ist ein erster Hinweis darauf, daß die politisch-kulturell geprägte Wahrnehmung einer Gruppe wesentlich bedeutsamer ist, als die Relevanz oder der Charakter der fraglichen Gruppe in der Lebensrealität. Dies wiederum weist darauf hin, daß es in der Gesellschaft grundlegende Widersprüche und Probleme gibt, die auf bestimmte Personengruppen projiziert werden – je nach Kontext auf Ausländer, Juden, „Ungläubige“, Schwule oder Muslime. Deshalb sollten solche Phänomene politisch-kultureller Ab- und Ausgrenzung als Krisensymptome ernst genommen werden, ohne die entsprechenden Diskurse und Mentalitäten allerdings zum Nennwert zu nehmen oder aufzuwerten. Genau darin liegt auch die größte Schwierigkeit ihrer konstruktiven Bearbeitung: Es handelt sich bei Xenophobie oder Jihadismus  fraglos um politisch-kulturelle Phänomene, die aber nicht nur kulturell, sondern mit gesellschaftlichen und politischen Fragen aufs Engste verknüpft sind. Deshalb entziehen sie sich auch einer oberflächlichen Bearbeitung durch bloße Kulturpolitik, wie durch Bildungsangebote, Aufklärung, oder interkulturelle Dialoge. So sinnvoll all diese und andere Angebote und Maßnahmen auch sind, so wenig werden sie bewirken, wenn sie isoliert bleiben und nicht durch gesellschaftliche und politische Maßnahmen ergänzt werden.

Nehmen wir als Beispiel das Problem des zunehmenden Salafismus und Jihadismus in Europa. Diese werden inzwischen von drei sozialen Gruppen getragen: Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten, die sich nur zeitweise in Europa aufhalten; Kinder oder Enkel aus muslimisch geprägten Einwandererfamilien, die bereits hier geboren wurden und aufgewachsen sind; und europäische Konvertiten, die zum Islam konvertiert sind - wobei daran erinnert werden muß, daß Extremisten in allen drei Gruppen nur verschwindend kleine Minderheiten ausmachen. Dabei stellen quantitativ und qualitativ die radikalisierten Mitglieder der beiden letzten Gruppen das größere Problem dar. Dies bedeutet, daß in Europa Salafismus und Jihadismus zwar mit ausländischen und internationalen Problemen verknüpft sein mögen, aber keine importierten Phänomene sind, sondern den europäischen Gesellschaften selbst entspringen. Die Voraussetzungen und Bedingungen dieses Extremismus sind hausgemacht, nur ihre kulturelle Ausprägung direkt oder indirekt von Diskursen und Problemen im Nahen und Mittleren Osten oder Südasien beeinflußt. Ihre sozialen Träger in Deutschland sind meist entweder ethnische Deutsche, deutsche Staatsbürger oder zumindest Bildungsinländer - was auf sozio-kulturelle Brüche in der deutschen Gesellschaft verweist, die durch externe Konfliktfaktoren zwar vertieft, gefärbt und kulturell ausgedrückt werden können, aber nicht verursacht sind. In anderen europäischen Ländern, etwa Frankreich, Großbritannien oder Belgien ist es ähnlich, wenn dieser Trend auch in Großbritannien am schwächsten ausgeprägt zu sein scheint.

Betrachten wir die salafistische und insbesondere die jihadistische Szene in den meisten europäischen Ländern, dann fällt - im Unterschied zu vielen salafistischen Kadern im Nahen und Mittleren Osten - auf, daß der Anteil an problematischen Biographien hoch ist. In überdurchschnittlich vielen Fällen verfügen salafistische Extremisten, insbesondere jene, die sich al-Qaida-nahen Gruppen oder dem "Islamischen Staat" anschließen möchten oder mit ihnen sympathisieren, um wenig eindrucksvolle Bildungskarrieren, haben beruflich mäßigen oder geringen Erfolg, und nicht selten zumindest eine Phase (oft klein-) krimineller Aktivitäten hinter sich. Manche der heutigen salafistischen Anhänger und Jihadisten haben Erfahrungen mit Alkohol- oder Drogenmißbrauch und führten insgesamt ein Leben, das von ihren heutigen Idealen weit entfernt ist. Ich-Schwäche, Perspektivlosigkeit und das Empfinden des eigenen Scheiterns führen entweder zu einer aktiven Suche nach einer neuen, besseren Lebensperspektive, oder zur Offenheit gegenüber neuen, von außen kommenden Sinnangeboten, die ein "besseres" und „richtiges“ Leben versprechen. Dazu kommen immer wieder persönlich emotionale Faktoren, wie das Suchen nach Anerkennung, nach Nähe, nach einem Familienersatz durch eine reale peer-group und/oder eine gedachte Gemeinschaft der "Rechtgläubigen".

Offensichtlich gibt es nicht nur einen einzigen Weg zur Radikalisierung, und es ist ebenso klar, daß meist mehrere Faktoren zusammenkommen müssen. Es fällt aber doch auf, daß es sich bei der deutlichen Mehrheit politischer und jihadistischer Salafisten in Europa nicht um Intellektuelle, nicht um Ärzte und Rechtsanwälte, auch nicht um erfolgreiche Handwerker oder Geschäftsleute handelt, sondern eher um Personen, die sozioökonomisch, gesellschaftlich und z.T. kulturell objektiv oder subjektiv marginalisiert sind. Aus einer solchen Position der realen oder gefühlten Schwäche können die Angebote des politischen und jihadistischen Salafismus attraktiv erscheinen: Neben der Möglichkeit der Partizipation an einer peer-group von „Brüdern“ können sich die Mitglieder nun als „stark“, als eine Elite, als den Anderen (nämlich nicht-salafistischen Muslimen, Juden, Christen, Atheisten, Säkulare, der deutschen Gesellschaft) gegenüber als überlegen wahrnehmen. So wird in der eigenen Wahrnehmung und im eigenen Empfinden aus individuellen „losern“ eine kollektive Avantgarde – gerade für ich-schwache und sozial verunsicherte Personen eine attraktive Option. Die Nestwärme der verschworenen Gemeinschaft der peer-group „Brüder“ stabilisiert und wärmt, während der elitäre Anspruch, in einem Meer des Unglaubens unerschütterlich den wahren Glauben zu vertreten und dabei jedes Risiko auf sich zu nehmen, um ihm zum Durchbruch zu verhelfen, selbst gescheiterten Existenzen das Gefühl von Sinn und Wichtigkeit verleiht.

 

All dies sind im weiteren Sinne auch kulturelle Erscheinungen, wenn auch auf einer sehr persönlichen Ebene. Ihre Entstehungsbedingungen haben zuerst einmal nichts mit Gott oder mit Theologie zu tun, sie sind auch nicht Islam-spezifisch, sondern drücken Defizite aus, die auch sozial schwache nicht-muslimische Gruppen und Personen betreffen. Persönliche oder soziale Verunsicherung, objektive oder subjektive Perspektivlosigkeit, die Suche nach Sinn bei dem Gefühl von Sinnlosigkeit, Identitäts-oder Ich-Schwäche – all dies sind zuerst einmal säkulare Faktoren, die sich aus dem persönlichen oder gesellschaftlichen Kontext ergeben, und keine religiösen oder theologischen. Allerdings: diese Faktoren können die Tür zur religiösen (oder auch nicht-religiösen) Radikalisierung öffnen.

So ist es kein Zufall, daß viele der beschriebenen Faktoren der Radikalisierung auch bei Rechtsextremisten oder Hooligans eine wichtige Rolle spielen. Weitere Gemeinsamkeiten bestehen in einer Überbetonung von Maskulinität und "Stärke", der impliziten oder expliziten Abwertung von Frauen und "Anderen", der Abwertung außenstehender Gruppen, der Betonung von "Entschlossenheit", sowie Gewalterfahrung bzw. Gewaltaffinität.

Pointiert könnte man formulieren, daß Salafismus nur eine kulturell angepaßte Variante des Rechtsextremismus darstellt. Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei, Arabischen Ländern oder Pakistan werden es schwierig finden, als Verherrlicher der "Weißen Rasse" oder des "Germanentums" oder "Griechentums" aufzutreten, von den unvermeidlichen Glaubwürdigkeitsproblemen bzw. dem Akzeptanzproblem in der rechtsextremen Szene einmal abgesehen. Der salafistische bzw. jihadistische Extremismus stellt hier zur Erfüllung der gleichen psycho-politischen Funktionen einen vollwertigen Ersatz dar, der statt auf "Rasse" und "Deutschtum" auf eine bestimmte religiöse Gemeinschaft rekurriert - eine "imagined community" im Sinne von Benedict Anderson.

Rechtsextreme oder salafistische "Kultur" sind also keine isolierten Erscheinungen, sondern eng verknüpft mit persönlich-psychologischen, gesellschaftlichen und politischen Phänomenen, ohne die sie weder verstanden noch beeinflußt werden können.

Die zugrundeliegenden Probleme sind nicht ideologischer Art (etwa bestimmte Ausprägungen von Religion oder Nationalismus), sondern vor allem Orientierungslosigkeit, gesellschaftliche Unsicherheit, Perspektivlosigkeit und Identitätsschwäche. Ohne solche Faktoren, die zwar als individuelle erscheinen, aber gesellschaftliche Quellen haben, würden die Propagandisten extremistischer Ideologien kaum Chancen haben, mehr als einzelne Anhänger zu finden. Die Radikalisierung wird nicht über den Verstand in Gang gesetzt, sondern über psychologische Bedürfnisse, die entweder durch radikale Gruppenzusammenhänge oder radikale Ideologien befriedigt werden. So ist es auch kein Zufall, daß der größte Teil der Salafisten theologisch ausgesprochen ungebildet ist und eher vom elitär-exklusiven Anspruch des Salafismus und seiner intellektuellen Schlichtheit angesprochen werden als von theologischer Reflexion. Der Salafismus ist in Europa oft ein Mittel, die Gruppen von ihrer Umgebung abzugrenzen und die Gruppenidentität zu schärfen, die Gruppenmitglieder von ihrer Umgebung und der Gesellschaft zu isolieren - und dazu sind extremistische Übertreibungen von Vorteil, während theologische Feinheiten wenig zielführend wären. Der politische und jihadistische Salafismus sind zuerst einmal politisch-soziale Bewegungen, ihre religiösen Aspekte dem nachgeordnet - wenn man die Realität dieser Gruppen zum Maßstab nimmt, nicht ihre Propaganda.

Genauso drücken die Aktivitäten der islamfeindlichen PEGIDA/LEGIDA-Bewegungen nur nebenbei Islamfeindlichkeit aus, sondern viel mehr: Eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit, eine Unzufriedenheit mit dem politischen System, den deutschen Parteien und politischen Bedingungen und eine allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung. Das ist auch der Grund dafür, daß in Dresden und Leipzig die Islamfeindlichkeit sehr gut ohne Muslime auskommt - letztlich ist sie nur ein kultureller Marker, um eine viel breitere und tiefere Krise der Befindlichkeit auszudrücken. Selbst wenn die Zahl der Muslime in Sachsen von 0,1 Prozent ganz auf null sinken würde, dürfte dies an der gesellschaftlichen Verunsicherung großer Teile der sächsischen Bevölkerung kaum etwas ändern. Der Unterschied zur salafistischen Szene besteht offensichtlich darin, daß PEGIDA ausgesprochen heterogen ist und über keine gemeinsame, integrierende Ideologie verfügt, dazu Vorurteile und Stimmungen aus der Mitte der Gesellschaft aufgreift. Xenophobie, Parteienfeindlichkeit, Unbehagen und Angst vor dem "Anderen", die Ablehnung "derer da Oben" oder Skepsis gegenüber den Massenmedien sind sicher in großen Teilen der Gesellschaft verbreitet - das Spezifische an PEGIDA besteht vielmehr darin, solche Befindlichkeiten zu kombinieren, emotional aufzuladen und zur Mobilisierung zu nutzen. Die ideologischen Details der PEGIDA-Szene sind nebensächlich, der Ausdruck von Unbehagen und Protest zentral. Es ist deshalb kein Wunder, daß bei der Spaltung der Bewegung ein Teil innerhalb weniger Tage das zentrale Themenfeld von "Islamfeindlichkeit" auf die "Stärkung direkter Demokratie" verschieben konnte. Die Geschwindigkeit dieses Themenwechsels hat Teile der Anhängerschaft taktisch überfordert, ist aber ein Hinweis darauf, mit welcher Beliebigkeit das gesellschaftliche Unbehagen sich ideologisch unterschiedlich auszudrücken vermag.

 

Überlegungen, die kulturellen Erscheinungen wie Fremdenfeindlichkeit, politischen Salafismus und ideologische Radikalisierung insgesamt zurückzudrängen oder ihnen vorzubeugen, sollten nicht an den Symptomen ansetzen, sondern an der Krankheit. Das bedeutet, daß eine rein kulturelle Reaktion zu kurz greifen würde, sondern daß kulturpolitische Maßnahmen mit politischen und sozialpolitischen verknüpft werden sollten. Antisemiten über das Judentum oder Islamfeinde über islamische Theologie oder Gebräuche aufklären zu wollen, wären für sich genommen so aussichtlos wie Rassisten gegenüber wissenschaftlich nachzuweisen, daß Rassismus unsinnig und falsch ist. Die Extremisten wurden schließlich nicht durch Wissenslücken, durch Argumente und logische Abwägungen zu solchen, sondern in der überwältigenden Mehrheit durch eine Mischung von persönlichen oder emotionalen Bedürfnissen, individueller und kollektiver Identitätsbildung und gesellschaftspolitische Verunsicherung, die sich schließlich eine politisch-ideologische Form gaben. Eine Auflockerung oder ein Aufbrechen des ideologischen Panzers der extremistischen Basis (nicht unbedingt der Führungskader, deren Ideologisierung sich oft verfestigt und verselbständigt hat) muß auch diese nicht-ideologischen Dimensionen einbeziehen. Langfristig ist es wichtig, die Bedingungen zu bearbeiten, die eine Radikalisierung hervorrufen. Und da tatsächliche oder empfundene Marginalisierung, Sinnentleerung und mangelnde soziale Einbettung in den meisten Punkten zu den Ausgangspunkten der kulturell-politischen Radikalisierung gehören, sollten diese Punkte bei der Entwicklung von präventiven und kurativen Deradikalisierung besondere Aufmerksamkeit erhalten. Extremistische Propaganda - rassistische, nationalistische, oder jihadistische - wirkt nicht auf alle Menschen gleich, sondern radikalisiert nur solche, für die sie eine emotional nützliche Funktion erfüllt. Erfolgreiche Menschen mit einer positiven Lebensperspektive werden in Europa von rassistischer oder jihadistischer Propaganda kaum erreicht, weil diese für sie kaum Sinn ergibt. Die primäre Zielgruppe für Präventionsprogramme gegen Radikalisierung sind in Deutschland Gruppen, deren Lebenssituation von Unsicherheit, geringem Sozialprestige, Sorgen vor den zukünftigen Ergebnissen sozialen Wandels, Angst vor potentieller oder realer gesellschaftlicher Marginalisierung und Isolation geprägt sind. Genau diese Gruppen sind aufgrund ihres oft unterdurchschnittlichen Bildungsniveaus (nicht unbedingt aufgrund geringer Intelligenz) besonders schwer durch rein kulturelle Angebote zu erreichen. Sie radikalisieren sich nicht, weil sie von vornherein das Bedürfnis dazu hätten, sondern weil ihnen ihre Radikalisierung scheinbare oder wirkliche Lösungen zur Kompensation ihrer biographische Fragilität anbietet. Es wäre daher angebracht darüber nachzudenken, wie sich in den europäischen Gesellschaften der Anteil jener vermindern läßt, die an den Rand der Gesellschaft geraten oder dort verbleiben. Soziale Inklusion auch schwächerer Bevölkerungsgruppen - auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem, kulturell - und die Verbesserung der Lebensperspektiven auch von Menschen mit fragilen Biographien sind nicht einfach zu erreichen, wären aber der Kernpunkt einer präventiven Deradikalisierung. Dies gilt nicht allein für Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei oder arabischen Ländern, sondern auch für Problemviertel großer Städte, etwa in Teilen von Paris, Brüssel, Ostdeutschlands oder des Ruhrgebiets. Es geht dabei nicht nur darum, Entwicklungen wie in den französischen Banlieues zu verhindern, sondern das seit Jahren in Europa stattfindende Auseinanderdriften von Arm und Reich und die Verarmung eines Teiles der deutschen Gesellschaft umzukehren. Soziale Unsicherheit ohne Aussicht, die eigene Lage mittel- oder längerfristig verbessern zu können, führt nicht nur auf Dauer bei den Betroffenen selbst zu sozio-ökonomischer, politischer und kultureller Marginalisierung, sondern untergräbt die Legitimität der Gesellschaft und des politischen Systems. Beides zusammengenommen würde Radikalisierungsprozesse weiter erleichtern und die Zahl potentieller Rekruten vergrößern. Sollte es dagegen gelingen, den Anteil sozio-ökonomisch prekär Lebender und Marginalisierter an der Bevölkerung deutlich zu vermindern, wäre dies ein wichtiger Beitrag zur langfristigen, präventiven Deradikalisierung. Auf einer solchen Basis entständen dann auch neue Möglichkeiten, durch "kulturpolitische" Intervention radikale Ideologien zurückzudrängen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß es immer einzelne Personen gibt und geben wird, die extremistische Positionen vertreten - ob diese aber eine winzige und isolierte Gruppe von "Spinnern" bleiben oder schrittweise Anhänger gewinnen und zu einem politische relevanten Faktor werden, hängt davon ob, ob ihre Gesellschaft funktioniert und alle Gruppen integriert, ob das politische System legitim ist oder von breiteren Teilen der Bevölkerung als Fremdkörper empfunden wird. Im Rahmen einer fairen und funktionierenden Gesellschaft und einer unbestritten legitimen Form von Politik vermag Aufklärung über Minderheiten, über religiöse oder ethnische Gruppen und Dialoge zum Abbau von Konflikten einen wirksamen Beitrag leisten. Ohne diese Voraussetzungen aber muß ihre Wirkung begrenzt bleiben.

Quelle:

Jochen Hippler
Dschihadismus, Integration und Kultur,
in: Kulturreport - EUNIC-Jahrbuch 2014/2015, Herausgeber: EUNIC, Institut für Auslandsbeziehungen e.V. (ifa), und Europäische Kulturstiftung (ECF) Amsterdam, Stuttgart 2015, S. 10-16