Jochen Hippler

Der Krieg geht weiter - Afghanistan

(geschrieben 1988)

 

Im April 1988 wurden in Genf die Genfer Afghanistan-Vereinbarungen unterzeichnet. Die Regierungen Afghanistans, Pakistans, der Sowjetunion und der USA verständigten sich auf Prinzipien, die in der UNO-Charta und anderen Bestandteilen des Völkerrechts ohnehin schon für verbindlich erklärt sind (etwa der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, etc.) und schufen damit die politischen Voraussetzungen für einen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Der Abzug begann daraufhin bereits Mitte Mai dieses Jahres.

Die Genfer Verträge und der Abzug der sowjetischen Interventionstruppen werden allerdings in absehbarer Zeit nicht zum Frieden in Afghanistan führen. Schließlich hatte die Sowjetunion in einen Bürgerkrieg interveniert, und diesen nicht erst verursacht. Und die Ursachen des Bürgerkrieges, nämlich die tiefgreifenden sozialen und politisch-religiösen Konflikte innerhalb des Landes, sind alles andere als gelöst - eher wurden sie durch den jahrelangen Krieg noch zugespitzt. Die Genfer Abkommen führen vorläufig zu drei konkreten Ergebnissen: dem Abzug der sowjetischen Truppen, der Verschärfung der Konflikte zwischen Regierung und Mudjahedin und zunehmenden - auch gewaltsam ausgetragenen - Konflikten innerhalb der Mudjahedin-Allianz.

Anmerkungen zur Vorgeschichte

Afghanistan ist ein extrem armes und wirtschaftlich wenig entwickeltes Land. Weder aufgrund seiner internen ökonomischen Entwicklung, noch aufgrund eines (fehlenden) Reichtums an Bodenschätzen hat Afghanistan es zu auch nur bescheidenem Wohlstand gebracht. Rosinen, Tierhäute, Halbedelsteine und - immerhin - Erdgas sind die wichtigsten Exportprodukte. Industrien im nennenswerten Umfang gibt es nicht. Der ökonomische Standard wird dadurch gekennzeichnet, daß es nicht einmal Statistiken über den Umfang des Bruttosozialproduktes gibt. Schätzungen besagen, daß etwa 80 % der Afghanen von der Landwirtschaft leben.

Die politische Tradition entspricht diesen Bedingungen - und den geographischen und topographischen Gegebenheiten: große Teile des Landes sind zerklüftet oder sonstwie schwer zugänglich, Infrastruktur im Verkehrsbereich ist höchst mangelhaft. Entsprechend zersplittert war in Afghanistan traditionell die politische Macht und der ökonomische Einfluß. Stammeshäuptlinge, traditionelle Anführer eines Dorfes oder einer kleinen Region, religiöse Führer (insgesamt etwa eine Viertelmillion bei einer Bevölkerung von 13-19 Millionen) bestimmten das Leben auf dem Land. Darüber, entrückt und oft einflußlos, "regierte" eine Regierung in Kabul, die in aller Regel auf die Kooperation der jeweiligen Dorf- und Stammesgrößen und religiösen Führer angewiesen war, wenn sie außerhalb der Städte etwas erreichen wollte. Nicht einmal eine so grundlegende Staatstätigkeit wie das Steuerwesen funktionierte auf dem Land, einflußreiche Stämme entzogen sich dem Militärdienst, ohne daß die Regierung dagegen hätte vorgehen können. Einer zersplitterten und höchst traditionalistischen islamischen Gesellschaft stand damit ein Staatsapparat gegenüber, der im größten Teil des Landes nur eingeschränkt oder gar nicht handlungsfähig war.

Den wirtschaftlichen und politischen Zuständen im Land entsprachen die sozialen Lebensbedingungen. Noch in den siebziger Jahren war das Rechtswesen in den Händen religiöser Gerichtshöfe, auf dem Land existierte kaum ein ordentliches Schulwesen, Frauen wurden durch Brautgelder gekauft oder verkauft. 90 % der Bevölkerung insgesamt, 98 % der Frauen konnten weder lesen noch schreiben. Der jämmerliche Lebensstandard der Bevölkerung wurde durch ein Geflecht persönlicher Abhängigkeiten und Loyalitäten zementiert, Hoffnung auf sozialen Wandel und wirtschaftliche Entwicklung war gering.

Verschiedene Regierungen in Kabul hatten mehrfach versucht, diese afghanischen Zustände zu durchbrechen. König Abdur Rahman hatte Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit Gewalt, britischer Hilfe und einigem Geschick versucht, die Zentralgewalt auf Kosten der Stämme und Clans zu stärken. Dabei konnte er, ebenso wie König Amanollah in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, nur begrenzte Erfolge verbuchen. In historischer Perspektive müssen die Ereignisse im Gefolge der "April-Revolution" von 1978 - einschließlich Bürgerkrieg - in diesem Zusammenhang betrachtet werden: als einer der periodisch wiederkehrenden und bisher immer gescheiterten Versuche, den Staatsapparat in Afghanistan zu stärken, funktionsfähig zu machen, und die entgegenstehenden partikularen Interessen zurückzudrängen. Eine nationalstaatliche "Modernisierung" und die Zurückdrängung oder Zerschlagung der anachronistischen sozialen und politischen Strukturen stand auf der Tagesordnung. Der Militärkorrespondent der liberalen britischen Tageszeitung The Independent, Mark Urban, formulierte treffend: "Wenn jemals ein Land eine Revolution nötig hatte, dann war es Afghanistan." Bis zum Ende der siebziger Jahre hatten alle möglichen, unterschiedlichen Regierungen die zentralen Aufgaben des Landes nicht einmal annähernd lösen können. "Aufeinander folgende Regierungen waren daran gescheitert, die Völker Afghanistans zu alphabetisieren, hatten nicht vermocht, Respekt und eine bessere Lage für Frauen durchzusetzen, oder versäumt, dem Land irgend eine substantielle Regierungs- oder industrielle Infrastruktur zu geben." Die traditionelle afghanische Gesellschaft bot ebenfalls keine Lösungsperspektive: sie war das Grundproblem.

Die "April-Revolution"

Ob die Ereignisse um den Regierungswechsel im April 1978 ein "Putsch" oder eine "Revolution" gewesen seien, wurde mit beträchtlichem Eifer diskutiert. Tatsächlich trägt diese Debatte einen etwas steril akademischen Charakter - oder sie wurde unter primär taktischen Gesichtpunkten einer Legitimierung oder Delegitimierung geführt. Die "April-Revolution" war der Form nach selbstverständlich ein Putsch. Einige progressive Militäreinheiten, deren Offiziere mit der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (PDPA) verbunden waren, stürzten die Regierung des Präsidenten Daoud, der 1973 durch einen Putsch den König Zahir Shah von der Macht verdrängt, zuerst einer reformistischen Linie gefolgt, dann aber scharf und repressiv gegen die Linke vorgegangen war. Wenn aber der Ablauf des Regierungswechsels einem klassischen Staatsstreich glich, so ging es in der Substanz doch um weit mehr, als um das bloße Austauschen von Personen: das Ziel war offen revolutionär, es ging um nichts weniger als eine völlige Umgestaltung der ökonomischen und politischen Verhältnisse des Landes, um eine nachholende Modernisierung, die die tradierten Machtstrukturen aufbrechen sollte.

Diese Ziele waren nicht nur legitim, sie waren für die zukünftige Entwicklung Afghanistans und eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen auch sinnvoll und notwendig. Über die konkrete Praxis der PDPA ist damit allerdings noch nichts ausgesagt.

Die "Revolution" des April war keine Revolution im klassischen Sinne. Die Revolutionspartei PDPA war im Land kaum verankert. Ihre soziale Basis war höchst schmal, sie erstreckte sich im wesentlichen auf Intellektuelle, Studenten, Staatsbeamte, Lehrer oder Offiziere, geographisch gesehen auf die Hauptstadt und einige andere Städte. In der Landbevölkerung, also bei der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, verfügte die PDPA praktisch über keinen Anhang. Anders ausgedrückt: die April-Revolution war die Revolte bestimmter Teile der städtischen Mittelschichten gegen anachronistische Sozialstrukturen und einen inkompetenten und zunehmend repressiven Staatsapparat.

Zusätzlich war die neue Regierungspartei PDPA (mit damals schätzungsweise 11-12 000 Mitgliedern landesweit) in zwei sich heftig bekämpfende Flügel gespalten, so daß die schwachen Kräfte noch großenteils für interne Machtkämpfe vergeudet wurden. (Einem streng dogmatischen und kompromißlosen Flügel, der Chalq-Fraktion mit deren Exponenten Taraki und Amin stand ein eher gemäßigter und flexiblerer Flügel, die Parcham-Fraktion unter Babrak Karmal, gegenüber. Häufig agierten beide Flügel wie getrennte Parteien, die punktuelle Bündnisse eingingen, sich aber ansonst bekämpften.) Auch die Armee war alles andere als ein sicheres Machtinstrument - was die spätere Desertion ganzer Truppenteile, bis auf Divisionsebene - unterstreichen würde.

In dieser Situation eigener Schwäche und Isolierung begann die PDPA mit einem ambitiösen Programm sozioökonomischer Umgestaltung der afghanischen Gesellschaft. Noch im Mai 1978 verkündete die neue Regierung ihr grundlegendes Programm. Die wichtigsten Punkte waren die Förderung der Gleichberechtigung der ethnischen Minderheiten, eine Landreform, Emanzipation der Frau und Erziehung für alle. Damit waren in der Tat zentrale Probleme der afghanischen Gesellschaft, vor deren Lösung alle früheren Regierungen zurückgeschreckt waren, ins Zentrum der Politik gerückt. Doch hinter dieser Ebene guter Vorsätze begannen die Schwierigkeiten. Die wenigen Kader der PDPA waren in der Regel hauptstädtische Intellektuelle, denen jedes Verständnis für das Leben auf dem Land, für die traditionalen Abhängigkeits- und Loyalitätsgeflechte und für die religiösen Empfindungen der Landbevölkerung fehlte. Diese Unsensibilität den konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen paarte sich nicht selten mit beträchtlichem revolutionärem Eifer und der Tendenz, auftretende Schwierigkeiten mit Zwang oder gar Brutalität beheben zu wollen. Ein nicht vorhandener, inkompetenter oder auf die lokalen Größen angewiesener Verwaltungsapparat auf dem Land machte die Sache nicht besser. Die Landreform etwa, oder die damit verbundene Streichung der ländlichen Verschuldung aus den Jahren vor 1973, führte aus diesen Gründen nicht zur Vergrößerung der sozialen Basis der Regierung, sondern zu wachsendem Widerstand. Die Maßnahmen schufen naturgemäß auf dem Land Unruhe, Streit und unklare Verhältnisse (wem gehörte welches Stück Land, wer hatte bei wem vor Jahren wieviel Schulden gemacht?), Landbesitzer und ultra-konservative Mullahs nutzten dies, um Widerstand gegen die als anmaßend empfundenen Eingriffe der Zentralregierung zu organisieren. Zugleich fehlten der Regierung die materiellen, organisatorischen und personellen Mittel, die verkündeten Reformen tatsächlich durchzuführen. Großstädtische Intellektuelle ohne jede landwirtschaftliche Erfahrung oder Vertrautheit mit den lokalen Bedingungen wurden entsandt, Streit zu schlichten und die Landreform zu verwirklichen. Chaos, Widerstand und Repression waren die Folge. Bei Maßnahmen zur Förderung von Frauen, etwa im Rahmen der Alphabetisierung, verletzten die Revolutionäre die islamischen Traditionen und Gefühle der Landbevölkerung, auch jener Menschen, denen zu nutzen sie sich vorgenommen hatten. Übereifrige symbolische Gesten taten ein übriges, sich der Bevölkerungsmehrheit zu entfremden (etwa die Ersetzung der Nationalflagge durch eine rote Fahne).

Die sowjetische Intervention

Das Zusammentreffen des traditionellen, lokalen Autonomiestrebens, der Verkündung und ansatzweisen Durchführung sozialer Reformen und der Unsensibilität und teilweisen Brutalität der PDPA-Kader führten vom Beginn der April-Revolution an zu Widerstand auf dem Land, der - vor dem Hintergrund der afghanischen Geschichte nicht ungewöhnlich - sofort auch gewaltsame Formen annahm. Gleichzeitig verstärkten sich die Konflikte innerhalb der PDPA, die eher gemäßigte Parcham-Fraktion wurde im wesentlichen entmachtet. Die Konflikte auf dem Land und innerhalb der PDPA führten zu Erosionsprozessen der Armee und zu verbreiteter Desertion (etwa der gesamten 17ten Division im März 1979, als diese Widerstand gegen die Alphabetisierungskampagne in Herat brechen sollte). Die politische und militärische Lage der Regierung verschlechterte sich im zweiten Halbjahr 1978 und vor allem 1979 deutlich. Im September 1979 eskalierte ein Machtkampf innerhalb der Chalq-Fraktion der PDPA zu einem Schußwechsel unter den Spitzenfunktionären. Im Verlauf der Ereignisse wurde Präsident Nur Mohammed Taraki gestürzt und anschließend ermordet. Sein Hauptrivale, Verteidigungsminister Hafizullah Amin, wurde der Nachfolger.

Die Beziehungen der Sowjetunion zu Afghanistan waren seit den zwanziger Jahren freundlich und kooperativ. Mäßige Mengen an Wirtschafts- und Entwicklungshilfe wurden bald ergänzt um ein ebenfalls nicht sehr umfangreiches Militärhilfeprogramm und Handelsbeziehungen. Die USA hielten Afghanistan für strategisch unbedeutend und betrachteten es informell als legitimen sowjetischen Interessensbereich. Als die USA sich im Zuge des Kalten Krieges aus strategischen Gründen im CENTO-Pakt mit Pakistan verbündeten (mit dem Afghanistan traditionell Grenzstreitigkeiten hatte) sah sich die afghanische Regierung, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, veranlaßt, sich noch stärker an die Sowjetunion anzulehnen. Zugleich allerdings bemühten sich die afghanischen Regierungen um gute Beziehungen zum Westen und um eine eigenständige Politik der Blockfreiheit.

Seit der Gründung der PDPA hatte die Sowjetunion nicht nur kein besonderes Interesse an dieser Partei, ein gewisses Mißtrauen war deutlich erkennbar und eine Zusammenarbeit zwischen KPdSU und PDPA kaum entwickelt. Von der Machtübernahme der PDPA im April 1978 wurde die Sowjetunion überrascht, stellt sich aber rasch darauf ein und bemühte sich die daraus erwachsenden Vorteile zu nutzen. Im November 1978 wurde die Unterzeichnung eines afghanisch-sowjetischen Freundschaftsvertrages angekündigt und wenige Wochen später vollzogen. Als Reaktion auf die erwähnte Desertion einer kompletten Division entsandte die Sowjetunion im April 1979 eine hochrangige Militärdelegation nach Afghanistan, um die Möglichkeiten und Art einer verstärkten Unterstützung der Regierung zu untersuchen. bald darauf begann eine verstärkte Lieferung von Militärmaterial, insbesondere von Flugzeugen und Kampfhubschraubern. Im Herbst begannen die ersten Vorbereitungen der Intervention, im Verlauf des Dezember 1979 wurden bereits sowjetische Truppen nach Afghanistan verlegt, Weihnachten erfolgte dann die Intervention: Amin wurde militärisch gestürzt, er kam bei einem Feuergefecht in seinem Amtssitz ums Leben. Babrak Kamal wurde neuer Präsident, da die Sowjetunion ihn als Vertreter der "gemäßigteren" Parcham-Fraktion für geeigneter hielt, sich eine stärkere Verankerung im Land zu verschaffen und Übereifer zu vermeiden. Als er die Sowjetunion um die Entsendung von Truppen "bat", waren bereits 15-20 000 sowjetische Soldaten im Land.

Zum Kriegsverlauf

Die sowjetischen Truppen waren außer zur Durchsetzung des Regierungswechsels ins Land gekommen, um die militärische Lage zu stabilisieren und einem Zusammenbruch der Armee vorzubeugen. Die kurzfristigen Ergebnisse der Intervention waren aber genau entgegengesetzt: sie fügte dem Widerstand gegen die Regierung einen neuen, durchschlagenden Grund hinzu, nämlich den Kampf gegen die fremden Truppen. Politisch, und bald auch militärisch, wurden die Mudjahedin deutlich gestärkt. Zugleich war nicht zu übersehen, daß die Ablehnung der Intervention bis tief in die afghanische Armee hineinreichte - die "Schande" des sowjetischen Einmarsches wirkte demobilisierend. 1980 und 1981 verzeichneten entsprechend eine deutliche Verschlechterung der militärischen Situation für die Regierung, während die sowjetischen Truppen sich im wesentlichen darauf beschränkten, die wichtigen Städte, strategisch bedeutsame Punkte und die Verbindungswege zu kontrollieren.

Ein strategisches Problem der PDPA und des Militärs bestand offensichtlich im Personalmangel und in der fehlenden politischen Verankerung. Beide Organisationen verwandten beträchtliche Energie darauf, neue Mitglieder, bzw. Rekruten zu werben oder auszuheben. Seit 1981 gelang der PDPA eine schrittweise Ausdehnung ihrer Mitgliederzahl, auch die Armee begann seit etwa 1982 langsam an Umfang zuzunehmen, nachdem sie seit 1978/79 geschrumpft war. 1980 hätten die Mudjahedin, wären sie eine einheitlich geführte und effektive Kampftruppe gewesen, die Regierung vermutlich militärisch schlagen können, seit dem zweiten Halbjahr 1982 begann sich das Kräfteverhältnis sehr langsam zugunsten der Regierung zu verschieben: während kurz zuvor die afghanischen Truppen wegen ihrer Demoralisierung, Unzuverlässigkeit und Inkompetenz ihre Kasernen kaum verließen, beteiligten sie sich nun zunehmend an gemeinsamen Operationen mit der sowjetischen Armee und begannen, im kleineren Stil eigene Operationen durchzuführen. Dies würde den Krieg nicht gewinnen, war aber auf jeden Fall eine Verbesserung gegenüber zuvor und deutete auf eine gewisse Stabilisierung der afghanischen Regierung hin. Auch der Kauf der Loyalität bestimmter Stämme und eine gewisse Verbreiterung der sozialen Basis der Regierung (steigende Mitgliederzahlen der PDPA auch in Kleinstädten, Zusammenarbeit mit kooperationsbereiten Mullahs) deuteten auf Stabilisierung. Zugleich allerdings wuchsen die Zahlen aktiver Mudjahedin und die Anzahl der Flüchtlinge (vorwiegend nach Pakistan) ebenfalls deutlich an. Diese langsame Polarisierung and Stärkung beider Konfliktparteien hielt in den folgenden Jahren an. Die rund 110 000 sowjetischen Soldaten beteiligten sich an Counterinsurgency-Operationen, versuchten aber nie, das Land insgesamt militärisch zu kontrollieren oder zu erobern, sondern konzentrierten sich vornehmlich auf fest umrissene Funktionen wie Luftunterstützung, Kontrolle der Städte oder Straßen (wozu offensive Operationen gegen benachbarte Mudjahedin-Gruppen gehörten), Logistik, des Unterbrechens des Nachschubs des Kriegsgegners oder unternahmen gemeinsame Operationen offensiven Charakters gegen strategisch bedeutsame Mudjahedin-Positionen.

Die Mudjahedin

In der \ffentlichkeit werden die Mudjahedin nicht selten als "Freiheitskämpfer" gehandelt, die gegen die russischen Invasoren die Waffen erhoben hätten und deren Hauptziel darin bestehe, ihr Land von den Eindringlingen zu befreien. Diese Darstellung haben die Mudjahedin selbst jahrelang vertreten, häufig wurde sie für bare Münze genommen. Trotzdem ist sie falsch. Zwar ist der bewaffnete Widerstand in Gefolge und durch die sowjetische Intervention deutlich gestärkt worden, aber er ist dieser vorausgegangen. Direkt nach der April-Revolution des Jahres 1978 hatten Mudjahedin-Gruppen unter anti-kommunistischen und islamischen Vorzeichen bewaffnet gegen die Regierung gekämpft - häufig noch bevor diese ihre verhängnisvolle Politik auch nur beginnen konnte. Wenig beachtet wurde, daß manche Organisationen bereits deutlich vor dieser Zeit kämpften: Jamiat-Islami beispielsweise bereits seit 1974, Hisb-e-Islami und SAMA bereits seit dem Ende der sechziger Jahre - also unter der Monarchie, zehn Jahre vor der Regierungsübernahme der PDPA und der sowjetischen Intervention. Sowohl die anti-interventionistische, als auch die anti-sozialistische Begründung des gewaltsamen Aufstands, die beide aus Gründen der \ffentlichkeitswirksamkeit in den Vordergrund geschoben wurden, machen nicht den Kern der Politik der Mudjahedin aus. Deren politische Substanz läßt sich auf folgende Elemente zurückführen: 1. die wichtigsten und schlagkräftigsten Mudjahedin-Gruppen (wie Hisb und Jamiat) können als revolutionär-fundamentalistisch und islamistisch bezeichnet werden. Sie wollen, auf einem anderen Weg als die PDPA, Afghanistan ebenfalls zu einem zentralen, "nationalen" Staatswesen umformen, das dann als islamischer Gottesstaat von einer Kaderpartei geführt werden solle. Jede Form von Demokratie oder auch nur das Wahlrecht für Frauen wären in diesem Konzept fehl am Platze. Die Vertreter dieser Vorstellungen sind eher noch radikaler und brutaler einzuschätzen, als die Mullah-Herrschaft des Iran.

2. Der andere Hauptflügel wird in der Regel als der "gemäßigte" bezeichnet, was für westliche Ohren sehr angenehm klingen mag, von der Realität aber meilenweit entfernt ist. Gemeint sind Gruppen, die einer eher traditionalistisch-fundamentalistischen Linie folgen, die das Afghanistan von gestern verkörpern, und das Afghanistan der traditionellen Abhängigkeiten und Ausbeutungsstrukturen wiedererrichten möchten. Sie sind prinzipiell westlich orientiert und stehen nicht selten der theokratischen Herrschaft des saudi arabischen Königshauses nahe, von dem sie beträchtliche Summen erhalten.

Über diese beiden politischen Grundkonzeptionen wölbt sich schließlich eine eher "modern" anmutende Verhaltensweise: Kriegsgewinnler, Leute mit Söldnermentalität und Kräfte, die den Krieg insgesamt als Geschäft und zur persönlichen Bereicherung betreiben. Es ist kein Zufall, daß bis zu 70 % der US-amerikanischen Hilfsgelder in dunklen Kanälen verschwinden und bei den eigentlichen Kämpfern nie ankommen: geschäftstüchtige Mudjahedinführer verkaufen Waffen und Nachschub in Pakistan auf eigene Rechnung, um unabhängig vom Verlauf des Krieges ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Die Brutalität und Grausamkeit der Kriegführung der Mudjahedin steht der der Regierung in nichts nach. Anschläge auf Zivilisten mit Dutzenden von Toten, Abschüsse von Zivilflugzeugen, Massenerschießung von Gefangenen, Heroinhandel im großen Stil, Folter und andere Methoden der Konfliktaustragung sind an der Tagesordnung. Dies wird durch entsprechend brutale Praktiken der Regierung nicht entschuldigt, wie natürlich Massaker der Armee durch Grausamkeiten der Mudjahedin nicht legitimiert werden.

Die Rolle der USA

Die Carter-Administration hatte bereits vor der sowjetischen Intervention den Mudjahedin gegen die PDPA und Armee direkte und indirekte Hilfestellung geleistet. Dabei war es vorwiegend um logistische Unterstützung bei Waffenbeschaffung und Nachschub gegangen, der Umfang der Operation war begrenzt. 1980 kam es dann als Reaktion auf den sowjetischen Truppeneinmarsch zu ersten direkten Waffenlieferungen und finanzieller Hilfe (30 Mill. $).

Nach dem Amtsantritt der Reagan-Administration nahm der Umfang der US-Unterstützung für die Mudjahedin rasch zu. Im Finanzjahr 1984/85 lag sie bei rund 250 Mill. $, im Jahr darauf bei 470 Millionen. Nachdem die USA zuerst nur Waffen sowjetischer Produktion geliefert hatten (die sie beispielsweise in [gypten kauften), wurden später auch moderne europäische (etwa britische, schweizer und polnische) und US-amerikanische Waffen geliefert. Dazu gehörten hochmoderne, transportable Stinger Luftabwehrraketen, an deren Produktion auch bundesdeutsche Firmen beteiligt sind.

In den Jahren 1982, 1983 und 1986 waren die Gespräche des UNO-Vermittlers Cordovez über eine politische Konfliktlösung und den Abzug der sowjetischen Truppen bereits günstig verlaufen, Cordovez und andere Quellen ließen jeweils verlauten, daß ein Abkommen (ähnlich dem inzwischen zustandegekommenen) sich abzeichne. In jedem dieser Fälle hatten die USA einen Vertragsabschluß sabotiert - durch politischen Druck auf Pakistan, kombiniert mit massiver Erhöhung der Militär- und Wirtschafthilfe an dieses Land, oder durch jeweils gezielt terminierte eigene Eskalationsschritte und aggressive Erklärungen. Die Begründung dafür wurde mir im Sommer 1986 von einem hohen Beamten des Pentagon erläutert: zwar würden die USA den Abzug der sowjetischen Truppen öffentlich einfordern, tatsächlich aber alles tun, diesen durch militärischen Druck zu verhindern. So könne man die Sowjetunion international politisch schwächen und sogar militärisch "ausbluten" lassen. Wörtlich: "Wir kämpfen bis zum letzten Afghanen."

Neben dieser - vorherrschenden - Position existierten in der Reagan-Administration immer auch Positionen, die tatsächlich einen sowjetischen Truppenrückzug zustande bringen wollten. Im Zuge der schrittweisen Schwächung rechter Ideologen (z.T. im Zusammenhang mit dem Iran-Contra Skandal) innerhalb der Regierung, bzw. derem Ausscheiden aus hohen [mtern sowie einer Verbesserung des Verhältnisses zur Sowjetunion wurde die zweite Fraktion gestärkt, so daß die Genfer Abkommen nicht erneut sabotiert wurden. Andererseits stellte diese Entwicklung keine völlige Wende dar: parallel zum Verhandlungsprozeß organisierten die USA weitere Waffenlieferungen im großen Stil, allein vom Januar bis Mitte Mai 1988 im Wert von rund einer halben Milliarde Dollar. Zum Teil wurden diese Lieferungen über Frankfurt und Wiesbaden abgewickelt. Auch nach dem Beginn des sowjetischen Rückzugs werden die Waffenlieferungen fortgesetzt, auch wenn inzwischen keine Stinger mehr geliefert werden sollen.

Die Genfer Abkommen vom April 1988

Die vier gleichzeitig unterzeichneten Genfer Afghanistan-Abkommen sind keine Friedensverträge. Sie regeln nur die internationalen Aspekte des Krieges, insbesondere sehen sie den Abzug der sowjetischen Truppen vor. Die Abkommen wurden unterzeichnet von den Regierungen Afghanistans, Pakistans, der Sowjetunion und den USA. Deren Bedeutung wird an drei Punkten deutlich: dem Inhalt der Verträge, an der Frage, inwieweit die Verträge tatsächlich die zukünftige Politik der Vertragsparteien beeinflussen und drittens daran, daß die Mudjahedin keine Vertragspartei sind und welche Frage des Konfliktes durch die Verträge nicht geregelt werden. Die wichtigsten Vertragsinhalte bestehen aus drei Elementen:

1. der wechselseitigen Verpflichtung zur Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans und Pakistans ("der Hohen vertragsschließenden Parteien") Dies schließt das Verbot einer Unterstützung bewaffneter Gruppen oder Aufständischer (also der Mudjahedin) ein, sowie das Verbot, "jegliche andere Handlungen zu unternehmen oder zu dulden, die als Einmischung und Intervention angesehen werden könnten."

2. der wechselseitigen Verpflichtung, eine Repatriierung der afghanischen Flüchtlinge in ihr Heimatland auf freiwilliger Basis "im Rahmen ihrer Möglichkeiten" nach Kräften zu unterstützen.

3. der Verpflichtung der Sowjetunion, ihre Truppen innerhalb von neun Monaten (beginnend mit dem 15. Mai 1988) aus Afghanistan abzuziehen.

Die Koppelung dieser drei Punkte stellt zweifellos einen entscheidenden Schritt nach vorn dar: der erste Punkt entspricht nur der ohnehin bestehenden Verpflichtung der UNO-Charta, bedeutet aber in diesem konkreten Fall eine teilweise De-Internationalisierung des Krieges, da Pakistan und die USA danach die Finanzierung, Bewaffnung und sonstige Unterstützung der einen Kriegspartei zu unterlassen hätten;

Dem entspricht der dritte Punkt: auch die Sowjetunion muß sich an die entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen halten und ihre Truppen zurückziehen. Damit wäre es im wesentlichen gelungen, den afghanischen Bürgerkrieg auf seien inner-afghanische Dimension zurückzuführen - noch kein Friede, aber ein wichtiger Zwischenschritt.

Diese Perspektive der Genfer Abkommen - bzw. ihres Wortlauts - wurde durch Erklärungen Pakistans und der USA zum Teil noch vor der Vertragsunterzeichnung, zum Teil kurz danach, wieder zunichte gemacht. Der pakistanische Diktator Zia Ul-Haq, der traditionell mit der Hisb-e Islami des brutalen Fundamentalistenführers Hekmatyar zusammengearbeitet (und dessen pakistanische Bruderpartei zur Förderung der Islamisierung seines Landes in die Regierung aufgenommen) hatte, erklärte bereits am 7. April, die Mudjahedin weiter unterstützen zu wollen. US-Außenminister George Shultz erklärte anläßlich der Unterzeichnung der Abkommen, "daß es im Einklang mit unseren Verpflichtungen als Garantiemacht unser Recht ist, dem Widerstand militärische Hilfe zukommen zu lassen." Daß genau das Gegenteil den Inhalt der Abkommen darstellte wurde diskret übersehen. Damit ergibt sich die ungewöhnliche Situation, daß die Regierungen in Washington und Islamabad feierlich einen internationalen Vertrag unter Anerkennung der afghanischen Regierung unterzeichneten und im gleichen Atemzug öffentlich erklärten, diesen Vertrag brechen zu wollen. Dies dürfte damit zu erklären sein, daß beide Länder die Vorteile eines sowjetischen Truppenabzuges für ihre regionalen Interessen nutzen möchten, zugleich aber wegen der sowjetischen Zwangslage in Afghanistan ihre versprochene Gegenleistung nicht glauben einhalten zu müssen.

Der notwendige Friedensprozeß wird aber nicht nur durch die Nichtbeachtung der Afghanistan-Abkommen behindert, sondern insbesondere durch die Tatsache, daß die Mudjahedin die Abkommen prinzipiell ablehnen. Ihre offizielle Begründung dafür besteht im Hinweis, daß sie selbst - obwohl Konfliktpartei - an diesen Vereinbarungen nicht beteiligt gewesen seien. Dieses Argument ist zwar formal zutreffend, aber politisch bewußt irreführend: schließlich hatten die Mudjahedin selbst die Teilnahme am Genfer Prozeß abgelehnt, weil sie nicht mit der afghanischen Regierung zusammenarbeiten wollten. UNO-Vermittler Cordovez hatte im Rahmen der Verhandlungen den Vorschlag eingebracht, in Kabul eine Koalitionsregierung aus PDPA und Mudjahedin zu bilden. Eine Kooperation mit den "gottlosen Kommunisten" kam für die Mudjahedin aber nicht in Frage. Tatsächlich haben sie wiederholt jede Möglichkeit einer politischen, friedlichen Lösung abgelehnt und setzen ausschließlich auf eine militärische Endsiegstrategie. Daher werden die Genfer Abkommen im gegenwärtigen Zusammenhang kaum zu einem Ende des Krieges führen, nur einen Rahmen für die Fortsetzung des Bürgerkrieges abgeben.

Und weiter?

Mitte August 1988 waren bereits die Hälfte der sowjetischen Truppen aus Afghanistan abgezogen. Die restlichen 50000 konzentrieren sich auf 6 der 30 Provinzen, insbesondere auf das Gebiet rings um die Hauptstadt Kabul. Welchen weiteren Verlauf der Krieg nehmen wird, ist sehr schwer vorherzusagen. Die propagandistische Linie der Mudjahedin und der USA, daß "innerhalb von Tagen oder höchstens Wochen" nach Abzug der Sowjetunion die Regierung militärisch zusammenbrechen würde, ist wenig wahrscheinlich. Zumindest drei Faktoren scheinen dagegen zu sprechen:

1. die Tatsache, daß gerade der Abzug der sowjetischen Truppen den innenpolitischen Spielraum einer (nicht unbedingt der bestehenden) PDPA-Regierung (unter Einbeziehung von Nicht-PDPA-Mitgliedern) mittelfristig vergrößern könnte. Dafür gibt es noch geringe, aber doch vorhandene erste Anzeichen.

2. Die militärische Stärke der Mudjahedin liegt in klassischer Guerillataktik, in schnellen, überraschenden Angriffen in kleinen oder mittelgroßen Einheiten. In solchen Situationen wiederum ist die afghanische Regierungsarmee besonders verwundbar. Wenn es aber darum geht, große, gut befestigte und massiv verteidigte Stellungen oder Städte einzunehmen, haben die Mudjahedin große Schwierigkeiten, die mit mangelnder Koordination für die erforderlichen Großoperationen, mit Problemen mit weitreichender Mobilität in größeren Einheiten und mit deren häufig nur regionalen Verankerung zu tun haben. Und gerade hier haben die Regierungstruppen bisher ihre besondere Stärke gezeigt.

3. Die Mudjahedin sind weiter zersplittert und bekämpfen sich gegenseitig. Diese Tendenz scheint eher zu- als abzunehmen, viele Mudjahedin-Führer glauben, es gehe bereits heute um die Verteilung der Beute, um die Aufteilung der Macht nach einem Sieg über die Regierung. Konflikte gibt es nicht nur zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen unterschiedlichen Ethnien, zwischen traditionalistischen und revolutionären Fundamentalisten, selbst innerhalb einzelner Organisationen werden Streitigkeiten nicht selten mit der Waffe ausgetragen. Das ist selbstverständlich keine sonderlich günstige Ausgangslage für einen militärischen Sieg. Die in diesen Fragen gut unterrichtete F A Z berichtete kürzlich unter der Überschrift "Afghanische Ungewißheiten" über die Mudjahedin: "Bleiben sie allerdings weiter so uneinig wie bisher, werden sie vielleicht nie als Sieger in Kabul einziehen."

Meine These hier ist nicht, daß die Mudjahedin den Krieg verlieren würden. Der Truppenabzug der Sowjetunion schwächt, auch wenn er politische Vorteile versprechen mag, natürlich die militärische Position der Regierung. Begrenzte Verbesserungen der Kampfkraft ihrer Armee werden das nicht völlig ausgleichen. Daher muß der Abzug zuerst einmal den Mudjahedin militärische Vorteile verschaffen. Und schließlich hat noch nie in der Geschichte Afghanistans irgendeine Regierung das Land militärisch (oder politisch) kontrollieren können. Dies dürfte auch einer wie immer zusammengesetzten Regierung unter PDPA-Führung (oder der Mudjahedin) nicht gelingen.

Es scheint mir aber als Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die Mudjahedin in größeren Teilen des Landes wichtige Positionsgewinne erzielen könnten, und trotzdem bei der Einnahme von Kabul und einigen anderen Städten große Schwierigkeiten haben werden. Die Mudjahedin haben heute militärischen Rückenwind. Trotzdem hatte die F A Z in ihrem Artikel möglicherweise recht, als sie schrieb: "Der Krieg ist daher noch nicht entschieden, und kann auch nach dem vollständigen Abzug der sowjetischen Truppen, der im Februar nächsten Jahres abgeschlossen sein soll, noch lange weitergehen."

 

Die Linke und die Mudjahedin

In der Bundesrepublik existiert eine große Koalition politischer Kräfte, die die afghanischen Mudjahedin unterstützen. Diese reicht vom Abgeordneten Todenhöfer vom rechten Rand der CDU/CSU über große Teile der SPD bis hinein in die GRÜNEN, insbesondere deren Bundestagsfraktion. Dabei werden die Mudjahedin wegen der sowjetischen Intervention häufig als "Befreiungsbewegung" zurechtdefiniert. Der völkerrechtswidrige sowjetische Einmarsch und zum Teil brutale Menschenrechtsverletzungen der afghanischen Armee werden zum Vorwand genommen, um über den reaktionären Charakter der Mudjahedin und deren ebenfalls höchst blutigen Praktiken hinwegzusehen. Antikommunistische Sichtverengungen machen blind gegen die Menschenrechtsverletzungen, Massenerschießungen von Gefangenen, Folter, Entführungen und Angriffe auf Zivilisten. Nicht nur der anti-emanzipatorische Charakter der Mudjahedin wird "übersehen", selbst unvorstellbare Grausamkeiten spielen keine Rolle. Daß dies für Politiker wie Todenhöfer ein gefundenes Fressen ist, ist nicht weiter erstaunlich. Wenn aber Politiker der Linken ins gleiche Horn blasen, zuckt man zusammen. Man gewinnt den Eindruck, daß hier die eigene, linke Vergangenheit auf Kosten der Völker Afghanistans verarbeitet werden soll: die "Romantik" eines Guerillakampfes (wir erinnern uns an die Fotos eines ehemaligen GRÜNEN Abgeordneten auf einem zerschossenen sowjetischem Panzer) mit der Respektabilität bei den rechten und liberalen Kräften zu verbinden scheint wohl unwiderstehliche Attraktivität auszustrahlen. Dabei werden dann traditionelle, konservative oder gar reaktionäre Ideologien gerechtfertigt oder verklärt. Der Paschtunwali, der traditionelle Ehrenkodex der Paschtunen, wird als quasi-alternativ zurechtinterpretiert, das darin enthaltene "Versöhnungspotential" und die "Dezentralität" willkürlich herausgegriffen und in den Vordergrund gestellt.

Dabei wird in der Regel nicht von einer Analyse der Situation in Afghanistan und der Politik der Mudjahedin ausgegangen, sondern von einem starken, eigenen Identifikationsbedürfnis mit "revolutionären" - wenn auch nicht linken - Bewegungen und nach der kruden Logik: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund". Bei manchen Personen ist auch ein deutliches Bedürfnis kaum zu übersehen, in der Afghanistan-Frage eine "Gemeinsamkeit der Demokraten" zustande zu bringen, die dann Todenhöfer ein-, die Menschenrechte aber ausschließen muß. Niemand hat bisher ein ernsthaftes Argument vorgetragen, das eine Unterstützung der Mudjahedin rechtfertigen würde - außer, daß die Sowjetunion in Afghanistan interveniert hat. Nun zieht sie ab, aber die Unterstützung der Mudjahedin läßt nicht nach. Von rechter und halblinker Seite gibt es oft den Vorwurf, Afghanistan sei ein "vergessener Konflikt", und die Linken (wer immer dies genau sein mag) würden sich nicht um Afghanistan kümmern, weil sie immer nur den US-Imperialismus entlarven und über sowjetische Untaten schweigend hinweggehen wollten. Dies ist falsch: das eigentliche Problem besteht darin, in der unerfreulichen Lage zu sein, keine der beiden Konfliktseiten unterstützen zu können, ohne sich selbst und die eigene politische Identität zu kompromittieren.

 

 

Quelle:

Jochen Hippler
Der Krieg geht weiter - Afghanistan,
in: Blätter des Informationszentrum Dritte Welt (Freiburg), Nr. 152, Sept./Okt. 1988, S. 17-23