Jochen Hippler

Afghanistan: Kurskorrektur oder Rückzug?
Die politischen Folgen aus der Gewalteskalation

Policy Paper 29

Afghanistan: Kurskorrektur oder Rückzug?

Die deutsche und die internationale Afghanistanpolitik sind heute von Skepsis und Ernüchterung geprägt, die an die Stelle eines früher oft naiven Optimismus getreten sind. In den mehr als sieben Jahren der internationalen militärischen und zivilen Präsenz in Afghanistan wurden der geographische Rahmen des Militäreinsatzes – der sich früher auf Kabul und seine direkte Umgebung beschränkte –, die Truppenstärke und die zuerst eng gefasste Dauer des Einsatzes immer weiter ausgedehnt. Die politische Situation bleibt trotzdem höchst fragil und verschlechterte sich in vielen Bereichen. Das Gewaltniveau ist seit 2003 immer weiter gestiegen, die Sicherheitslage hat sich sowohl für die afghanische Bevölkerung als auch für die internationalen Militäreinheiten deutlich verschlechtert. Die dramatische Zunahme der früher völlig unbekannten Selbstmordanschläge ist ein Indiz für eine krisenhafte Zuspitzung der Lage. In den USA wird ernsthaft diskutiert, zusätzliche Truppen aus dem Irak nach Afghanistan zu verlegen, was bislang nur durch die dort ebenfalls schwierige Lage verhindert wird. In der Bundesrepublik wird immer wieder und quer durch alle Parteien ein „Gesamtkonzept“ für Afghanistan verlangt; die dortigen Probleme führen dazu, verstärkt über Sinn, Zweck, Möglichkeiten und Grenzen militärischer Auslandseinsätze der Bundeswehr nachzudenken. Dies ist tatsächlich eine dringliche Aufgabe, die hier allerdings nicht zu leisten ist. Mit gleichem Gewicht sollte allerdings auch die Genese der gegenwärtigen Krise in Afghanistan analysiert werden, die sich immer mehr zu einer Sackgasse entwickelt. Nur so können dort die nötigen Kurskorrekturen vorgenommen werden. Diese Lehren aus und für Afghanistan stehen im Folgenden im Mittelpunkt. Sie liegen vor allem in folgenden Bereichen: der Notwendigkeit eines Gesamtkonzepts und der Bedeutung der Entscheidungsfindung über militärische Auslandseinsätze; dem Problem, dass der Krieg in Afghanistan vor allem eine politische Auseinandersetzung darstellt und politisch entschieden wird, der größte Teil der Aufmerksamkeit und der öffentlichen Diskussion sich allerdings auf den Einsatz militärischer Mittel konzentriert; dem Widerspruch, dass einerseits der Aufbau neuer Staatlichkeit im Zentrum der Bemühungen stehen müsste, diese aber auf den – langfristig entscheidenden – mittleren und vor allem unteren Ebenen vernachlässigt wurde und wird, sowie der Verzerrung des Zusammenhangs des Afghanistankrieges mit der Situation im Nachbarland Pakistan.

I. Die gegenwärtige Situation in Afghanistan: Eskalation der Gewalt und steigende Militärpräsenz

In Afghanistan herrscht seit fast dreißig Jahren Krieg, zuerst gegen die pro-sowjetische Regierung und die sowjetischen Besatzungstruppen, dann gegen die Regierung Nadschibullah, danach zwischen den MudschaheddinParteien, schließlich zwischen diesen und den Taliban. Die gegenwärtige Runde des Krieges wurde durch die Eroberung Afghanistans und den Sturz der Taliban durch die USA und ihre lokalen Verbündeten der Nordallianz eingeleitet. Der Ausgangspunkt des neuen Krieges war der Terroranschlag des 11. September 2001 auf die USA durch Al-Qaida, auf den die USA mit ihrem „Krieg gegen den Terrorismus“ antworteten. Es folgte eine kurze Phase der Beruhigung, die seit etwa 2003/2004 aufgrund einer Zunahme der Gewalt endete, die sich inzwischen auf große Teile des Landes ausgeweitet hat und auch den bisher eher ruhigen Norden zu erfassen droht.

Die dramatische Zunahme der Gewalt in Afghanistan seit 2003 stellt ein ernstes Krisenzeichen dar. Sie signalisiert, dass die geplante Stabilisierung des Landes und die Marginalisierung oder Ausschaltung gewalttätiger anti-westlicher Gruppen nach fast sieben Jahren des militärischen Einsatzes und des zivilen Wiederaufbaus bisher nicht gelungen sind. Sie demonstriert darüber hinaus, dass trotz der Erfolge in manchen Bereichen – etwa im Bildungssystem – gegenwärtig eher Rückschläge denn Fortschritte die Situation kennzeichnen.

Washington und zum Teil auch die NATO reagierten auf die verschärfte Sicherheitslage mit der Entsendung zusätzlicher Militärkräfte. Im Herbst 2001 wurden die Taliban und ihre Verbündeten von Al-Qaida von nur 100 CIA-Agenten und 350 US-Elitesoldaten (sowie der US-Air Force und der afghanischen Nordallianz) gestürzt. Kurz danach wurden wenige Tausend US-Soldaten und rund 5.000 Soldaten als internationale Truppen der International Security Assistance Force (ISAF) entsandt, von denen letztere sich auf Kabul und dessen direkte Umgebung beschränkten – bei einer insgesamt relativ guten Sicherheitslage fast im ganzen Land. Im März 2003 verfügte die ISAF über 4.700 Soldaten aus 28 Ländern, dazu kamen knapp 10.000 US-Soldaten, die nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums nicht verstärkt werden sollten. Anfang April 2007 standen dann allein 24.300 US-Soldaten in Afghanistan, ein Jahr später schon 33.000. Damit lag die Zahl der ausländischen Soldaten (ISAF und Operation Enduring Freedom – OEF) zur Jahresmitte 2008 bei fast 65.000 – weitere Truppen verschiedener Länder wurden bereits angekündigt bzw. sind schon beschlossen. Die Zahl der ausländischen Truppen hat sich in den letzten fünf Jahren somit weit mehr als vervierfacht – dazu kam die in dieser Zeitspanne ebenfalls massiv ausgeweitete Truppenstärke der afghanischen Streitkräfte. Trotz dieser Truppenverstärkung seit 2003 hat sich in der gleichen Zeitspanne die Sicherheitslage nicht entspannt, sondern dramatisch verschärft. So haben die Selbstmordanschläge nach Angabe des US-amerikanischen Congressional Research Service 2007 um 27 % gegenüber dem Vorjahr zugenommen, die Zahl ihrer Opfer stieg gar um 600 % gegenüber 2005. 2007 sollen 8.000 Menschen direkte Opfer des Konflikts geworden sein, darunter mindestens 1.500 Zivilisten. Auch Mitarbeiter und Aktivitäten humanitärer Organisationen werden zunehmend zum Ziel von Anschlägen.

Nach anderen Angaben gab es 2007 fast 9.000 bewaffnete Anschläge, rund zehnmal so viel wie 2004 (Der Spiegel 22/2008, S. 122f). Mitte 2008 wurde berichtet, dass die Angriffe um weitere 35-40 % gegenüber dem Vorjahr zugenommen hätten. Und seit Mai 2008 musste das US-Verteidigungsministerium mehrfach melden, dass nun in Afghanistan mehr US-Soldaten sterben als im Irak – obwohl dort fast fünfmal so viele stationiert sind. Wer angesichts solcher Zahlen in einer rein militärischen Logik denkt, wird mit der zunehmenden Gewalt immer weitere Soldaten verlangen – der ISAF-Oberkommandierende General McNeill erklärte kürzlich, dass 400.000 Soldaten nötig seien, um Afghanistan wirklich zu befrieden. Gegenwärtig deutet jedoch alles darauf hin, dass die immer weitere Erhöhung der Truppenstärke eher Teil der Eskalation der Gewalt ist, nicht Mittel ihrer Überwindung.

Empfehlungen Die Bundesregierung sollte sich einem Drängen auf Verstärkung der militärischen Präsenz in Afghanistan und einer Erhöhung der Truppenzahl verweigern. Diese eröffnen unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen keine Chance zur Gewaltverminderung. Hierfür ist vielmehr ein politischer Lösungsansatz des Konflikts zwingend erforderlich. Solange dieser nicht besteht, ist eine Verstärkung der Truppen zur Befriedung des Landes wenig aussichtsreich. Die Bundeswehr sollte deshalb ihren Einsatz dauerhaft als einen des Schutzes und der Stabilisierung festschreiben und sich dem Drängen auf aktive Kampfeinsätze entziehen, soweit diese über Selbstverteidigung oder die Wahrnehmung ihrer Schutzaufgaben hinausgehen.

Die Bundesrepublik sollte ihre Soldaten weiterhin nur im vereinbarten Gebiet des Nordens einsetzen und sich der Tendenz einer räumlichen Ausdehnung der Operation am Boden oder in der Luft entgegenstellen. Dies gilt zumindest so lange, wie (a) die politischen Rahmenbedingungen für eine Konfliktlösung nicht geschaffen sind und (b) erweiterte Einsätze nicht klar in einer dienenden Funktion für einen solchen politischen Lösungsansatz erfolgen. Versuche, „Sicherheit“ durch militärische Gewalt durchzusetzen, führen gegenwärtig häufig zum Ausweichen vor der Erarbeitung einer realistischen politischen Strategie.

II. Fehlentwicklungen seit dem 11. September 2001

1. Politische Begründung des Bundeswehreinsatzes

Die deutsche Politikdebatte über eine Beteiligung am Afghanistan-Einsatz konzentrierte sich zuerst fast ganz auf den Aspekt der Unterstützung der USA nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001. Bundeskanzler Schröder hatte Washington direkt nach dem 11. September die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands zugesichert. Im Oktober 2001 erklärte er vor dem Deutschen Bundestag, dies schließe „auch die Beteiligung an militärischen Operationen zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten, zur Herstellung von Stabilität und Sicherheit ausdrücklich ein“ (Plenarsitzung des Deutschen Bundestags vom 11.10.2001). Einen Monat später fügte er hinzu: „Es muss deutlich werden: Es geht nicht um irgendeine außenpolitische Strategie; es geht um die Vertretung der eigenen Interessen und um den Schutz der eigenen Werte, nach denen wir leben und weiter leben wollen.“ ... „Wir haben über Jahrzehnte Solidarität erfahren. Deshalb ist es schlicht unsere Pflicht – das entspricht unserem Verständnis von Selbstachtung –, wenn wir in der jetzigen Situation Bündnissolidarität zurückgeben.“ (Plenarsitzung des Deutschen Bundestags vom 8.11.2001).

In der gleichen Debatte, in der es um die Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan ging, stellte der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer fest: „Die entscheidende Frage – das ist die Kernfrage –, vor der wir stehen und um deren Beantwortung wir uns nicht drücken können, ist ...: Können wir in dieser Situation, in der die Bevölkerung und die Regierung der Vereinigten Staaten angegriffen wurden, unseren wichtigsten Bündnispartner, der auf diesen Angriff antwortet und sich gegen diesen Angriff auf klarer völkerrechtlicher Grundlage zur Wehr setzt, allein lassen, ja oder nein? Diese Entscheidung hat dieses Haus zu treffen.“ Es ging bei der Entscheidung über die Truppenentsendung also vor allem um einen demonstrativen Akt der Solidarität und der Bündnistreue. Daneben, zuerst aber erkennbar nachgeordnet, wurden auch Argumente wie die Unterdrückung – insbesondere der Frauen – in Afghanistan, die Förderung der Demokratie in dem Land, der Weltfrieden oder die Bekämpfung des Terrorismus genannt. Nun soll hier nicht bestritten werden, dass auch schwerwiegende politische Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt der Bündnispolitik – und hier der Vermeidung der Isolation in Europa und der NATO – erwogen werden können und müssen. Solche politischen Erwägungen sind durchaus legitim. Ihr Problem kann aber darin bestehen, und dies war auch im Fall der Afghanistan-Entscheidung so, dass sie fast nichts mit dem Land zu tun haben, in das Soldaten geschickt werden. So erstaunt es nicht, dass die Truppenentsendung zu einem improvisierten Einsatz wurde, bei dem die Soldaten und die zivile Politik nach der Entsendung durch trial-and-error einen gangbaren Weg finden mussten.

Rückblickend muss festgestellt werden, dass die damals formulierten Entscheidungsgrundlagen von Wunschdenken geprägt waren und Realismus vermissen ließen. So wurde die Truppenentsendung vor dem Hintergrund einer ganzen Reihe von Einschränkungen beschlossen, insbesondere einer engen zeitlichen, räumlichen und personellen Begrenzung. Die entscheidende Bundestagsdebatte ergab ein widersprüchliches Bild: Zwar wurde die „restlose Zerschlagung“ der Taliban als Voraussetzung des Erfolgs der Operation genannt, zugleich gab der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping zu, dass die internationale Staatengemeinschaft nicht über die Fähigkeiten verfüge, in Afghanistan auch nur für Sicherheit zu sorgen (Plenardebatte des Deutschen Bundestags vom 22.12.2001). Dieser offensichtliche Widerspruch wurde vom Bundeskanzler mit folgenden Worten aufgelöst: „Ist denn der Erfolg dieser Bündnisleistung [also der Truppenentsendung; JH] gewährleistet? Niemand kann das sagen, jedenfalls nicht mit letzter Sicherheit. Aber was wäre das für eine Solidarität, die wir vom Erfolg einer Maßnahme abhängig machten?“ (Plenardebatte vom 8.11.2001).

Anders ausgedrückt: Die Bundesregierung und selbst der Bundeskanzler erklärten vor dem Deutschen Bundestag, dass man die Bundeswehr in ein Krisen- und Kriegsgebiet entsenden würde, ohne vom Erfolg des Einsatzes überzeugt zu sein, die Erfolgsaussichten nicht einmal einschätzen zu können – und diese sogar als nebensächlich zu betrachten. Das zentrale Entscheidungskriterium hatte also kaum etwas mit Afghanistan zu tun, selbst kaum etwas mit der später oft beschworenen Terrorismusbekämpfung oder dem Wiederaufbau stabiler Staatlichkeit in Afghanistan, sondern bestand eben in der Demonstration von Bündnissolidarität, in der Erbringung einer „Bündnisleistung“. Die Lockerheit der Argumentation war umso erstaunlicher, als der Außenminister kurz nach dem Kanzler zu Recht darauf hingewiesen hatte, es handele sich „um eine der schwierigsten und auch schwerwiegendsten Entscheidungen des Deutschen Bundestages, der Bundesrepublik Deutschland in der Außen- und Sicherheitspolitik.“ Als Grund nannte er: „Es ist eine Entscheidung, die auf die Frage gründet: Krieg oder Frieden? Es ist die zentrale Entscheidung.“ (Plenardebatte des Deutschen Bundestags vom 8.11.2001).

2. Fehlende Gesamtstrategie in Deutschland und international

Insgesamt lässt sich der Schluss kaum vermeiden, dass die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag die Soldaten der Bundeswehr ohne ein auf Afghanistan bezogenes, seriöses Konzept an den Hindukusch entsandten. Dieses Problem wurde dadurch wesentlich vergrößert, dass dieses Defizit nicht allein auf die deutsche Afghanistanpolitik zutraf, sondern auch auf die der USA und der anderen Verbündeten. Das militärische und zivile Engagement der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan erfolgte somit ad hoc und weitgehend unvorbereitet. Die Ziele des Einsatzes waren zum Teil unklar und widersprüchlich formuliert, weshalb sie auch kaum priorisiert und operationalisiert werden konnten. Manche Ziele standen und stehen in einem impliziten oder offensichtlichen Spannungsverhältnis zueinander: Wer etwa Afghanistan vor allem demokratisieren möchte, wird um die Betonung von local ownership nicht herumkommen, wer aber primär seine eigenen sicherheitspolitischen Interessen wahrzunehmen gedenkt, muss die Sicherheit der eigenen Truppen an die erste Stelle rücken, auch wenn dies lokale Akteure auf Distanz hält oder schwächt. Wer etwa entwicklungspolitisch oder bezüglich der Infrastruktur schnelle Erfolge möchte (quick impact projects), wird in einem Land mit extrem schwacher Staatlichkeit stark auf externe Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder internationale Organisationen mit entsprechender Erfahrung und Kompetenz setzen – was den Prozess des state-building behindern muss, der langsamer verläuft. Lange Zeit flossen 80 % der internationalen Hilfsgelder am Staat vorbei, was ihn offensichtlich zu einem Akteur neben anderen reduzierte und so einem Kernziel der Nationalstaatsbildung direkt entgegenarbeitete. Diese Zielkonflikte wurden bis heute nicht aufgelöst, sondern oft nur rhetorisch überdeckt. Später kamen weitere taktische Ziele hinzu, die ebenfalls mit Afghanistan nur indirekt zu tun hatten: Das Bestreben, die NATO in Afghanistan nicht scheitern zu sehen und ihre Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, oder die Vermeidung einer deutschen Beteiligung am Irakkrieg durch Verweis auf die Bundeswehrpräsenz in Afghanistan.

Aus diesem Grund ist es sinnvoll, das Verhältnis von Zielen, Mitteln und Strategien in zivil-militärischen Einsätzen frühzeitig konzeptionell zu klären und zur Grundlage jeder Einsatzplanung zu machen. Die Forderung nach einem „Gesamtkonzept“ für Afghanistan ist deshalb berechtigt, wenn auch nicht immer klar ist, was darunter zu verstehen ist. Immer wieder wird entgegengehalten, dass es ein solches Gesamtkonzept längst gebe: Durch den Einsatz ziviler, insbesondere entwicklungspolitischer Mittel und der Bundeswehr zur Gewährleistung von Sicherheit sollten Afghanistan stabilisiert und der Terrorismus bekämpft werden. Der Begriff „Gesamtkonzept“ muss aber mehr umfassen als solche Allgemeinplätze, er sollte im Sinne von „Strategie“ (im Unterschied zur bloßen Aufzählung von Zielvorstellungen oder zur Taktik) gebraucht werden. Vereinfacht sollte der Begriff Folgendes beinhalten: (1) Eine möglichst präzise Hierarchisierung der verschiedenen Ziele der Operation. Es reicht nicht, allerlei erstrebenswerte Ziele zu addieren, da diese gelegentlich in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen oder sich sogar widersprechen. Die Ziele müssen eine klare Rangfolge aufweisen und mehr als allgemeine Wunsch- oder Absichtsbekundungen sein. (2) Eine grundlegende Strategie, also die Formulierung eines Grundansatzes zur Zielerreichung. Beispielsweise: Sollte das Hauptziel die Bekämpfung des Terrorismus sein – soll es durch die militärische Bekämpfung seiner Akteure erreicht werden oder durch die Etablierung eines lokalen Staates oder durch Verbesserung der Lebensbedingung der Bevölkerung, um sie von Terrorgruppen fernzuhalten? Wie sind unterschiedliche Grundansätze ggf. zu hierarchisieren und aufeinander zu beziehen? (3) Eine Angabe der Mittel, die zur Erreichung des Hauptziels und der Nebenziele eingesetzt werden sollen. (4) Die Angabe, wie diese Instrumente konkret eingesetzt werden sollen, um die Ziele auch tatsächlich zu erreichen. Es reicht z.B. nicht aus zu formulieren, das Instrument „Militär“ solle „für Sicherheit sorgen“ – sondern es muss geklärt sein, was genau im konkreten Kontext unter „Sicherheit“ zu verstehen ist und wie sich das Militär verhalten soll, um diese zu erreichen. Entsprechendes gilt selbstverständlich auch für zivile Mittel. (5) Ein Konzept, wie die unterschiedlichen Instrumente in einer integrierten Art eingesetzt werden sollen, damit ein Neben- oder gar Gegeneinander vermieden wird. (6) Eine Skizzierung des angestrebten Endzustands der Operation, der als Maßstab der Zielerreichung dienen kann. (7) Ein Plan für eine geregelte Beendigung der Operation nach Zielerreichung oder bei erkennbarer Unerreichbarkeit der Ziele, der die Sicherheit des eigenen Personals ebenso sicherstellen muss wie die Vermeidung negativer Auswirkungen auf das Einsatzland.

3. Zentrale Probleme im Prozess des Staatsaufbaus

Ein politischer Konfliktlösungsprozess setzt einen funktionierenden Staatsapparat (beziehungsweise dessen verstärkten Aufbau) voraus, insbesondere wenn die Konfliktlösung unter local ownership erfolgen soll – wozu es keine Alternativen gibt. Nach dem Sturz der Taliban waren diese diskreditiert, und die fremden Truppen wurden mit Wohlwollen aufgenommen, da sie als mögliche Wegbereiter für Frieden und zur Überwindung der mehr als zwei Jahrzehnte des Krieges wahrgenommen wurden – in einem Land wie Afghanistan mit seiner Tradition des Kampfes gegen fremde Eindringlinge keine Selbstverständlichkeit, sondern eine beträchtliche Chance. In einer solchen Situation kommt es politisch darauf an – und dabei sind die Parallelen zum Irak nach dem Sturz Saddam Husseins offensichtlich – schnell den bestehenden Hoffnungen eine reale Grundlage zu verschaffen. Diese Chance des schnellen Stellens der richtigen Weichen (window of opportunity) wurde in Afghanistan jedoch verpasst. Potenziert wurde die schwierige Situation durch die Vielzahl externer Akteure. Die Versuche, mit dieser Vielfalt zurechtzukommen, erwiesen sich überwiegend als nur mäßig erfolgreich. Die Bestimmung von lead nations in sektoralen Schlüsselbereichen kann nur als gescheitert betrachtet werden. Von Leadership war dabei selten etwas zu spüren, auch die Koordination mit anderen Sektoren erwies sich oft als mangelhaft. Das klägliche Engagement der Bundesrepublik als lead nation beim Polizeiaufbau hat nicht nur die Polizeientwicklung in Afghanistan schwer behindert, es führte zu Widersprüchen und Konkurrenzen zu den USA, die in improvisierter und freihändiger Form versuchten, die Defizite überhastet auszugleichen – und es hat die Bundesrepublik blamiert.

Empfehlung Zukünftige Entscheidungen über den Einsatz der Bundeswehr sollten nur erfolgen, wenn ein vorheriges, integriertes und länderspezifisches Gesamtkonzept besteht, das die unterschiedlichen Politikziele klar formuliert, ihre Prioritäten bestimmt und diese als nachvollziehbare Strategie ausformuliert, einschließlich einer Exit-Strategie. Ohne ein solches Gesamtkonzept ist eine Truppenentsendung nicht kalkulierbar und daher nicht verantwortbar.

Der Petersberger Prozess

Zu Beginn der militärischen und zivilen Intervention standen aus Sicht der USA die direkte Bekämpfung terroristischer Gruppen und deren Unterstützern (Al-Qaida und Taliban) im Vordergrund. Deshalb kam es zu einem stark sicherheitspolitisch und militärisch geprägten Grundansatz Washingtons, bei dem entwicklungspolitische und auf Governance bezogene politische Erwägungen stark in den Hintergrund gerieten. Die US-Regierung hatte explizit erklärt, für Kriegführung und nicht für nation-building (bzw. state-building) zuständig zu sein. Umgekehrt bemühten sich einige Verbündete – darunter die Bundesrepublik – möglichst wenig in den Krieg verwickelt zu werden und stärker zivile Maßnahmen zu betonen. Eine solche Herangehensweise sorgte immer wieder für Irritationen in Washington und bei der NATO.

Empfehlungen Bei zukünftigen komplexen zivilen oder militärischen PostKonflikt-Einsätzen sollte die Planung davon ausgehen, dass die Einsatzdauer zumindest mehrere Jahre betragen wird, die entscheidenden Weichen aber in den ersten Monaten gestellt werden. Auf dem Balkan wie in Afghanistan (oder für die USA im Irak) ging man unrealistischerweise von sehr kurzen Einsatzdauern aus, was offensichtlich eine langfristige Planung erschwerte oder als überflüssig erscheinen ließ. Bei zukünftigen Einsätzen sollten von vornherein realistische (also nicht unbegrenzte) Einsatzzeiträume zugrundegelegt werden. Andererseits kommt es darauf an, in den ersten Monaten die Chancen des Goodwills der Bevölkerung zu nutzen, diese nicht zu enttäuschen und insbesondere keine grundlegenden Fehler durch Maßnahmen oder Unterlassungen zu begehen, die sich später nur schwer korrigieren lassen.

Wenn man sich für entsprechende Einsätze entscheidet, müssen von Beginn an ausreichend Finanzmittel und Personal zur Verfügung stehen. Ist dies nicht gesichert, sollte von einem begrenzten oder „scheibchenweisen“ Einsatz Abstand genommen werden. Wenn ein Land eine Aufgabe als lead nation übernimmt – wie die Polizeiausbildung in Afghanistan – dann nur, wenn der politische Wille, das Geld und das Personal vorhanden sind, diese aus dem Stand und mit hohem Mitteleinsatz auch zu bewältigen.

Trotz der faktischen und im Falle der USA auch politisch gewollten Dominanz der militärischen und sicherheitspolitischen Maßnahmen organisierte die internationale Gemeinschaft parallel einen politischen Wiederaufbauprozess, der den Petersberger Prozess zum Ausgangspunkt hatte. Dieser Ansatz konzentrierte sich auf die Einsetzung einer Übergangsregierung, die Erarbeitung und Verabschiedung einer Verfassung, eine anschließende Wahl und die darauf folgende Etablierung einer legitimen und legalen afghanischen Regierung. Der Prozess resultierte aus einem ganzen Bündel zum Teil widersprüchlicher politischer Erwägungen. Aus der Sicht des US-Verteidigungsministeriums, des vermutlich wichtigsten Akteurs nach dem Sturz der Taliban, flankierte und ermöglichte er die eigene Fokussierung auf die Sicherheitspolitik: Wenn es eine legitime Regierung gäbe, könnten sich die USA arbeitsteilig auf eine militärische Rolle der Terrorismus- und Aufstandsbekämpfung konzentrieren und würden so nicht in das unübersichtliche Feld des nation-building verwickelt. Zugleich ließ sich dieser Ansatz gut mit der Demokratierhetorik des US-Präsidenten vereinbaren. Die europäischen Verbündeten und die Vereinten Nationen stimmten diesem Ansatz zu, da er einerseits zu einem rechtmäßigen und anerkannten afghanischen Partner führen würde und so nicht nur der nationalstaatsorientierten Struktur des internationalen Systems entsprach, sondern auch potenzielle völkerrechtliche Probleme vermied – indem er die Stationierung ausländischer Truppen aufgrund der entsprechenden Bitte einer lokalen Regierung ermöglichte. Andererseits entsprach dieser Ansatz zwei plausiblen Denkrichtungen: einmal der Erkenntnis, dass Afghanistan auf Dauer nicht von außen zu stabilisieren ist, sondern dafür ein funktionierender afghanischer Staatsapparat nötig ist; und zum anderen der Hoffnung, durch das Entstehen eines afghanischen Staates den allseits erstrebten Ansatz des light footprint (also des begrenzten eigenen Engagements) durchhalten zu können. Sowohl die USA als auch die europäischen Verbündeten und die UN gingen davon aus, dass ihr jeweiliges Engagement ausschließlich zur Unterstützung der afghanischen Regierung erfolgte – dazu war offensichtlich die Existenz einer (legitimen) afghanischen Regierung die logische Grundvoraussetzung. Deshalb lag die schnelle Etablierung einer afghanischen Regierung im Interesse praktisch aller Akteure, einschließlich fast aller afghanischer Gruppen (auch der Exilanten), die angesichts der Stärke der externen Kräfte und ihrer eigenen Fragmentierung und militärischen Schwäche nur so überhaupt einen Teil der Macht zu erobern hoffen konnten. Deshalb war der Petersberger Prozess prinzipiell sinnvoll. Der neu aufzubauende afghanische Staatsapparat wurde damit zum Eckstein der zukünftigen Entwicklung des Landes – und des zivilen und militärischen Engagements der externen Akteure. Je besser dieser funktionieren würde und je besser sein Verhältnis zu den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften wäre, desto realistischer und wirksamer würde die internationale Politik der Unterstützung dieses Staates. Allerdings: der Petersberger Prozess wurde trotz seiner offensichtlichen Sinnhaftigkeit sehr bald zum Ausgangspunkt der krisenhaften Entwicklung, die sich ab 2003/2004 und verschärft seit 2006 einstellen sollte. Es entwickelten sich mehrere Probleme: Geburtsfehler des neuen Staatsapparats Der aufgrund des Petersberger Prozesses neu entstehende Staatsapparat zeichnet sich durch ernste Geburtsfehler aus. Auf dem Land bleibt der Staat in weiten geographischen und funktionalen Bereichen eine Fiktion. Der Verfassungsprozess und die folgenden Wahlen basierten auf bloßen staatlichen Inseln, die in großen Regionen außerhalb der Städte über keine oder keine funktionsfähigen Behörden und Verwaltungsstrukturen verfügen – was angesichts der afghanischen Geschichte und gerade nach der Herrschaft der Taliban nicht überraschen kann. Präsident Karzai als entscheidender Vertreter dieses neuen Staates versuchte, dieses Problem auf zweifache Weise zu umgehen: einmal durch die Integration von lokalen Kommandanten und Warlords in die staatlichen Strukturen, um sie von offener Opposition abzuhalten. Dies führte allerdings in weiten Landesteilen zu einer Identifizierung des neuen Staates mit den bekannten alten Gewalttätern. Zweitens bemühte er sich im Verfassungsprozess um eine extreme Zentralisierung der staatlichen Strukturen, die im Wesentlichen die formale Machtstruktur auf ihn selbst als Präsidenten zuschnitt. Dies entsprach weder der Heterogenität und Dezentralisierung der afghanischen Gesellschaft und Politik noch den Fähigkeiten der staatlichen Strukturen, eine Zentralisierung auch real umzusetzen. In ähnlicher Absicht der Stärkung der eigenen Person bemühte sich der Präsident auch um die Untergrabung der Parteien (vor allem bei den Wahlen), was die Entwicklung eines funktionierenden Parteiensystems – eine wichtige Voraussetzung stabiler Staatlichkeit – behinderte.

Der afghanische Staat leidet insbesondere an seiner beträchtlichen Kopflastigkeit. In Kabul und den größeren Städten bestehen all die Organe und Institutionen, die man mit Staatlichkeit identifiziert: Es gibt Ministerien, einen Präsidenten, ein Parlament, ein Verfassungsgericht und zahlreiche andere Behörden. Die ausländischen Akteure haben kaum Schwierigkeiten, staatliche Ansprechpartner zu finden. Unterhalb dieses Niveaus allerdings wird Staatlichkeit fragmentarisch, und je näher man sich den einfachen Bürgern nähert – insbesondere auf dem Land – desto geringer wird die staatliche Präsenz und Effizienz. In vielen Dörfern ist der Staat günstigstenfalls durch einen schlecht ausgebildeten Lehrer vertreten. Anders ausgedrückt: unterhalb der Ebene staatlicher Spitzenorgane wird die Substanz von Staatlichkeit immer dünner, bis sie sich fast verflüchtigt. Verschärft wird diese Situation dadurch, dass die Elemente staatlicher Präsenz auf den mittleren und niedrigeren Ebenen zum Teil faktisch durch private Akteure infiltriert oder dominiert sind, also etwa durch lokale Kommandanten, Warlords, religiöse Persönlichkeiten oder Stammesführer, deren Loyalitäten oft zumindest zwischen der zum Staat und zur eigenen Gruppe gespalten sind, meist aber bei letzterer liegen. So schränkt die teilweise „Privatisierung“ staatlicher Instanzen deren staatlichen Charakter zum Teil ein oder hebt ihn völlig auf. Auch die massive Korruption neigt dazu, die Substanz von Staatlichkeit auszuhöhlen und bringt darüber hinaus die Bevölkerung gegen den Staat auf.

Empfehlung Staatsbildung und governance-orientierte Politik darf sich nicht auf die oberen staatlichen Ebenen beschränken, sondern muss die Schaffung funktionsfähiger Ebenen des Staates in den Provinzen und auf dem Land einbeziehen. Die Schnittstellen zwischen der Gesellschaft/den Bürgern und dem Staat sind von besonderer Bedeutung für die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Staatsapparats. Das bedeutet u.a., dass das Rechtswesen und die Polizei funktionsfähig, fair und möglichst frei von Korruption sein müssen, dass der Inhalt rechtlicher Regelungen oft weniger wichtig ist als die Rechtsgleichheit aller vor dem Gesetz und dass Rechtssicherheit nicht einkommensabhängig sein darf. Ein überall funktionierendes und bürgernahes Polizei- und Justizwesen ist der Kern glaubwürdiger Staatlichkeit.

Fehlende Basis für einen demokratischen Staat

Hinter den angesprochenen Schwierigkeiten verbirgt sich ein grundlegendes Problem. Als die internationale Gemeinschaft nach dem Sturz der Taliban die Schaffung eines neuen demokratischen Staates zu einem ihrer Kernziele erklärte, waren die Voraussetzungen dafür in Afghanistan schlecht und teilweise kaum gegeben. Normalerweise bietet sich als Basis demokratischer Staatsbildung eine starke und selbstbewusste Mittelschicht an, die in Afghanistan nach über einer Generation des Krieges und der wirtschaftlichen Not kaum existiert. Die ländliche Bevölkerungsmehrheit mag zwar keine Einwände gegen eine Staatsbildung haben, solange diese für Frieden und Stabilität sorgt und ihre Lebenslage verbessert – aber sie ist kein organisierter und in absehbarer Zeit kaum ein organisierbarer politischer Faktor, auf den man sich politisch stützen könnte. Die Mudschaheddin-Parteien, Warlords, Drogenbarone und andere lokale und regionale Machthaber stellen keine Basis für demokratische Staatlichkeit dar. Entsprechendes galt für die ehemalige Nordallianz. Das ließ für das internationale Projekt im Wesentlichen die schmale und im Land kaum verankerte Gruppe der Exilrückkehrer, die meist außerhalb der örtlichen Klientelbeziehungen steht und deshalb Sympathie für einen neuen Nationalstaat haben muss, der zumindest teilweise auf ihre Kompetenz angewiesen ist. Darüber hinaus konnte sich ein neuer Staat auf seine eigenen Beamten (und jene, die in den Staatsdienst strebten) stützen sowie auf größere Teile der städtischen Bevölkerung. Zusammengenommen war die soziale Basis einer demokratischen Staatsbildung in Afghanistan ausgesprochen schmal – und der neue Staat deshalb in einer von Anfang an schwierigen Situation. Zum Teil mochte es gelingen, diese Schwäche durch externe Hilfestellung zeitweilig zu kompensieren – aber je stärker und je länger man sich auf die ausländische Unterstützung verließ, desto mehr musste sich der neue Staat von der eigenen Gesellschaft entfernen.

Weitere Untergrabung des staatlichen Gewaltmonopols

Eine der zentralen Hoffnungen der Bevölkerung bestand verständlicherweise darin, endlich die Fragmentierung der Gewaltakteure zu überwinden, die Willkür der

Kriegsherren zu beenden und insbesondere Rechtssicherheit und persönliche Sicherheit im eigenen Umfeld (Dorf, Provinz, Landstraßen) zu gewinnen. Das Problem der Übergriffe gegen die Bevölkerung durch lokale Kommandanten, Banden, Warlords und staatliche Funktionsträger stellte sich nach dem Sturz der Taliban unter anderen Vorzeichen erneut: So stützte die internationale Gemeinschaft einerseits den nach der Intervention ins Amt gebrachten Präsidenten Karzai, nutzte aber – hier insbesondere die US-Militärs – gleichzeitig berüchtigte Warlords für sicherheitspolitische Funktionen, etwa um Gruppen der Taliban oder Al-Qaidas zu bekämpfen. Die Finanzierung und Bewaffnung von Warlords führte zu zwei ausgesprochen schädlichen Ergebnissen: Einmal wurde auf diese Weise der neue Staatsapparat geschwächt, indem sein Gewaltmonopol massiv untergraben und Kräfte gestärkt wurden, die sich staatlicher Kontrolle zu entziehen trachteten; zweitens musste es Teilen der Bevölkerung so erscheinen, dass die in ihren Augen durch frühere Verbrechen diskreditierten Warlords die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft – oder zumindest Washingtons – genießen. Ein Beispiel ließ sich bereits zum Jahresende 2001 (also direkt nach dem Sturz der Taliban) beobachten, als das US-Militär in Kandahar den kriminellen Warlord Shirzai nicht allein förderte und bewaffnete, sondern sogar dafür sorgte, dass er zum Gouverneur ernannt wurde. So erlangte er nicht allein die Macht in einer strategisch wichtigen Provinz, sondern die symbolische Bedeutung seiner Ernennung trug zur Enttäuschung der dortigen Bevölkerung über den politischen Neubeginn bei und diskreditierte die Regierung in Kabul. Dazu kommt heute das Problem der teilweise massiven Rechtsverstöße durch die Regierung und ihre Beamten: Das Niveau der Korruption ist hoch, Menschenrechtsverletzungen (Verstöße gegen die Meinungs- oder Religionsfreiheit und Folter eingeschlossen) sind an der Tagesordnung.

Die massiv ausgeweitete Produktion von Drogen verschärft dieses Problem zusätzlich – die Drogenökonomie untergräbt den Staat auf doppelte Weise: Sie verschafft den Aufständischen und Warlords beträchtliche Einnahmequellen, die ihnen die Kriegführung erlauben, und sie generiert riesige Geldmengen, die die Korruption anheizen und so die Wirksamkeit des Staatsapparats untergraben und bei vielen Beamten (und Teilen der Bevölkerung) eine Sympathie oder Abhängigkeit von den politisch-kriminellen Strukturen bewirken.

Empfehlung Wenn die internationale Gemeinschaft oder die Bundesregierung zukünftig in Kontexten von failed oder failing states erwägen, erneut Interventionen mit den Dimensionen von state-building und/oder nation-building zu unternehmen, dann sollte dem eine gründliche Prüfung der lokalen Voraussetzung vorangehen. Wird state-building/nation-building nicht durch zentrale Akteure der betroffenen Gesellschaft getragen, sollte von externen Versuchen eines Aufbaus von Staatlichkeit Abstand genommen werden, da eine zentrale Voraussetzung fehlt. Ggf. sollte man sich auf bescheidenere Interventionsformen (etwa humanitärer Art) beschränken.

Empfehlung Bei der Auswahl lokaler Partner zur Kooperation bei politischen, entwicklungspolitischen oder militärischen Aufgaben sollte nicht nur auf deren Effizienz bei der Bewältigung der konkreten Aufgabe geachtet werden, sondern sorgfältig deren politische Rolle im örtlichen Kontext, ihr früheres Verhalten (Gewalt, Kriminalität, Korruption, Drogenhandel, politische Allianzen etc.) und ihr Ansehen bei der Bevölkerung geprüft werden. Externe Akteure werden vor Ort in der Regel zum großen Teil danach eingeschätzt, mit wem sie Kooperationsbeziehungen eingehen.

Abhängigkeit der externen Akteure von funktionierender Staatlichkeit Der fragile und schwache Charakter der Staatlichkeit in Afghanistan ist kein abstraktes oder akademisches Problem, sondern stellt die Grundlage der internationalen militärischen und zivilen Intervention infrage. Diese war politisch, rechtlich und praktisch auf die Unterstützung des afghanischen Staates ausgerichtet – aufgrund seiner ausgeprägten Schwäche besteht diese Geschäftsgrundlage allerdings nur zum Teil. Vielmehr wurde es schnell zur wichtigsten Aufgabe der externen Akteure, den Staat überhaupt am Leben zu halten – dieser geriet so unvermeidbar in eine grundlegende Abhängigkeit von den internationalen Akteuren. Dadurch entstand die unhaltbare Situation, dass die externen Akteure einerseits über die bloße Unterstützung des afghanischen Staates weit hinausgehen mussten, um durch seine Handlungsschwäche nicht selbst gelähmt zu werden, andererseits aber die staatlichen Kernaufgaben weder selbst übernehmen wollten noch konnten, was unweigerlich zu einer quasikolonialen Situation geführt hätte. Die Vorstellung der Afghanistan-Präsenz als einer internationalen Unterstützungsoperation für die afghanische Regierung setzte voraus, dass es einen grundlegend funktionsfähigen Staat gab. Der defizitäre Charakter und das teilweise Fehlen eines solchen Staatsapparats außerhalb der Städte ließ die internationalen Akteure in einer gewissen Hilflosigkeit zurück. Sie müssen sich der zunehmenden Gewalt im Lande entgegenstellen, ohne die Quellen der Gewalt politisch selbst bearbeiten zu können, während die Regierung sich zu dieser Bearbeitung als unfähig erweist. Zugleich lief der allergrößte Teil der humanitären und entwicklungspolitischen Aktivitäten am noch jungen und kaum funktionsfähigen Staat vorbei. Zu Beginn wurden nur rund 16 % der internationalen Hilfsgelder über den Staat abgewickelt, ein Betrag, der später mäßig stieg. Um schnelle Wirkungen zu erzielen, wurden so internationale Organisationen und NGOs zu Schlüsselakteuren gemacht, was den im Entstehen begriffenen afghanischen Staat weiter marginalisierte und schwächte.

Die Governance-Lücke zwischen Sicherheits- und Entwicklungspolitik

Die US-Regierung glaubte nach Petersberg, den „Schwarzen Peter“ des nation-building an die neue afghanische Regierung, die UN und die europäischen Verbündeten abgeben und sich verstärkt der Vorbereitung des Krieges gegen den Irak widmen zu können. So blieb ihr Engagement zuerst eher gering, von Widersprüchen gekennzeichnet und deutlich sicherheitslastig.

Die europäischen Verbündeten konzentrierten sich im zivilen Bereich vor allem auf humanitäre und entwicklungspolitische Maßnahmen, insbesondere kurzfristiger Art. Verheerend war, dass die zentrale Aufgabe des Staatsaufbaus zugunsten der humanitären und entwicklungspolitischen Serviceleistungen grundsätzlich vernachlässigt wurde. Als katastrophale Fehlschläge erwiesen sich ausgerechnet die Schlüsselbereiche von Staatsbildung, nämlich die Herstellung eines funktionierenden Rechtswesens und der Polizei. Dies nutzten in den folgenden Jahren die Neo-Taliban und andere Aufständische, indem sie ihr eigenes Rechtswesen an die Stelle des kaum funktionierenden staatlichen zu setzen versuchten. Die Spaltung des internationalen Engagements in sicherheitspolitische Komponenten (in der Regel nicht an den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung orientiert, sondern an denen externer Akteure) und entwicklungspolitische ließ eine wichtige Lücke bestehen, nämlich bezüglich der bevölkerungsnahen Governance-Strukturen, die in Afghanistan nur unzureichend entwickelt wurden. Das weitgehende Versagen beim Polizeiaufbau und das möglicherweise noch massivere beim Aufbau eines funktionierenden Rechtswesens stellten deshalb keine beliebigen Fehler oder Schwächen dar, sondern betrafen den Kern des Aufbaus glaubwürdiger Staatlichkeit. Anders ausgedrückt: Die Kombination von Militär- und Sicherheitspolitik mit Entwicklungszusammenarbeit ergibt noch keine Staatsbildung. Der Aufbau wirksamer und bevölkerungsnaher Governance-Strukturen unterhalb der politischen Spitzenebene sollte nicht nur ein eigenständiger Politiksektor sein, sondern darüber hinaus ins Zentrum gerückt werden. Nur er kann die anderen sektoralen Arbeitsfelder integrieren und politisch nutzbar machen. Weder die Militär- und Sicherheitspolitik noch die Entwicklungszusammenarbeit verfügen in diesem Kernbereich allerdings bisher über ein ausreichendes Instrumentarium.

Empfehlung Entwicklungs- und Infrastrukturprojekte tragen erst dann zur Verfestigung von Staatlichkeit bei, wenn sie vom Staatsapparat selbst verantwortet oder ihm direkt zugeordnet werden. Im anderen Fall besteht die Gefahr, dass sie lokale Machthaber politisch stärken und die Regierung so schwächen. Solche Projekte sollten deshalb wann immer möglich so angelegt werden, dass sie einen zu unterstützenden Staatsapparat auch tatsächlich politisch festigen helfen. Mittel- und längerfristige entwicklungspolitische Maßnahmen sollten prinzipiell Vorrang vor quick impact-Projekten haben.

Empfehlung Im Dreieck von militärischen Operationen, Entwicklungsprojekten und Staatsbildung/Governance sollte letzteres ins Zentrum gerückt und die beiden anderen Bereiche untergeordnet werden. Sicherheit und Entwicklung sind wichtig, aber ohne erfolgreiche Staatsbildung hängen sie in der Luft, sind nicht nachhaltig und verfehlen ihre politische Absicht dauerhafter Stabilisierung.

Im Hinblick auf zukünftige Einsätze sollte die Bundesrepublik einen sofort zur Verfügung stehenden Pool zusätzlich für den Polizeiaufbau in Krisenländern ausgebildeter Polizisten (Landes- und Bundespolizei, 100-150 Beamte) vorhalten. Entsprechendes gilt für Juristen und den Justizaufbau. Dieses Personal darf keinerlei Nachteile bei Laufbahn, Beförderung und in anderen Fragen haben. Die Bundesregierung sollte sich bemühen, im Rahmen der Europäischen Union auf die Bildung entsprechender Kapazitäten hinzuwirken.

Fehleinschätzung der Bedeutung Pakistans

Ein zentrales Problem des Afghanistankrieges liegt in seiner grenzübergreifenden Verbindung zum Nachbarland Pakistan. Dabei wird allerdings in der öffentlichen Diskussion häufig eine verengte Perspektive sichtbar: nämlich eine Fokussierung darauf, dass aus Pakistan destabilisierend auf Afghanistan eingewirkt wird, dass von dort afghanische Gewaltakteure unterstützt werden und die dortigen Stammesgebiete (Federally Administered Tribal Areas – FATA) diesen Rückzugsraum bieten. Die Rolle der FATA und der extremistischen Parteien und Organisationen in Pakistan ist offensichtlich, wobei aber eine Tendenz besteht, diese zu überschätzen, um von den eigenen Schwierigkeiten in Afghanistan und den dort hausgemachten Gewaltursachen abzulenken. Der Aufstand in Afghanistan hat seine Quellen und Ursachen in dem Land selbst und wird von außen nur unterstützt, nicht von dort geleitet oder verursacht. Die Möglichkeiten der pakistanischen Regierung, die FATA abzuriegeln oder die dort befindlichen Taliban zu bekämpfen, sind aus topographischen und politischen Gründen gering: Das pakistanische Militär hat bisher bereits schätzungsweise 1.500 Soldaten bei solchen Kämpfen verloren (also rund dreimal so viele wie die USA in Afghanistan), ohne sonderliche Erfolge zu erzielen. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass sich der Afghanistankrieg ausgesprochen destabilisierend auf Pakistan auswirkt. Seit 2002 hat sich, als seine direkte Folge, in den FATA, aber auch im größten Teil der Nordwestprovinz ein Klima der Gewalt entwickelt, das die Stabilität Pakistans insgesamt bedroht: Seitdem ist dort eine Welle von terroristischen Anschlägen und Selbstmordattentaten in Gang gekommen, deren prominentestes Opfer zum Jahresende 2007 die ehemalige Ministerpräsidentin und Oppositionsführerin Benazir Bhutto wurde. Heute droht diese Welle der Gewalt auf weitere, auch entfernte Landesteile überzugreifen. Im letzten Jahr waren in Pakistan insgesamt schon rund 3.600 Tote zu beklagen (bei etwa 8.000 in Afghanistan). Eine solche Entwicklung hätte allerdings katastrophale Folgen: Im Gegensatz zum relativ bedeutungslosen Afghanistan hat Pakistan fast 170 Mio. Einwohner sowie eine große Migrantengemeinde in westlichen Ländern. Das Land ist ethnisch und religiös sehr heterogen und fragil und verfügt über Atomwaffen. Darüber hinaus grenzt es an mehrere schwierige Nachbarn (Iran, Afghanistan, China, Kaschmir/Indien). Sollte Pakistan also als Folge des Afghanistankrieges weiter destabilisiert werden und in einen Strudel zunehmender Gewalt und Fragmentierung geraten, wäre dies potenziell weit gefährlicher als der Afghanistankrieg. Die westliche Politik neigt bislang dazu, diese Probleme eher zu verschärfen denn zu mäßigen. Aus taktischen Gründen – um die Lage in Afghanistan zu beruhigen – wurde der extrem unbeliebte Präsident Musharraf über Jahre gegen fast die gesamte Bevölkerung unterstützt, das demokratische Potenzial Pakistans ignoriert und untergraben. Durch das massive Drängen auf eine militärische Kontrolle der FATA wurde das Gewaltniveau in Pakistan gehoben, obwohl eine solche Kontrolle ohnehin kaum möglich ist. Insgesamt haben die massive Unterstützung des Militärregimes (bis Anfang 2008) gegen die demokratische Opposition und dessen Indienstnahme als Hilfstruppe des Afghanistankrieges Pakistan in eine schwere Krise gestürzt und destabilisiert. Vor dem Hintergrund der weit höheren Bedeutung und des größeren Gefährdungspotenzials Pakistans sollte von dieser Politik Abstand genommen werden. Empfehlungen Die Bundesregierung und ihre NATO-Partner sollten Pakistan nicht primär unter dem taktischen Gesichtspunkt betrachten, wie man es zur Grenzsicherung Afghanistans instrumentalisieren kann, sondern eine aktive Pakistanpolitik entwickeln, die das Land wegen seiner eigenen Bedeutung ins Zentrum rückt. Die Stabilität Pakistans ist potenziell weit wichtiger als diejenige Afghanistans, sie darf letzterer nicht geopfert werden. Die Bundesrepublik sollte eine integrierte Strategie zur Stabilisierung Pakistans entwickeln, die wirtschaftliche, sozialpolitische und Governance-Aspekte einbezieht. Die Bundesregierung sollte in diesem Sinne auf die Europäische Union einwirken.

Die deutsche und internationale Afghanistanpolitik sollte zukünftig potenziell destabilisierende Wirkungen in Pakistan mit berücksichtigen und möglichst reduzieren.

III. Auswege aus der gegenwärtigen Situation

Die internationale Gemeinschaft steht in Afghanistan am Scheideweg – sie kann auf die Eskalation der Gewalt mit einer schrittweisen Verstärkung der ausländischen und afghanischen Truppen reagieren, was für sich genommen die Gefahr heraufbeschwört, sich in der gegenwärtigen Sackgasse einzurichten. Aufgrund der eindeutigen militärischen Kräfteverhältnisse – die NATO steht gegenwärtig vermutlich kaum mehr als 17.000 Aufständischen gegenüber, während sie im Vergleich zu diesen selbst über fast unbegrenzte militärische Möglichkeiten verfügt – können die USA und ihre Verbündeten den Krieg militärisch nicht verlieren. Deshalb besteht die offenkundige

Tendenz, sich primär auf militärische Machtmittel zu verlassen. Dies wäre ein schwerer Fehler, denn für die NATO reicht es nicht aus, nicht zu verlieren: Sie muss den Krieg gewinnen, sonst erleidet sie trotz ihrer Stärke eine politische Niederlage. Anders sieht es für die Taliban und die anderen Aufständischen aus: Sie brauchen militärisch nicht zu siegen – ihnen reicht es, nicht zerschlagen zu werden, um politisch zu gewinnen.

Der gegenwärtige Krieg ist ohnehin stärker eine politische denn militärische Auseinandersetzung, der – wie fast alle Aufstände und Aufstandsbekämpfungen – um die Loyalität der Bevölkerung geführt wird, ihre hearts and minds. In dieser Hinsicht kann sich eine eindeutige militärische Übermacht durchaus als nebensächlich oder schädlich erweisen, wenn etwa wiederholte „Kollateralschäden“ an Zivilisten die Bevölkerung gegen den militärischen Goliath aufbringen. So fielen Angriffen der NATO-Truppen in den ersten vier Monaten 2008 rund 200 Zivilisten zum Opfer – kaum weniger als die 300, die durch Taliban-Angriffe starben. Die Neo-Taliban und ihre Verbündeten scheinen den politischen Charakter des Krieges gegenwärtig besser zu verstehen als die NATO. Sie richten ihre Angriffe außer auf die als ausländische Besatzer betrachteten fremden Truppen vor allem gegen die Präsenz der ohnehin schwachen Staatlichkeit, um das so entstehende Vakuum dann selbst politisch zu füllen – wenn sie beispielsweise Polizeiposten oder Schulen angreifen, dann nicht so sehr, weil sie etwas gegen Schulen an sich haben, sondern weil sie die schwache Staatlichkeit weiter zurückdrängen wollen.

1. Massive Anstrengungen zur Unterstützung des Staatsaufbaus

Das aus den innergesellschaftlichen Machtkämpfen und dem damit verknüpften Staatsbildungsprozess resultierende Gewaltpotenzial kann durch militärische Repression nicht nachhaltig überwunden werden, sondern nur durch (a) den praktischen Nachweis, dass sich der neue Staat aus Sicht der Gesellschaft fragmentierten Formen von Governance gegenüber als überlegen erweist, und (b) einen erfolgreichen Abschluss des Staatsbildungsprozesses, der zwischenzeitlich selbst Instabilität hervorrufen kann und muss, da er gesellschaftliche und politische Macht umverteilt.

Unter diesen Bedingungen ist die Schaffung öffentlicher Infrastruktur prinzipiell erstrebenswert, aber – wie oben gezeigt – nicht unter allen Rahmenbedingungen friedensfördernd oder ein Beitrag zur nationalen Reintegration. Diese kann nur gelingen, wenn die Entwicklungsmaßnahmen mit einem Netz zumindest grundlegender Staatlichkeit verknüpft sind. Entwicklungsprojekte oder humanitäre Aktivitäten ohne funktionierende Staatlichkeit sind vor Ort besser als keine Entwicklung, stellen aber keinen Beitrag zur Gewinnung staatlicher Legitimität und der Durchsetzung eines Gewaltmonopols der legitimen Staatlichkeit dar. Die Effizienz der staatlichen Verwaltung bleibt bisher in vielen Bereichen niedrig, die Verankerung des Staates und die Nachhaltigkeit dieser Form von Staatlichkeit auf dem Land gering: Ohne die Präsenz der ausländischen Truppen und die internationalen Finanzflüsse würde sich die gegenwärtige Regierung kaum länger halten können.

Wenn man eine Fragmentierung Afghanistans in zahlreiche, locker verbundene und faktisch autonome Einflussgebiete als Lösung des aktuellen Gewaltkonflikts ausschließt, besteht mittelfristig die einzige Chance einer Marginalisierung der Aufständischen darin, die fragilen staatlichen Strukturen in den Provinzen und auf dem Land schrittweise so weit zu verfestigen, dass der Staat flächendeckend zur Realität wird und immer mehr Relevanz auch für die ländliche Bevölkerung gewinnt. Ein solcher Staat darf nicht als korrupt oder inkompetent erscheinen – weshalb die Erhöhung der Gehälter der Polizei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist –, er muss bei lokalen Konflikten oder örtlichen Rechtsstreitigkeiten als prinzipiell neutral erscheinen und durch Vermittlung und ein funktionierendes Rechtswesen diese Neutralität nachweisen. In diesen Bereichen sollte der eindeutige Schwerpunkt der internationalen Unterstützung liegen – wenn hier Fortschritte zu verzeichnen sind, dann können in einem zweiten Prozess (der durchaus parallel verlaufen kann) staatliche Entwicklungs- und Infrastrukturmaßnahmen die Staatlichkeit weiter festigen. Eine Voraussetzung besteht allerdings darin, dass solche Maßnahmen erkennbar vom Staatsapparat betrieben und verantwortet werden und nicht an diesem vorbei erfolgen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt also in den Kernbereichen staatlicher Regierungsführung, die nachgeordnet durch entwicklungspolitische Maßnahmen flankiert werden sollten.

Deshalb kommt es darauf an, die Bereiche von Governance und Staatsaufbau ins Zentrum des internationalen Engagements zu rücken und alle anderen Maßnahmen in deren Dienst zu stellen. Hierbei erweist es sich als ein zentrales Hemmnis, dass weder die Militär- und Sicherheitspolitik noch die Außen- oder Entwicklungspolitik in diesem Kernbereich der Stabilisierung von failed states in Post-Konflikt-Situationen über ein eingespieltes und bewährtes Instrumentarium verfügen, wie dies in anderen Politikbereichen vorhanden ist. Mittelfristig wäre es dringlich, gerade hier staatliche und nichtstaatliche Kapazitäten aufzubauen.

Empfehlung Bundesregierung, Bundestag und Bundeswehr sollten konsequent bei ihrer Rolle der Unterstützung der afghanischen Regierung bleiben, aber sich vor allem darauf konzentrieren, den afghanischen Staatsapparat zu stärken, damit seine Unterstützung reale Wirkung im Land entfalten kann.

Empfehlung Wenn der zügige Aufbau funktionierender Governance-Strukturen und eines belastbaren und nachhaltigen Staatsapparats nicht gelingt, wird das internationale Afghanistan-Engagement mittel- oder langfristig scheitern. Deshalb sollten die bestehenden Maßnahmen in diesem Bereich deutlich verstärkt und ins Zentrum aller Anstrengungen gerückt werden.

In diesem Bereich sollten zügig deutliche Kapazitätsausweitungen vorgenommen werden, nicht allein im Hinblick auf Afghanistan, sondern auch im Vorgriff auf zukünftige Einsätze in Kontexten schwacher, fragmentierter oder gescheiterter Staatlichkeit anderswo.

Bei der Stärkung von Staatlichkeit sollte verstärkt auf deren Nachhaltigkeit geachtet werden: Wenn die internationale Unterstützung zu dauerhafter Abhängigkeit (etwa von externer Finanzierung oder Expertentum) führt, bleibt die Staatsbildung latent gefährdet.

Erst vor einem solchen Hintergrund gewinnen militärische Maßnahmen überhaupt ihre Berechtigung und Relevanz: Durch sie kann Zeit gewonnen werden, um eine solche Politik zu ermöglichen, sie können und sollten einen solchen Prozess schützen und absichern – ohne eine solche Politik kann der Krieg allerdings nicht gewonnen werden. Wenn der politische Prozess fehlt oder misslingt, sind Militäreinsätze sinnlos und dienen nur der Vertuschung und Verzögerung des Scheiterns.

2. Drängen auf die Beseitigung staatlicher Defekte und Defizite

Der afghanische Staat bleibt bislang extrem fragil und schwach, seine Legitimität ist seit der Aufbruchsatmosphäre der ersten freien Parlamentswahlen deutlich gesunken, er beruht auf einer labilen Zusammenarbeit „moderner“, teilweise aus dem Exil zurückgekehrter Persönlichkeiten mit islamistischen Hardlinern, von denen manche ideologisch kaum von den Taliban zu unterscheiden sind, sowie mit lokalen und regionalen Kommandanten und Warlords oder ihren Vertretern. Viele staatliche Funktionsträger sind korrupt, handeln nicht selten willkürlich oder repressiv – selbst das US-Außenministerium beklagt ein sehr hohes Niveau an Menschenrechtsverletzungen.

Deshalb ist es entscheidend, den afghanischen Staat nicht nur zu stärken, sondern auch seine Deformationen und Schwächen mit Nachdruck zu bekämpfen. Hierbei sind Unterstützungs- und Hilfsmaßnahmen angebracht, wie sie oben angesprochen wurden, aber auch ein verstärkter Druck auf die zuständigen afghanischen Regierungsinstanzen, insbesondere die Korruption und die Menschenrechtsverletzungen entschlossener zu bekämpfen. Beides wird auf Dauer die internationale Unterstützung für Afghanistan untergraben, nimmt dem Staat aber auch im eigenen Land einen Teil seiner Glaubwürdigkeit und spielt so den Neo-Taliban und ihren Verbündeten in die Hände.

3. Alternative: Rückzug in die Städte

Die internationale Gemeinschaft steht vor der Wahl, entweder die Kraft und das Engagement aufzubringen, in letzter Sekunde doch noch einen gesellschaftlich verankerten Staat aufbauen zu helfen, der im ganzen Land tatsächlich wirksam ist. Erst in einem solchen Fall machen Diskussionen über weitere Truppenentsendungen überhaupt Sinn, und erst dann wird die Unterstützung der afghanischen Regierung zu einer ernsthaften Politikoption. Sollte der Aufbau einer gestärkten Staatlichkeit in Afghanistan in absehbarer Zeit nicht gelingen (oder die internationale Gemeinschaft den Willen oder die Kraft dazu nicht aufbringen), geraten die internationalen Truppen – auch die Bundeswehr – in eine kaum noch haltbare Lage, da ihre Einsätze in der Luft hingen und es ihnen an den nötigen Erfolgsvoraussetzungen mangelte. In einer solchen, gegenwärtig nicht mehr auszuschließenden Situation würde sich bald die Frage nach einem Abzug der Truppen stellen, da man keine bewaffneten Kräfte in einer Kriegsumgebung lassen sollte, wenn sie nicht über eine Erfolgschance verfügen. Allerdings würde ein abrupter Abzug die Situation weiter destabilisieren und der afghanischen Regierung vermutlich mittelfristig die Existenzfähigkeit rauben. Deshalb sollte diskutiert werden, ob dann die Truppen aus der Fläche herausgenommen und in den größeren Städten konzentriert werden – dort könnten sie die tatsächlich vorhandenen staatlichen Organe und die Zivilbevölkerung weiter schützen. Eine solche Option würde das ursprüngliche Einsatzkonzept, das auf die Hauptstadt Kabul konzentriert war, unter veränderten Bedingungen und in erweiterter Form wieder aufgreifen. Sollte in einem solchen Rahmen die afghanische Regierung in der Lage sein, sich im Lande stärker zu verankern (ähnlich, wie es der Regierung von Präsident Nadschibullah nach dem Abzug der sowjetischen Truppen eine Zeitlang gelang, bis sie an ihren inneren Widersprüchen zugrundeging), wäre eine Stabilisierung die Folge. Sollte eine solche ausbleiben, wäre ein späterer geordneter Abzug vorbereitet.

Empfehlung Sollte die internationale Gemeinschaft nicht in der Lage oder nicht bereit sein, den Staatsaufbau in Afghanistan energisch voranzutreiben oder sollte dieser aufgrund der innerafghanischen Bedingungen in absehbarer Zeit keinen Erfolg zeitigen, sollten die Bundesregierung und andere Länder einen Rückzug ihrer Truppen in die größeren Städte erwägen. So ließe sich Zeit gewinnen, ohne vollkommen in einen dann vermutlich eskalierenden Krieg gezogen zu werden. Ein gegenwärtiger, schneller oder überstürzter Truppenabzug aus Afghanistan würde die Situation weiter destabilisieren. Eine solche Konzentration des ausländischen Militärs in den Städten (ggf. irgendwann nach dem Herbst/ Winter 2009 oder 2010) würde erweisen, ob die afghanische Regierung und ihre Streitkräfte ihren Aufgaben gewachsen sind – träfe dies in absehbarer Zeit nicht zu, wäre der Krieg ohnehin nicht zu gewinnen. Dann würde sich die Abzugsfrage verschärft stellen.

Empfehlung Die Bundesregierung, der Bundestag und die deutsche Zivilgesellschaft sollten mit größerem Nachdruck auf die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und die Bekämpfung der Korruption drängen. Hier wäre eine Mischung diskreter Einflussnahme und öffentlicher Stellungnahmen sowie symbolischer Akte angebracht.

Darüber hinaus versteht sich von selbst, dass verstärkte Anstrengungen bezüglich einer besseren Organisation und Finanzierung des Afghanistan-Engagements dringlich sind. Die verschiedenen Geberländer sollten verstärkt dazu angehalten werden, ihre Finanzzusagen auch einzuhalten. Dies gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn ein gestärkter Staatsapparat entsteht, der zur sachgerechten Absorption dieser Mittel in der Lage ist.

Policy Paper 29 der Stiftung Entwicklung und Frieden

Herausgeberin: Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) Dechenstraße 2 53115 Bonn Tel.: (0228) 9 59 25-0 Fax: (0228) 9 59 25-99 eMail: sef@sef-bonn.org Website: http://www.sef-bonn.org Redaktion: Dr. Michèle Roth ISSN 1437-2800

© Stiftung Entwicklung und Frieden, September 2008

Autor:
Dr. Jochen Hippler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen sowie freiberufliche Nebentätigkeit als Politikberater und Consultant

Mitunterzeichner:
Victor Kocher, Nahost-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), Limassol
Dr. Reinhard Mutz, Senior Research Fellow, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg (IFSH)
Hans-C. Graf von Sponeck, langjähriger UN-Diplomat, u.a. UN-Koordinator in Pakistan, Afghanistan und Irak