Jochen Hippler

Bedingungen, Kriterien und Grenzen militärischer Interventionen

 

 

Seit dem Ende des Kalten Krieges wird die Bundeswehr am Boden, zu Wasser und in der Luft in zunehmendem Maße außerhalb des NATO-Gebietes eingesetzt. Diese Einsätze erfolgten in unterschiedlichsten Regionen und politischen Zusammenhängen und zu sehr verschiedenen Zwecken, die von humanitärer Hilfeleistung über Peace-Keeping bis zu Kampfeinsätzen reichten. Von einer Streitkraft zur Abschreckung und potenziell Landesverteidigung wurde die Bundeswehr zu einer „Armee im Einsatz“ umgebaut, die heute weltweit eingesetzt wird.

In diesem Beitrag geht es nicht um alle möglichen Einsatzformen der Bundeswehr im Ausland, sondern nur um solche, die eine Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt implizieren. Rein humanitäre Hilfe (etwa durch Lieferung von Zelten oder Nahrungsmitteln) oder die bloße Beobachtung eines Waffenstillstandes beispielsweise werden hier nicht thematisiert, da dies den Interventionsbegriff überdehnen würde.

Parallel zur Zunahme der Auslandseinsätze verschoben sich deren Begründungen von eher altruistischen zu stärker interessengeleiteten Diskursen: Während zu Beginn des Transformationsprozesses (Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre) vor allem davon die Rede war, dass es durch Bundeswehreinsätze im Rahmen der UNO vor allem darum gehe, die UNO zu stärken, verlagerte sich der Begründungskontext in den 1990er Jahren bald zu humanitären Argumenten. Unter der rot-grünen Bundesregierung wurden schließlich die eher unbestimmten Begriffe „Stabilität und Sicherheit“ (der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder) zur Rechtfertigung des Afghanistan-Einsatzes herangezogen, parallel dazu wurden die „nationalen Interessen“ immer stärker argumentativ betont, so auch im neuen Sicherheitspolitischen Weißbuch: „Die Bundesregierung wird daher auch künftig in jedem Einzelfall prüfen, welche Werte und Interessen Deutschlands den Einsatz der Bundeswehr erfordern.“[1]

Zugleich wurden die Einsatzformen immer „robuster“: 1995 gab es durch Aufklärungstornados in Bosnien den ersten Kampfeinsatz, 1999 gegen Serbien die erste Anwendung direkter bewaffneter Gewalt.

Hinter den offiziellen Interventionsbegründungen verbargen sich von Anfang an auch Interessen, die wenig oder nichts mit den jeweiligen Regionalkonflikten zu tun hatten: Bündnistaktische Erwägungen im Rahmen der NATO oder gegenüber Washington, die Herstellung militärischer Kooperationsfähigkeit im Rahmen der gemeinsamen Europäischen Sicherheitspolitik, die Demonstration außen- und sicherheitspolitischer „Handlungsfähigkeit“ oder die Absicht, das Projekt eines deutschen Sitzes im UN-Sicherheitsrat zu fördern, spielten eine bedeutende Rolle bei der Entscheidung über militärische Auslandseinsätze, auch wenn solche Gründe meist diskreter behandelt wurden als humanitäre Argumente.

Aufgrund des immer weiter wachsenden Gesamtumfangs der Bundeswehreinsätze, der durch ihre steigende Zahl und die unerwartet lange Dauer der meisten Einsätze (Balkan, Afghanistan) verursacht wird, und wegen wachsender Zweifel an ihrem Erfolg lässt sich in letzter Zeit eine zunehmende Skepsis gegenüber zusätzlichen Verpflichtungen, der Ausweitung bestehender oder sogar der Sinnhaftigkeit laufender Einsätze beobachten.

Der Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei (Grüne) fasst diese Verschiebung der politischen Diskussion folgendermaßen zusammen:

„Seit 2003 wächst die Ernüchterung im Hinblick auf Dauer, Wirksamkeit und Perspektiven von Auslandseinsätzen. … Inzwischen besteht der Eindruck einer regelrechten Inflation von Auslandseinsätzen und wachsender Überforderung: in der Öffentlichkeit; in der Politik, die inzwischen mehrere Großkrisen gleichzeitig … im komplizierten multilateralen Verbund bewältigen muss; unter Soldaten, wo sich angesichts ausbleibender Fortschritte in Krisenregionen Einsatzfrust ausbreitet. ... Der bisherige vermeintliche sicherheitspolitische Konsens bröckelt immer schneller.“[2]

Die Ausgangspunkte des Umdenkens liegen in der Gefahr einer personellen Überforderung der Truppe, in zweiter Linie in den Folgen für den Bundeshaushalt (so auch Bundesverteidigungsminister Jung, CDU, in seiner Rede zum Verteidigungshaushalt im September 2006)[3], zusätzlich auch im Eindruck, dass die Militäreinsätze bisher nicht immer die gewünschten Ergebnisse zeitigten. Dies führt parteiübergreifend zu:

·         wachsender Zurückhaltung bezüglich neuer Zusagen;

·         erkennbarem Widerwillen, bestehende Einsätze stärker in Richtung Kampfeinsätze zu verschieben (Afghanistan: etwa durch Verlegung von Truppen in den Süden oder durch Unterstellung unter US-Kommando);

·         zunehmenden Forderungen, dass militärische Auslandseinsätze nur noch bei einem tragfähigen „Gesamtkonzept“ unternommen werden dürften; und

·         breitem Nachdenken über „Kriterien“, die zukünftigen Einsatzentscheidungen zugrunde liegen sollten.[4]

Das angesprochene Umdenken ist nicht abgeschlossen und es ist nicht sicher, dass es fortgesetzt oder zu grundlegenden neuen Ansätzen der Militär- und Sicherheitspolitik führen wird. Es erbrachte bisher nur eine gewisse Vorsicht der Entscheidungsträger, aber noch keinen belastbaren neuen Konsens oder politisches Umsteuern. Deshalb sind gegenwärtig zusätzliche Einsätze der Bundeswehr oder die Veränderung deren Rolle nicht ausgeschlossen, dürften aber einen größeren Druck durch die USA, die NATO, EU oder andere wichtige Akteure erfordern als in der Vergangenheit.

Die aktuelle Diskussion erfolgt vor allem auf zwei, miteinander verbundenen politischen Ebenen: Erstens geht es um Kriterien zum Beschluss von Militäreinsätzen und zweitens um ein dafür notwendiges politisches Gesamtkonzept, wie es bereits vom SPD-Parteitag 2003 gefordert wurde.[5]

 

Die Notwendigkeit von Kriterien

Die Entwicklung von Entscheidungskriterien für militärische Interventionen muss sehr unterschiedliche Fragen klären, die von den rechtlichen Voraussetzungen über ihre Notwendigkeit bis zur Konzeption und Umsetzungsmöglichkeit reichen.

Eine Reihe dieser Fragen werden in letzter Zeit quer durch das politische Spektrum diskutiert, vom Grünen Abgeordneten Winfried Nachtwei[6], über den CDU-Abgeordneten Andreas Schockenhoff[7] bis hin zur CSU-Landesgruppe im Bundestag.[8] Die FDP und die PDS haben dabei besonders pointierte Positionen übernommen. Eher indirekt und mit Blick auf die Folgen militärischer Interventionen für die Entwicklungspolitik haben auch die kirchlichen Hilfswerke Misereor, Brot für die Welt und der Evangelische Entwicklungsdienst Stellung genommen.[9] Dabei fällt auf, dass ungeachteter parteipolitischer Zugehörigkeit zunehmend betont wird, dass Militäreinsätze weder selbstverständlich noch prinzipiell erstrebenswert sind. In den Worten eines Beschlusses der CSU-Landesgruppe von Anfang 2007:

„Der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der internationalen Krisenbewältigung darf (…) keinem Automatismus unterliegen. Die Bundeswehr kann und soll nicht die Rolle eines überall präsenten Weltpolizisten übernehmen. Schon aufgrund begrenzter personeller, militärischer und finanzieller Ressourcen ist eine selektive Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Missionen unausweichlich. … Die Anzahl der Auslandseinsätze muss überschaubar bleiben. … Einsätze müssen ein eindeutig definiertes, erreichbares Ziel verfolgen. … Der Einsatz muss in seinen Risiken berechenbar sein und daher möglichst räumlich, zeitlich und dem Umfang nach begrenzt bleiben.“[10]

Solche Hinweise sollten sehr ernst genommen werden. Da militärische Interventionen schwerwiegende ethische, rechtliche, politische und praktische Fragen aufwerfen, sollten sie nur in seltenen Ausnahmefällen erwogen und aufgrund eines seriösen Entscheidungsprozesses beschlossen werden. Dazu müssen vor Beginn ihrer Erörterung fallunabhängige Kriterien erarbeitet werden, die entsprechende Entscheidungen anleiten und rational organisieren helfen.

 

Völkerrecht

Ein erstes Kriterium für Interventionen muss deren völkerrechtsgemäßer Charakter sein.[11] Dies bedeutet, dass sie aufgrund des Kapitel VII der UNO-Charta erfolgen müssen. Dies sind strenge Maßstäbe, die nicht allein durch Washington und seine „Koalition der Willigen“ im Falle des Irakkrieges missachtet wurden, sondern bereits beim Krieg der NATO gegen Serbien im Jahr 1999. Aufgrund moralischer Extremsituationen besteht manchmal die Versuchung, sich über die völkerrechtlichen Vorschriften hinwegzusetzen. Dies kann einerseits dadurch geschehen, dass man eine Art „außergesetzlichen Notstand“ postuliert, der oberhalb des Völkerrechts angesiedelt sei, oder indem man das Völkergewohnheitsrecht bemüht, um das kodifizierte Völkerrecht auszuhebeln. Danach würden durch mehrere Präzedenzfälle, bei denen ohne Grundlage der UNO-Charta militärisch interveniert wird, solche Interventionen zunehmend legitimiert und schließlich völkerrechtsgemäß, wenn ihnen nicht widersprochen wird. Beide Möglichkeiten werfen schwerwiegende Fragen auf: Im ersten Fall wird der Willkür mächtiger Akteure (kleine Staaten verfügen kaum über die Möglichkeit militärischer Intervention) Tür und Tor geöffnet, da das Postulat eines dem Völkerrecht übergeordneten Notstandes gerade nicht in der UNO überprüft wird, sondern zu deren Umgehung dienen soll. Wollte man ein solches Verfahren akzeptieren, stellte man den Großmächten einen Blankoscheck aus, fast nach Belieben Interventionsvorwände zu formulieren. Dass diese aber mit der Wahrheit allgemein und ihren tatsächlichen Interventionsgründen recht großzügig umgehen, darf nicht erst seit der US-Manipulierung der Irakkriegsgründe („irakische Massenvernichtungswaffen“) als gesichert gelten. Die Nutzung des Völkergewohnheitsrechts andererseits wirft, darauf wies Lothar Brock überzeugend hin, das Problem auf, das „Völkerrecht durch Rechtsbruch weiterentwickeln zu wollen“.[12]

Mit „moralischen“ Begründungen zum Zwecke militärischer Intervention das Völkerrecht zu brechen oder umgehen zu wollen, dient mittel- und langfristig keinen humanitären Zwecken, sondern entgrenzt die Möglichkeiten militärischer Interventionen allgemein, schwächt das Völkerrecht als Mittel der Konfliktregelung und damit auch humanitäre Ziele. Deshalb sollte die Beachtung des Völkerrechts eine selbstverständliche Voraussetzung sein, über Militärinterventionen auch nur nachzudenken.

 

Gründe und Begründung

Militärische Interventionen sind ein klassisches Mittel der Machtpolitik. Sie sollten deshalb aus friedenspolitischen Gründen prinzipiell mit Misstrauen betrachtet werden. In einigen, seltenen und eng umgrenzten Fällen können sie allerdings ausnahmsweise als legitim und sogar geboten gelten, insbesondere bei Völkermord und ethnischen Säuberungen. Dabei bedeutet eine solche Legitimität nicht automatisch auch Legalität und impliziert auch nicht, dass andere Kriterien überflüssig wären: Die Wünschbarkeit und prinzipielle Notwendigkeit einer Maßnahme bedeutet nicht automatisch, dass eine solche auch möglich oder gar erfolgreich sein muss. Es kann aber festgehalten werden, dass militärische Interventionen nur dann legitim sein können, wenn einerseits Notlagen wie Völkermord oder ethnische Säuberungen von statten gehen und zugleich andere Mittel der Abhilfe gescheitert oder aussichtslos sind. Solche Gründe stellen eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung einer Intervention dar.

Ein wichtiges Problem beim Umgang mit diesem Kriterium besteht allerdings darin (wenn wir von der Frage absehen, ob eine solche Notlage tatsächlich besteht oder nur behauptet wird), dass es zu unterscheiden gilt, ob etwa ein Völkermord tatsächlich der Grund der Intervention ist, oder nur zum Anlass genommen wird, um eine machtpolitisch intendierte Militäroperation zu rechtfertigen. Im letzteren Fall würde der Völkermord nur zu anderen Zwecken instrumentalisiert, was eine humanitäre Absicht unglaubwürdig macht und eine Intervention von der humanitären Notwendigkeit wegorientieren würde.

 

Multilateralismus

Militärische Interventionen sollten – wenn sie notwendig und legal sind – prinzipiell multilateral erfolgen. Bei Einsätzen im Rahmen der UNO oder von Regionalorganisationen wie der OSZE oder der Afrikanischen Union ist dies ohnehin eine Selbstverständlichkeit. Der multilaterale Charakter kann nicht allein die Legitimität einer Intervention unterstreichen, sondern auch nationale Eigeninteressen dämpfen oder begrenzen. Informelle „Koalitionen der Willigen“ oder Interventionen durch Militärbündnisse (im Unterschied zu Systemen wechselseitiger kollektiver Sicherheit) sind zwar prinzipiell ebenfalls multilateral und möglicherweise militärisch effizienter (etwa die NATO), neigen aber zur Selbstmandatierung an der UNO vorbei, sind nicht selten selbst Partei und repräsentieren nur selten die internationale Gemeinschaft, sondern in der Regel eine Gruppe von Nationalstaaten. Militärische Interventionen sollten deshalb ausschließlich im Rahmen von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit wie der UNO oder vergleichbaren Regionalorganisationen wie OSZE oder AU erfolgen.

 

Konzeptionelle Voraussetzungen

Ein entscheidendes Kriterium für eine prinzipiell gebotene Militärintervention muss darin bestehen, dass sie ihr Ziel auch tatsächlich erreichen kann. „Gut gemeint“ ist beim Umgang mit dem sensiblen Instrument militärischen Zwangs nicht gut genug. Eine konzeptionslose oder improvisierte Intervention wird ihren friedenspolitischen Zweck nicht nur leicht verfehlen, sondern darüber hinaus eine instabile und gewaltträchtige Situation weiter destabilisieren, wie sich nicht nur in Somalia und im Irak gezeigt hat.

Aus diesem Grund sind die zunehmenden Forderungen, dass Militärinterventionen nur mit einem seriösen „Gesamtkonzept“ erfolgen dürfen, tatsächlich von hoher Bedeutung. Es reicht bei weitem nicht aus, als Ziel einer Operation den „Frieden“, ein „Ende des Völkermordes“ oder einen „Stopp der Vertreibungen“ zu proklamieren und auf dieser Basis bewaffnete Truppen zu entsenden.

Erstens müssen die allgemeinen Einsatzziele in eine konkrete militärische Strategie operationalisierbar sein und operationalisiert werden, wozu Ziele wie „Frieden“, „Sicherheit“ und „Stabilität“ in praktikable Unterziele ausdifferenziert werden müssen, die dann mit spezifischen Taktiken und Instrumenten verknüpft werden.

Zweitens darf nicht vergessen werden, dass militärische Mittel einen Konflikt nur selten dauerhaft lösen können, sondern in der Regel nur Zeit verschaffen, um eine politische Lösung zu erreichen. Militär kann nur vorübergehend den Grad von Sicherheit in einem Zielland erhöhen – wenn diese Situation nicht zeitnah im Rahmen eines politischen Gesamtkonzeptes genutzt wird, werden auch die Fortschritte im Sicherheitsbereich nur kurzzeitig bleiben.

Deshalb muss eine zentrale Voraussetzung einer militärischen Intervention im Vorhandensein einer tragfähigen politischen Strategie bestehen, in die die militärischen Mittel in dienender Funktion eingefügt werden müssen. Anders ausgedrückt: Die militärischen Komponenten müssen einem politischen Konzept streng untergeordnet sein, wenn sie zum übergeordneten Ziel führen sollen.

Drittens geht es aber nicht allein darum, irgendeine Strategie zu formulieren, sondern eine, die im konkreten Fall auch tatsächlich funktioniert –  und das:

  • bei verantwortbaren humanitären Kosten: Militärische Einsätze können nicht nur humanitäre Notlagen lindern oder beseitigen, sondern auch selbst eine größere Zahl von Opfern kosten;

  • bei akzeptablem personellen und finanziellen Engagement: Da trotz aller humanitärer Argumente solche Fragen bei Interventionsentscheidungen oft zentral sind;

  • bei kalkulierbarem und vertretbarem Risiko für die Interventionstruppen und die Entsendeländer;

  • bei Aufrechterhaltung der politischen Unterstützung für die Intervention in den Entsendeländern trotz dauerhaften Belastungen und zu erwartenden Rückschlägen; und vor allem:

  • auf der Basis der gesellschaftlichen und politischen Realitäten im Zielland.

Das überzeugendste Gesamtkonzept wird nutzlos bleiben, wenn es aufgrund der innenpolitischen Bedingungen in den intervenierenden Ländern politisch nicht durchgehalten werden kann oder an den Gegebenheiten in der Krisenregion vorbeigeht.

 

Aufgaben und Ansatzpunkte eines Gesamtkonzepts

Wir lassen hier relativ einfache militärische oder militärisch-zivile Operationen mit meist reinem Hilfscharakter (etwa bei Naturkatastrophen oder der Verteilung von Nahrungsmitteln) beiseite, die im Zielland in der Regel unumstritten sind und unser Thema – den Einsatz militärischer Zwangsmittel – ohnehin nur am Rande berühren. Im Kontext von Bürgerkriegen, Aufständen oder zerfallener Staatlichkeit sind weit komplexere Aufgaben zu bewältigen. Hier bestehen häufig konzeptionelle Zielkonflikte und Widersprüche, die nicht leicht aufzulösen sind: etwa zwischen der notwendigen Eigensicherung der Truppen und dem Versuch, die Sympathie der örtlichen Bevölkerung zu gewinnen; zwischen dem Bemühen um Neutralität und dem Effekt einer Intervention, manche örtlichen Gruppen zu stärken und andere zu schwächen; zwischen dem Bestreben, durch die Intervention regionale oder globale Stabilität zu fördern und den Bedürfnissen der direkt betroffenen Gesellschaft; zwischen humanitären, politischen und militärischen Zielen und Mitteln; und zwischen Zielen und Mitteln der verschiedenen internationalen Akteure sowie zwischen diesen und den lokalen – um nur einige zu nennen. Sobald vor Ort – insbesondere gewaltsame – Widerstände zu verzeichnen sind oder Opfer unter der Zivilbevölkerung eintreten („Kollateralschäden“, Abu Ghraib, etc.) spitzen sich solche Widersprüche noch zu. Bewaffnete Einheiten in instabile und (akut oder potenziell) von Gewalt geprägte Situationen zu entsenden, ohne zuvor ein Konzept entwickelt zu haben, wie mit diesen und anderen Problemen umzugehen ist, wäre nicht verantwortbar, weder für das Zielland, noch für die eigenen Truppen.

Insgesamt ist bemerkenswert, dass die Arbeit an zivil-militärischen Gesamtkonzepten bis heute fragmentarisch ist oder eher auf der taktischen Ebene verbleibt (etwa in Form der Provincial Reconstruction Teams, PRT, in Afghanistan), wenn sie nicht nur beschworen, aber faktisch ignoriert wird: Das sicherheitspolitische Weißbuch der Bundesregierung (2006) beispielsweise schweigt sich dazu vollkommen aus und behandelt stattdessen nur Fragen der bürokratischen Koordination, ohne die Kernfrage nach dem Inhalt dieser – natürlich sinnvollen – Koordination auch nur zu stellen.

Betrachten wir die reale Politik im Rahmen militärischer Interventionen der letzten Jahre, so lassen sich trotz sehr schwacher Basis an ausformulierten Konzepten doch Konzeptfragmente identifizieren, die sich überwiegend in trial-and-error-Prozessen herausbildeten. Am deutlichsten sind diese auf dem Balkan und in Afghanistan erkennbar. Dabei stellt sich heraus, dass sich die meisten dieser Fragmente in der Realität und auf der Ebene politischer Erklärungen um Ansätze von Nation-Building bzw. den Aufbau staatlicher Strukturen gruppieren.[13] Sie basieren meist auf den Grundannahmen, dass (a) externe Interventen ein Land nicht auf Dauer kontrollieren können oder sollen, dass (b) die Funktion der Kontrolle – insbesondere zur Erreichung von innergesellschaftlicher Stabilität – deshalb durch einheimische Akteure gewährleistet werden muss, und dies (c) am besten durch einen funktionierenden Staatsapparat erreichbar sei. Damit wird der Auf- oder Umbau staatlicher Strukturen zum Kernpunkt der Interventionsstrategie, die allerdings noch um unterschiedliche Aspekte bereichert wird: (d) müssen die zentralen entwicklungspolitischen Herausforderungen (Armutsbekämpfung, Infrastruktur, Grundbedürfnisbefriedigung, wirtschaftliche Entwicklung, etc.) gemeistert werden, um den state-building Prozess zu ermöglichen, (e) sollte der gesellschaftliche Zusammenhalt auch unterschiedlicher (z.B. ethnischer oder religiöser) Gruppen gefördert werden, und (f) die neue Staatlichkeit nicht nur funktionieren, sondern möglichst auch demokratisch sein und die Kriterien von good governance erfüllen. Es ließen sich noch weitere Aspekte anführen, die beim Aufbau von neuer Staatlichkeit allgemein für dringlich gehalten werden, aber das ist an dieser Stelle unerheblich. Für uns kommt es hier auf zweierlei an: erstens auf die Zentralität des State-Building als Kernpunkt von Nation-Building im Rahmen von komplexen Interventionsprojekten (wodurch Stabilität, Kontrolle und potentiell externe Dominanz durch Systemexport und die Abhängigkeit des neuen Staates von äußerer finanzieller, personeller und militärischer Unterstützung erreicht werden mögen), und zweitens die Tatsache, dass unterhalb dieser sehr allgemeinen Strategieebene vieles ungeklärt und vage bleibt: Ist Nation-Building letztlich Ziel oder Mittel? Wie soll bei Widersprüchen von effektivem State-Building und dem Wunsch nach Demokratie verfahren werden? Wie kann local ownership unter Bedingungen externer Dominanz oder gar Besatzung sichergestellt werden? Wie kann eine dauerhafte Abhängigkeit vom Ausland vermieden werden? Wie sind die sicherheitspolitischen Absichten der Interventen (z.B. Selbstschutz der Truppen, Bekämpfung von Terrorismus oder feindlicher Gruppen) mit der Etablierung eines lokalen, souveränen und stabilen Staates zu vereinbaren, der die Akzente vielleicht aufgrund lokaler Bedingungen anders setzen müsste oder gerne würde? Ohne Klarheit in diesen und anderen Fragen und ein einigermaßen geschlossenes Gesamtkonzept besteht die große Gefahr der wechselseitigen Blockade unterschiedlicher Politikelemente und Akteure, der Lähmung und eines instabilen oder langsam desintegrierenden Politikergebnisses. Der Irak und Afghanistan sind warnende Beispiele des damit verbundenen Risikos.

 

Bedingungen im Zielland

In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass ein solches, unverzichtbares politisches Gesamtkonzept nur funktionieren kann, wenn es die Bedingungen im Zielland zum Ausgangspunkt nimmt. Um beim Beispiel externen Nation-Buildings zu bleiben: Ein Nationalstaat kann einem fremden Land nicht von außen gegen seinen Willen aufgezwungen werden. Ein solches Projekt wäre kolonialer Natur und wenig stabil, sicher kein Weg der Friedensförderung. Erfolgreiches und stabiles Nation-Building setzt voraus, dass ein Staatsbildungsprojekt aus der eigenen Gesellschaft heraus getragen wird – was dann von außen unterstützt werden kann.

Wer also State-Building oder Nation-Building ins Zentrum seiner Interventionspolitik rückt (ob gewollt oder mangels Alternativkonzept) sollte auch angeben können, welche konkreten und organisierten Gruppen und Sektoren der Bevölkerung dieses Projekt tragen. Warlords und bewaffnete Widerstandsgruppen kommen aus politischen Gründen selten in Frage, eine allgemeine, diffuse Stimmung in der Landbevölkerung reicht nicht aus. Eine selbstbewusste und ökonomisch gefestigte Mittelschicht ist als Trägergruppe einer (vorzugsweise demokratischen) Staatsbildung am ehesten vorstellbar – in manchen Ländern ist diese Gruppe aber extrem schwach (z.B. in Afghanistan) oder gar Trägerin anti-westlicher, z.T. islamistischer Strömungen, die die Interventen oft gerade von der Macht fernhalten möchten. Wer also eine Strategie der Staatsbildung in einem Drittland mit bewaffneten (und zivilen) Kräften betreiben möchte, sollte zumindest angeben können, auf welche Teile der Bevölkerung man sich dabei glaubt zuverlässig stützen zu können – sonst wird die Intervention zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang.

Allgemeiner ausgedrückt: Jede Intervention braucht als Erfolgsvoraussetzung eine stabile, tragfähige gesellschaftliche Basis im Zielland. Deren Vorhandensein ist ein wichtiges Kriterium bei jeder Entscheidung über Intervention.

 

Exitstrategie

Zu den Interventionskriterien gehört eine geplante Exitstrategie. Militärische Truppen in ein fremdes Land zu entsenden ist nur verantwortbar, wenn man weiß, wie und unter welchen Umständen sie auch wieder abgezogen werden können. Dabei geht es nicht um eine Fluchtoption oder die Planung des eigenen Scheiterns, sondern darum angeben zu können, wie und unter welchen Umständen ein späterer Abzug durchgeführt werden kann, der weder die eigenen Truppen gefährdet, die ursprünglichen Einsatzziele nicht konterkariert, noch das Zielland zusätzlich destabilisiert. Erforderlich ist nicht ein fester Zeitplan des Abzuges, sondern seine Konzeptionierung. Es reicht nicht aus zu formulieren, dass die Truppen „nach Ereichung des Einsatzziels“ abgezogen werden sollen, da dies trivial und inhaltsleer wäre. Militärische Interventionen können sonst leicht eine Tendenz zur Selbstverewigung entwickeln, da sie selten friktionslos verlaufen.

 

Evaluierung

Schließlich sollte ein Beschluss über militärische Intervention gerade wegen deren Komplexität immer eine Verpflichtung zur begleitenden und abschließenden Evaluierung durch unabhängige Wissenschaftler bzw. Gutachter beinhalten. Wenn mit gutem Grund beispielsweise entwicklungspolitische Maßnahmen und Programme seit langem routinemäßig evaluiert werden müssen, um Stärken und Schwächen zu identifizieren und die Konzepte und Instrumente weiter zu entwickeln und zu optimieren und die Widerholung von Fehlern zu vermeiden, muss dies mindestens im gleichen Maße beim Einsatz militärischer Einheiten gelten, die in der Regel weit risikoreicher und finanzintensiver sind. Es sollte also die Regel gelten, keinen Militäreinsatz zu beschließen, ohne zugleich eine begleitende und bilanzierende Evaluierung durch externe Fachleute vorzuschreiben, die nicht allein die Effizienz und das Kosten-Nutzen-Verhältnis, sondern insbesondere den Grad der Zielerreichung zu untersuchen hätte.

 

Fazit

Militärische Interventionen sind sensible Instrumente der Sicherheits-, Friedens- und Außenpolitik. Sie dürfen nicht zum normalen Instrument internationaler Beziehungen werden, da sie riskant, oft fragwürdig und ohne Erfolgsgarantie sind. Wenn sie rational und verantwortbar entschieden werden sollen, brauchen sie ein seriöses Gesamtkonzept und einen vorherigen, vom speziellen Einzelfall unabhängigen Konsens über Entscheidungskriterien. Diese sollten folgende Elemente enthalten:

1.       Interventionen sollten nur erwogen werden, wenn Sie völkerrechtsgemäß sind, also aufgrund eines Beschlusses des UNO-Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UNO-Charta erfolgen.

2.       Imperial intendierte oder unter Vorwänden erfolgende Interventionen sind abzulehnen. Als legitime Interventionsgründe kommen nur schwerste humanitäre Notlagen wie Völkermord und größere ethnische Säuberungen in Betracht.

3.       Der Einsatz militärischer Mittel sollte nur erfolgen, wenn zuvor alle anderen, zivilen Möglichkeiten einer Konfliktlösung ausgeschöpft wurden oder nachweislich aussichtslos sind.

4.       Interventionen sollten ausschließlich auf einer breiten multilateralen Basis und im Rahmen eines Systems wechselseitiger kollektiver Sicherheit erfolgen.

5.       Militärisch gestützte Interventionen dürfen nur auf der Basis eines umfassenden und belastbaren, politischen Gesamtkonzeptes erfolgen, das die allgemeinen Politikziele in akteurspezifische, operationalisierbare Unterziele auflöst. Dies muss eine politische Konfliktlösung und entwicklungspolitische Mittel ins Zentrum stellen. Die militärischen Instrumentarien sind dem politischen Gesamtkonzept dienend unterzuordnen.

6.       Dies sollte sich in der zivilen Führung der Umsetzung eines solchen politischen, entwicklungspolitischen und militärischen integrierten Gesamtkonzeptes niederschlagen, um einer Verselbständigung seiner militärischen Elemente vorzubeugen.

7.       Ein integriertes Gesamtkonzept muss angeben, auf welche Sektoren der Gesellschaft im Zielland sich die Intervention stützen kann und welches lokale politische Projekt es auf welche Art zu unterstützen gedenkt.

8.       Eine Intervention kann nur auf der Grundlage eines belastbaren Konsenses in der deutschen Innenpolitik in Frage kommen.

9.       Sie sollte nur bei Vorhandensein einer durchdachten Exitstrategie beschlossen werden.

10.   Militärische Interventionen sollten nur beschlossen werden, wenn ihre Planung, Durchführung und ihre Wirksamkeit regelmäßig und nach Abschluss durch unabhängige Wissenschaftler/Gutachter evaluiert wird, wie dies etwa in der Entwicklungspolitik seit langem selbstverständlich ist.

 

 

Leicht ergänzte Fassung von:

Jochen Hippler
Bedingungen, Kriterien und Grenzen militärischer Interventionen,
in: Bruno Schoch, Andreas Heinemann-Grüder, Jochen Hippler, Markus Weingardt und Reinhard Mutz (Hrsg.);
Friedensgutachten 2007,
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Bonn International Center for Conversion (BICC), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), u.a., Juni 2007, S. 110-121

 

 


Anmerkungen

[1] Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands, Berlin 2006, S. 24

[2] Winfried Nachtwei, Thesen und Kriterien zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, Februar 2007; und derselbe: Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahmen des Friedensauftrages des Grundgesetzes, o.J.; beide online unter: www.nachtwei.de/index.php/articles/471

[3] Franz Josef Jung, Bundeswehr wird immer wichtiger für die Sicherheitspolitik - Rede zum Verteidigungshaushalt, 6. September 2006; online unter: www.cducsu.de/section__1/subsection__6/id__4314/Meldungen.aspx

[4] siehe zu solchen Kriterien bereits früh: Dieter Senghaas, Wohin driftet die Welt?, Frankfurt 1994, S. 185-188

[5] SPD Parteivorstand, Leitantrag Internationale Politik, in: SPD Parteitag der SPD in Bochum - Beschlüsse, 17. bis 19. November 2003, , S. 252;
online unter: www.spd.de/show/1682166/2004-01-16-SPD-Beschluesse-Bochum03.pdf

[6] Winfried Nachtwei, o.a.O.

[7] Andreas Schockenhoff, Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr - Orientierungsmaßstab für den jeweiligen Einzelfall, 11. September 2006, online unter: www.cducsu.de/section__2/subsection__3/id__1340/Meldungen.aspx

[8] CSU-Landesgruppe, Deutschlands Interessen und Deutschlands Verantwortung in der Welt: Leitlinien für Auslandseinsätze der Bundeswehr, Beschluss der XXXI. Klausurtagung der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag vom 8.- 10. Januar 2007 in Wildbad Kreuth

[9] Martin Bröckelmann-Simon (Misereor), Konrad von Bonin, Monika Huber (EED), Cornelia Füllkrug-Weitzel (Brot für die Welt); Entwicklungspolitik im Windschatten militärischer Interventionen?, Aachen, Bonn, Stuttgart, 31. Juli 2003

[10] CSU-Landesgruppe, a.a.O.

[11] Dies ist nicht so selbstverständlich, wie es sein sollte. So wurde kürzlich in einer Studie für die Weltbank formuliert, dass es nicht darum gehe, ob die internationale Gemeinschaft das Recht habe, militärisch zu intervenieren, sondern ob dies „zu vernünftigen Kosten wirksam möglich“ sei. Paul Collier u.a.; Breaking the Conflict Trap - Civil War and Development Policy;  A World Bank Policy Research Report, Washington, S. 174

[12] Lothar Brock, Weltbürger und Vigilanten. Lehren aus dem Kosovo-Krieg, HSFK-Standpunkte Nr. 2/1999, Frankfurt/M. 1999, S. 5

[13] sieh dazu z.B. den entsprechenden Absatz aus dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD: Gemeinsam für Deutschland - Mit Mut und Menschlichkeit, Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, 11. November 2005, S. 159; allgemein zu Nation-Building als Teil der Außen-und Sicherheitspolitik: Jochen Hippler (Hrsg.), Nation-Building – Ein Schlüsselkonzept für friedliche Konfliktbearbeitung?, Bonn 2004