Jochen Hippler

 

Westliche Außenpolitik als Fluchtursache? -
Anmerkungen zur Ambivalenz von Außen- und Sicherheitspolitik

 

 

Migration, Flucht und Vertreibung sind keine neuen Phänomene, sondern existieren seit Jahrtausenden. Auch in Europa sind sie alles andere als neu. Allerdings sind Massenmigration und Massenflucht meist regionale Erscheinungen, die innerhalb der Ursprungsländer oder in deren Nähe verbleiben. Afghanische Flüchtlinge gingen seit der sowjetischen Intervention Ende der 1970er Jahre vor allem nach Pakistan und in den Iran. Und heute flieht die große Mehrheit der syrischen Flüchtlinge - soweit sie nicht ohnehin als "Binnenvertriebene" im Land bleiben - in die Nachbarländer: in den Libanon, in die Türkei oder nach Jordanien, zum Teil sogar in den Irak. Aber die Erfahrung, dass Hunderttausende Flüchtlinge nun zusätzlich nach Europa fliehen, ist eine neue Erfahrung, die in Europa für große Unruhe sorgt. Arbeitsmigration oder die Zuwanderung aus ehemaligen Kolonien kennt Europa schon lange - aber der plötzliche Zuzug einer großen Zahl von Kriegsflüchtlingen von außerhalb Europas wird als eine neue Herausforderung betrachtet - auch sicherheitspolitisch.

Dieser Beitrag untersucht die Frage, ob und in welchem Masse umgekehrt die europäische Außen- und Sicherheitspolitik auch für die Fluchtbewegungen mitverantwortlich ist. 

 

Krieg und Konflikte als akute Fluchtursachen

Große Migrationsbewegungen entstehen meist, wenn die bisherige Heimat keine Lebensperspektive mehr bietet oder sogar lebensbedrohend gefährlich geworden ist (push-Faktoren) und wenn ein anderes Land (oder eine andere Region im Heimatland) als deutlich besser oder zumindest sicherer erscheint (pull-Faktoren). Die push-Faktoren können besonders vielfältig sein: wirtschaftliche und soziale Hoffnungslosigkeit im Ursprungsland, politische Unterdrückung, "ethnische Säuberungen" und Vertreibung, Kriege und Bürgerkriege spielen Schlüsselrollen. In Zukunft dürften auch ökologische Gründe mehr Gewicht erhalten, etwa Migration durch Ausdehnung der Wüsten, Wassermangel, oder Überschwemmungen aufgrund des steigenden Meeresspiegels. Die pull-Faktoren sind für sich genommen selten Ursachen von Massenmigration, aber sie können doch die Schwelle senken, die Migration erschwert, und sie spielen eine große Rolle, wenn es um die Wahl des Zufluchtsortes geht. Wenn man schon fliehen muss, dann nicht gerade in ein anderes Krisenland, sondern vorzugeweise in Regionen, die bessere Lebensperspektiven zu bieten scheinen.

Die Fluchtursachen politisch Verfolgter wie von Kriegsflüchtlingen sind vielfältig. Aber in allen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass die Bedrohung der Lebensumstände der Betroffenen subjektiv und/oder objektiv ein gefahrloses Verbleiben im Heimatland unmöglich macht. Im Fall politischer Flüchtlinge reichen die Ursachen von systematischer Diskriminierung (etwa Berufsverbote oder Verlust des Arbeitsplatzes) über Einschüchterung (etwa bezüglich der Äußerung unliebsamer Meinungen, bezüglich politischer Betätigung, etc.) bis zu drohender oder tatsächlicher Verhaftung oder Folter bis zur Gefahr einer Ermordung. Meist kommen mehrere Faktoren zusammen und machen ein normales, erst Recht politisch aktives Leben unmöglich. Häufig werden den Opfern solcher politischen Verfolgung auch ihre Lebensgrundlagen entzogen, etwa ihre Einkommensquellen - wenn etwa Schriftsteller mit einem Publikationsverbot belegt werden oder Künstler nicht mehr öffentlich auftreten dürfen.

"Selbst in Zeiten stark ansteigender Zahlen sind Flüchtlinge global sehr ungleich verteilt. Reichere Länder nehmen weit weniger Flüchtlinge auf als weniger reiche. Knapp neun von zehn Flüchtlingen (86 Prozent) befanden sich 2015 in Ländern, die als wirtschaftlich weniger entwickelt gelten. Ein Viertel aller Flüchtlinge war in Staaten,  die  auf  der  UN-Liste  der am  wenigsten  entwickelten  Länder  zu  finden sind."
UNHCR, siehe Fußnote 2

Bei Kriegsflüchtlingen stellt sich die Situation anders dar. Hier geht es zuerst um die Rettung des eigenen Lebens, wenn etwa eine Stadt durch Luftangriffe oder mit schweren Waffen angegriffen wird, wenn ethnische Säuberungen oder Massenvergewaltigungen zu Mitteln des Krieges werden, oder wenn Zivilisten zwischen die Fronten geraten. Es ist aber auch nicht selten, dass die Lebensgrundlagen der Bevölkerung gezielt zerstört, wenn also etwa die Wasser- oder Stromversorgung, das Gesundheitswesen, oder die Versorgung mit Nahrungsmitteln gezielt angegriffen werden. Mal soll dies den Widerstandswillen des Gegners schwächen, mal gezielt ganze Regionen entvölkern, um dann ungehindert militärisch vorrücken zu können. In allen Fällen aber wird es der Bevölkerung unmöglich gemacht, in ihrer Heimat zu bleiben - und wenn dies in großen Teilen des betroffenen Landes geschieht bleibt kaum eine andere Möglichkeit als die Flucht ins Ausland. In Bezug auf Syrien Irak lässt sich dies beispielhaft verdeutlichen: UNO-Organisationen beziffern die Zahl der Syrer im Land (also ohne Geflüchtete), die humanitärer Hilfe bedürfen, auf rund 13,5 Millionen von 22 Millionen Einwohnern, von denen mindestens 8,7 Millionen nicht einmal mehr in der Lage sind, sich ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. 70 Prozent der Menschen verfügen nicht mehr über regelmäßigen Zugang zu Trinkwasser. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Syrer fiel seit Beginn des Bürgerkrieges um 20 Jahre.[1] Schon diese wenigen Zahlen - bei denen die Toten und verwundeten Kriegsopfer nicht einmal erwähnt werden - machen deutlich, warum sich inzwischen vielleicht 4,5 Millionen Syrer im Ausland in Sicherheit gebracht haben. Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge bleibt dabei in der Region: weit über zwei Millionen in der Türkei, 1,2 Millionen im Libanon (bei einer Bevölkerungszahl, die deutlich unter der des Ruhrgebiets liegt), und 600-700.000 in Jordanien.

Ihre besondere Dynamik gewann die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 durch die Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Das UN Flüchtlingskommissariat (UNHCR) gibt für 2015 die folgenden Zahlen für die sechs weltweit wichtigsten Herkunftsländer folgendermaßen an:

 

Die sechs größten Herkunftsländer von Flüchtlingen[2]

Syrien - 4,9 Millionen

Afghanistan - 2,7 Millionen

Somalia - 1,12 Millionen

Südsudan - 778.700

Sudan - 628.800

Demokratische Republik Kongo - 541.500

Es liegt auf der Hand, dass die Kriege und Gewaltkonflikte in den jeweiligen Ländern die entscheidende Fluchtursache darstellte. Es stellt sich die Frage, ob westliche Regierungen durch Ihre Handlungen oder Unterlassungen an den Flüchtlingsströmen aus solchen Konflkíktgebieten eine Mitverantwortung tragen. Solche Verantwortung kann sich sowohl durch Handlungen wie Unterlassungen, direkt oder indirekt manifestieren.

 

Sozioökonomische Rahmenbedingungen

Fluchtursachen sind mehrdimensional und komplex. Massenflucht ist häufig das Ergebnis einer längerfristigen Entwicklung, zu der wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Faktoren betragen, die in Kriegs- und Bürgerkriegssituationen schließlich zu massiver Gewalt führen können. Manche dieser Faktoren lassen sich leicht konkreten Akteuren zuordnen, wenn etwa eine Regierung „ethnische Säuberungen“ beschließt oder einen Krieg beginnt. Dies gilt auch dann, wenn die Ursachen solcher Entscheidungen weiter zurückreichen und auch andere Akteure einbeziehen. Andere Faktoren erscheinen eher „anonym“ oder strukturell: Eine Serie von Fehlernten kann soziale Spannungen und Konkurrenzen verschärfen, oder ein Zusammenbruch der Rohstoffpreis für zentrale Exportprodukte zum gleichen Ergebnis führen. Naturkatastrophen – von denen ein Teil durchaus von Menschen mitverursacht sein kann – oder Weltmarktmechanismen können hier eine Rolle spielen, aber auch die Sozialstruktur einer Gesellschaft, etwa extreme Ungleicheit oder politische Dominanz einer Bevölkerungsgruppe über andere. Gerade wenn interne Spannungen bereits ausgeprägt sind können externe Faktoren – z.B. weltwirtschaftliche – eine Gesellschaft in einen Gewaltkonflikt treiben und Fluchtbewegungen auslösen. Wenn die Konkurrenz um Ressourcen in einer Gesellschaft bereits scharf ausgeprägt ist, kann ein Schrumpfen des Verteilungsspielraums durch zusammenbrechende Exporteinnahmen oder auf den Binnenmarkt drängende ausländische Konkurrenz verheerende Auswirkungen haben. Hier haben ausländische oder internationale Akteure große Verantwortung. 

 

Verhängnisvolle Interventionen

Ein weiterer Aspekt internationaler Verantwortung besteht in der Militärpolitik großer Mächte, insbesondere wenn diese sich in regionalen Krisenherden engagieren. Dies kann im Kontext imperialer Interventionen geschehen, wie etwa bei der sowjetischen Besetzung Afghanistans in den 1980er Jahren, oder beim Irakkrieg George W. Bushs 2003. Es kann aber auch im Rahmen humanitär intendierter Interventionen erfolgen, etwa bei der Somalia-Intervention 1992. Andere Interventionen lassen sich diesen beiden Kategorien nicht so einfach zurechnen: So war der Krieg zum Sturz der Taliban in Afghanistan weder humanitär, noch primär imperial, sondern entsprang einer Mischung sicherheitspolitischer Absichten (Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September 2001), der Umgestaltung der afghanischen Gesellschaft und des Staates, und geostrategischer Erwägungen. Die Folgen militärischer Interventionen werden zum Teil von den Absichten der Interventen bestimmt, zum großen Teil aber auch von deren militärischen und zivilen Verhaltensweisen, von den Bedingungen und Problemen im Zielland, sowie von der Wahrnehmung und dem größeren oder geringerem Verständnis des betroffenen Landes durch die Interventen.

Militärische Interventionen führen nicht immer, direkt und automatisch zu Flüchtlingsströmen, wie sich häufig gezeigt hat. So waren vor dem US-Krieg gegen den Irak 2003 umfangreiche Auffanglager für Flüchtlinge vorbereitet worden, die dann nicht benötigt wurden. Allerdings können später große Fluchtbewegungen einsetzen, wenn Kampfhandlungen andauern und nicht nur direkt zu zivilen Opfern führen, sondern auch die Lebensgrundlagen von Teilen der Gesellschaft zerstören, also etwa Bewässerungsanlagen, Krankenhäuser, die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Trinkwasser oder Elektrizität. Dann ist ein Verbleiben der Bevölkerung oft nicht mehr möglich, die Zahl der Binnenvertriebenen und dann der Flüchtlinge steigt entsprechend. Diese Entwicklung konnte man etwa bei der sowjetischen Intervention in Afghanistan oder in den letzten Jahren in Syrien beobachten.

Militärische Interventionen können auch dann zu Fluchtbewegungen führen, wenn sie nicht (oder nicht primär) imperial intendiert sind. Eine Fluchtdynamik entsteht nicht aus den Intentionen externer Interventen, sondern aufgrund der Wirkungen ihrer Intervention – oder einer Besatzung oder eines Krieges – auf die Zivilkbevölkerung. Und wir wissen inzwischen, dass die Intentionen sich oft grundlegend von den tatsächlichen Ergebnissen und Wirkungen unterscheiden. In manchen Fällen führen Interventionen, insbesondere solche mit Bodentruppen, nach einiger Zeit zu einer Destabilisierung der betroffenen Gesellschaft. Dies geschieht z.B. wenn ausländisches Militär länger die Ordnungs- und Herrschaftsfunktionen in einem fremden Land übernimmt, da dies Gegenkräfte auf den Plan ruft und Radikalisierung begünstigt. Aber auch wenn externes Militär eine solche quasi-koloniale Situation vermeiden möchte und auf eine zügige Machtübergabe an einheimische Kräfte setzt, wird sie zur zentralen Allokationsinstanz der inneren Machtverhältnisse, ohne sich immer in den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen des Ziellandes wirklich zurechtzufinden. Einheimische Machtakteure versuchen regelmässig, solche Situationen auszunutzen, um Positionsgewinne gegenüber innenpolitischen Konkurrenten zu erzielen. Dies kann ethnische Fragmentierung, konfessionelle Polarisierung und andere gesellschaftliche Destruktionstendenzen fördern, die ihrerseits eine Gewaltdynamik auslösen oder verstärken. Auch können größere Ressourcenflüsse von außen zur Verschärfung der Verteilungskonkurrenz im inneren führen – nicht selten werden die begünstigten gesellschaftlichen Sektoren solche Mittel nutzen, um Klientelnetzwerke zu finanzieren, was deren Gegner mobilisiert. Überschreiten solche Faktoren eine bestimmte Schwelle, kann eine bereits fragile Gesellschaft fragmentieren, sich polarisieren, und für Teile der Gesellschaft dann Gewaltanwendung zu einer naheliegenden Option werden – mit dem Ergebnis, dass schließlich doch Fluchtbewegungen ausgelöst werden, die die ursprüngliche Intervention nicht bewirkt hatte. Die Frage der „Schuld“ bzw. der Verursachung ist dann selten leicht zu beantworten: Machtakteure vor Ort spielen meist eine zentrale Rolle, aber deren destruktives Verhalten erfolgt oft in einem von außen gesetzten politischen und gesellschaftlichen Rahmen, der erst die Anreize schafft, eine Gewaltdynamik auszulösen, in Gang zu halten oder zu eskalieren. In diesem Sinne tragen die externen Akteure dann nicht nur die Verantwortung für ihr eigenes Verhalten, sondern auch für die Anreizsysteme, die lokale Gewaltakteure zur Eskalation bewegen. Dies gilt sowohl für aktive Politiken und Entscheiduingen, wie auch für Unterlassungen. 

 

Lehren aus dem Stabilisierungsdogmas

Die militärischen Interventionen seit Ende des Kalten Krieges haben in der Regel eher zwiespältige Ergebnisse erbracht. Ihre destruktiven Anteile – z.B. den Sturz der Taliban, Saddam Husseins oder Muammar Ghaddafis – haben sie in aller Regel schnell und erfolgreich ins Werk gesetzt. Anders ausgedrückt: Ihre direkt militärischen Aufgaben, nämlich die Zerstörung gegnerischer Militärverbände oder –Einrichtungen, konnten sie aufgrund der massiven westlichen (vor allem US-amerikanischen) Überlegenheit an Personal und Gerät schnell und erfolgreich bewältigen. An den strategischen – also politischen – Zielen sind die Interventionen allerdings fast ausnahmslos gescheitert, trotz aller militärischen Überlegenheit. Politische Stabilität, neue und funktionierende staatliche Strukturen, Demokratisierung und andere hehre Ziele wurden weder in Somalia, noch in Afghanistan, dem Irak oder Libyen erreicht, selbst in Bosnien und dem Kosovo kann von stabilen und funktionierenden staatlichen Verhältnissen keine Rede sein – trotz des außergewöhnlichen personellen und finanziellen Engagements. Die betroffenen Länder waren sicherlich bereits vor den Interventionen fragil und instabil. Diese haben es allerdings kaum vermocht, sie zu stabilisieren, zum Teil sogar noch weiter destabilisiert. Die militärischen Interventionen waren also nur in Ausnahmefällen für Gewaltdynamiken allein oder vorwiegend verantwortlich – so wie die sowjetische Afghanistanintervention es war. Selten allerdings haben sie etwas zu einer erfolgfreichen Stabilisierung beigetragen, öfter die innenpolitischen Verhältnisse weiter kompliziert, und nicht selten zur Fragmentierung der Gesellschaften und zur Eskalation von Konflikten geführt. Auf diese Weise wurden Fluchtursachen zwar nicht immer verursacht, aber häufig gefördert oder zumindest ignoriert. In all diesen Fällen wäre es schwierig, eine Mitverantwortung der Interventen zu bestreiten. 

 

Möglichkeiten und Grenzen deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik

Die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik bemühen sich seit langem, in regionalen Gewaltkrisen Beiträge zur Konfliktprävention, zur Konfliktbearbeitung und zur diplomatischen Lösung der Krisen zu leisten. In letzter Zeit sind als Politikziel die „Bekämpfung von Fluchtursachen“ hinzugekommen, so etwa im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, und seit 2015 mehrfach pointiert formuliert von verschiedenen Bundesministern und der Bundeskanzlerin. Da die große Mehrheit der Flüchtlinge in Deutschland und Europa aus Bürgerkriegsgebieten stammt (vor allem aus Syrien und Afghanistan), besteht zwischen den beiden Zielen ein direkter Zusammenhang. Allerdings muss festgestellt werden, dass Erfolge ausgesprochen gering sind.

Einerseits fehlt es an Initiativen, die sozioökonomischen Rahmenbedingungen in potentiellen und aktuellen Krisenländern verbessern zu helfen, insbesondere weltwirtschaftliche oder exportpolitische. Die Weltwirtschaft, auch die europäische Exportpolitik, tragen nicht selten dazu bei, die Ökonomie in fragilen Dritte-Welt-Ländern zu untergraben, etwa durch die übermächtige Konkurrenz internationaler Konzerne gegen lokale mittelständige oder Familenunternehmen, oder durch stark schwankende Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Exportprodukte oder Rohstoffexporte. Auch die Beschränkung des Zugangs zum europäischen Markt – vor allem bei landwirtschaftlichen Produkten – trifft viele fragilen Volkswirtschaften in der Dritten Welt schwer. Hier wäre eine Politik wünschenswert, den externen sozioökonomischen Druck von potentiellen Krisenländern zu nehmen.

Andererseits haben sich viele europäische Länder, auch Deutschland, seit Ende des Kalten Krieges immer wieder aus Gründen an militärischen Interventionen in Krisenländern beteiligt, die kaum etwas oder nichts mit den jeweiligen Ländern zu tun hatten: Zumindest die Interventionen in Somalia, in Afghanistan und in den Fällen Irak und Libyen durch die Koalitionen der Willigen wurden von vielen Ländern unterstützt, weil sie etwa die Beziehungen zu westlichen Partnern (vor allem den USA, aber auch Großbritannien und Frankreich) stärken wollten, nicht weil sie besonders an Somalia oder Afghanistan interessiert gewesen wären. Das gilt etwa für die Entsendung der Bundeswehr nach Somalia und Afghanistan, aber auch nach Mali, durch die man sich hinter Washington bzw. Paris stellte. Der damalige Bundeskanzler Schröder hatte dies in seiner Regierungserklärung zur Entsendung der Bundeswehr nach Afghanistan 2001 bereits sehr deutlich gemacht:

„Wir haben über Jahrzehnte Solidarität erfahren. Deshalb ist es schlicht unsere Pflicht - das entspricht unserem Verständnis von Selbstachtung -, wenn wir in der jetzigen Situation Bündnissolidarität zurückgeben. ... Ist denn der Erfolg dieser Bündnisleistung gewährleistet? Niemand kann das sagen, jedenfalls nicht mit letzter Sicherheit. Aber was wäre das für eine Solidarität, die wir vom Erfolg einer Maßnahme abhängig machten?“[3]

Der primär bündnispolitische Charakter militärischer Interventionen zumindest aus deutscher Sicht trug dazu bei, sich der Führung insbesondere der USA anzuschließen und auf eine eigene Strategie für die Intervention zu verzichten. Da auch die USA strategisch weitgehend desorientiert operierten, wurden die Interventionen konzeptionslos betrieben, bzw. lange Listen mit oft vagen Absichten und Wünschen als Strategie auszugeben. Dies trug dazu bei, an der Aufgabe einer Stabilisierung grundlegend zu scheitern.

Drittens allerdings resultieren die Mißerfolge nicht allein aus den subjektiven Schwächen und Fehlern der Interventen, sondern auch aus den objektiven Bedingungen. Während sich die militärische Zerstörung operativer Ziele bei überwältigender militärischer Überlegenheit und völliger Beherrschung des Luftraums immerwieder als relativ einfach erwiesen hat und dadurch auf der gewaltsame Sturz fremder Regierungen schnell erreicht wurde, war und ist die grundlegende Neugestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in einem fremden Land an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Militärische Überlegenheit ist dabei im besten Fall nebensächlich. Wenn externe Interventen mit gutem Grund vermeiden wollen, den politischen Neuaufbau als quasi-koloniales Projekt über eine oder zwei Generationen selbst zu betreiben, sind sie darauf angewiesen, dass im Zielland starke gesellschaftliche und politische Sektoren existieren, die dies in ihrem Sinne tun. Diese nachdrücklich zu unterstützen kann erfolgversprechend sein – ohne entsprechende Partner im Zielland wird der Versuch das Land von außen grundlegend umzugestalten, in der Regel nicht nur scheitern, sondern die Instabilität auf Dauer vergrößern. Hier klafft eine große Lücke zwischen den öffentlich proklamierten Zielen und Erwartungen einerseits und den eigenen politischen Möglichkeiten andererseits. Stabilisierungseinsätze sind zuerst eine politische Gestaltungsaufgabe. Wer sich dieser durch Delegation an die Soldaten entziehen möchte, wird nicht nur scheitern, sondern die Instabilität verstetigen und vergrößern. Die Bekämpfung von Fluchtursachen sieht anders aus.

 

 

Quelle:

Jochen Hippler
Westliche Außenpolitik als Fluchtursache? - Anmerkungen zur Ambivalenz europäischer Politik,
in: Braunsdorf, Felix (Hrsg.), Fluchtursachen »Made in Europe« - Über europäische Politik und ihren Zusammenhang mit Migration und Flucht, Berlin: Friedrich Ebert Stiftung 2016

 


[1] alle Zahlen aus: United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), Humanitarian Need Overview 2016, Syrian Arab Republic, October 2015

[2] UNHCR, Flüchtlinge weltweit - Zahlen & Fakten, online: www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html

[3] Bundeskanzler Gerhard Schröder, Plenardebatte, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. November 2001, Seite 19284