Was bedeuten die Proteste im Iran?

Fast vier Wochen nach dem Tod von Mahsa Amini im Polizeigewahrsam ist ein Ende der Proteste im Iran nicht absehbar. Die Demonstrationen selbst sind nicht überraschend, da rd an Gründen für Unzufriedenheit nicht fehlt, und weil es bereits früher immer wieder kürzere oder längere Phasen von Protesten gab. Andererseits ist die Hartnäckigkeit der Demonstranten nicht selbstverständlich, da die Polizei und die Miliz der Basiji mit großer Brutalität reagieren und alles dafür tun, die Bevölkerung einzuschüchtern. Eine Diskussion über ein „baldiges Ende des Regimes“ mag voreilig sein, trotzdem sind die aktuellen Demonstrationen nicht einfach eine Wiederholung früherer, sondern enthalten neue Elemente, zumindest in Keimform.

Der Ausgangspunkt der neuen Lage besteht spätestens seit 2009 in der völligen Delegitimierung des politischen Systems im Iran. Die schamlose Wahlfälschung damals demonstrierte, dass die Diktatur nicht im Traum daran dachte, den Willen der Bevölkerung zu respektieren – und dass Wahlen kein wirksames Mittel politischer Veränderungen sind. Richtete sich die verbreitete Kritik bis 2007/2008 fast immer gegen konkrete Probleme und Akteure, etwa die Korruption, die Inflation, gegen diesen oder jenen Minister, so änderte sich dies nach der gefälschten Wahl.

Seitdem haben sich die Lebensbedingungen im Iran und das Ansehen von Regierung und politischem System nicht gebessert, im Gegenteil. Durch die hohe Inflationsrate und gestiegene Arbeitslosigkeit sank der Lebensstandard beträchtlich, auch in der breiten Mittelschicht. In verschiedenen aktuelle Krisen und Notlagen (Wasserversorgung, einstürzende Gebäude, der vermutlich irrtümliche Abschuss eines ukrainischen Flugzeugs mit vielen iranischen Passagieren bei Teheran, Erhöhung der Benzinpreise, etc.) reagierte die Regierung mit Ausflüchten oder demonstrativem Desinteresse, was die Bevölkerung als Provokation empfand. Dazu kamen die politische Unterdrückung und die Einschränkungen persönlicher Freiheitsrechte.

Den versteinerten politischen Verhältnissen stand und steht eine dynamische und von gebildeten Mittelschichten geprägte Gesellschaft gegenüber, die immer weniger bereit war, die Verarmung und Bevormundung zu ertragen. Teil dieser wachsenden Diskrepanz war die Stärkung einer selbstbewussten und aktiven (meist informellen) Frauenbewegung, die auch eine zentrale Rolle bei den aktuellen Protesten spielt.

Die gegenwärtigen Demonstrationen speisen sich aus zwei Quellen: Einmal der Frauenbewegung, die sich bereits früher gegen die zwangsweise durchgesetzte Pflicht von Frauen gewandt hatte, die Haare mit einem Kopftuch zu bedecken. Daneben flossen die zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme ein und verbanden sich zu einem grundsätzlichen Aufbegehren gegen das politische System und seine Spitzenpolitiker („Tod dem Diktator“). Das besondere sind nicht die Demonstrationen, sondern bestimmte Aspekte, die einzeln leicht übersehen werden können, etwa die breite soziale Basis der Proteste. Frauen und Männer, Studenten, Intellektuelle, kleinere Geschäftsleute des Basars (die früher meist das Regime unterstützt hatten), die Mittelschichten, Teile der ärmeren Bevölkerung (etwa im Süden Teherans), Arbeiter, einschließlich der in den Streik getretenen Ölarbeiter sind zusammengenommen ein breiter Spiegel der iranischen Gesellschaft. Einzelne oppositionelle Sektoren politisch zu isolieren und dann zusammenzuknüppeln ist dieses Mal weit schwieriger als früher.

Die Proteste setzen eine Dynamik der Kreativität frei, die es früher nicht gab. Lieder, satirische Videos, öffentliches und demonstratives Abschneiden der eigenen Haare durch protestierende Frauen, die Nutzung des Internets nicht nur zur Mobilisierung, sondern auch als Waffe gegen die Behörden, emotionale oder polemische Stellungnahmen durch prominente oder weniger prominente SchauspielerInnen und SportlerInnen sind Beispiele.

Daneben ist bemerkenswert und neu, dass manche Protestierenden nunmehr zur Offensive übergehen, meist indem Taktiken der Selbstverteidigung weitergetrieben werden. Dabei entwickelt sich eine Bereitschaft auch zum Einsatz begrenzter Gewalt, meist gegen Polizisten und Mitglieder der Basiji-Milizen. DemonstrantInnen und AktivistInnen diskutieren, wie man sich gegen Angriffe durch die Repressionskräfte schützen kann – etwa durch Zerstörung ihrer Motorräder und Autos, um ihre Mobilität einzuschränken und den Abtransport von Gefangenen zu verhindern; einzelne Bewaffnete einzuschüchtern, etwa indem man vorgibt, sie mit Säure zu bespritzen; die Namen, Telefonnummern und Adressen von Basiji-Mitgliedern, die sich besonders brutal verhalten, im Internet zu veröffentlichen; oder Basiji-Mitglieder, die mit staatlicher Förderungen an ausländischen Universitäten studieren, dort zu enttarnen und ihren Verweis von den Universitäten zu verlangen.

Neu ist ebenfalls die aktive Rolle vieler im Ausland lebenden Iraner. Seit 2009 haben viele Iraner aus direkt und indirekt politischen Gründen den Iran verlassen, stehen aber weiterhin mit Freunden und Verwandten in engem Kontakt (oft im Gegensatz zu vielen emigrierten Iranern der 1980er Jahre). Bei den heutigen Protesten haben viele Demonstranten nicht mehr das Gefühl, allein ihrer Diktatur gegenüberzustehen, sondern aus anderen Ländern unterstützt zu werden. Demonstrationen (6500 TeilnehmerInnen allein in Düsseldorf), Äußerungen westlicher PolitikerInnen und Aktionen der internationalen Zivilgesellschaft machen Menschen im Iran Mut.

Die Situation im Iran ist höchst instabil, und nicht allein aufgrund der Protestwelle. Diese wird irgendwann abebben, vermutlich um später bei einem anderen Anlass verstärkt zurückzukehren. Die Instabilität reicht weit tiefer. Das politische System ist vollkommen diskreditiert, und der größte Teil der Gesellschaft tritt ihm und seinen Vertretern inzwischen mit Verachtung und Hass gegenüber. Das System hat jede Legitimität verloren. Es ist unfähig, die grundlegenden Probleme der Gesellschaft zu lösen, oft sieht es sogar so aus, als sei es daran gar nicht interessiert. Es ist korrupt und repressiv, und seine Ideologie wird selten noch ernstgenommen. Selbst religiöse Menschen haben mit der Diktatur innerlich gebrochen, selbst alte Leute begrüßen den Einsatz von Molotov Cocktails durch Demonstranten.

Andererseits ist die Opposition nicht organisiert, sondern besteht aus vielen Individuen und kleinen Gruppen. Eine politische Alternative besteht nur abstrakt („Nieder mit dem Regime!“ Freiheit!“), und nicht in organisierter Form. Das Regime verfügt über die staatliche Macht und über das Monopol an Waffen, aber hat keinerlei Legitimität. Die Protestierenden verfügen über die Legitimität des größten Teils der Gesellschaft, sind aber fragmentiert, atomisiert, und weitgehend schutzlos gegenüber der staatlichen Gewalt. Das ist die Quelle der strukturellen Instabilität.

Diese instabile Situation existiert eigentlich bereits seit 2009, kann allerdings noch lange weiterbestehen. Eine grundlegende Veränderung ist nur unter zwei Voraussetzungen denkbar. Entweder müsste die Opposition zu einer organisierten, glaubhaften Machtalternative werden. Das ist unter den Bedingungen brutaler staatlicher Repression allerdings schwierig, vermutlich nicht möglich. Die Bedingungen freie Organisation bestehen heute nicht einmal ansatzweise, oder nur virtuell. Regierungen oder Regime werden aber nicht virtuell gestürzt, sondern nur in der Realität.

Oder – und das ist die realistischere Möglichkeit – der Block der Macht zerbricht, spaltet sich, zerfällt. Sobald die politische und gesellschaftliche Macht nicht mehr geschlossen vom Regime ausgeübt wird, würden sich deren Handlungsfähigkeiten vermindern und der Gesellschaft und der diffusen Opposition neue Möglichkeiten (auch der Organisation) zuwachsen. Eine Fragmentierung der Macht ist durchaus möglich, vor allem im Kampf um die Nachfolge des alten und gesundheitlich deutlich angeschlagenen Diktators Khamenei. Es ist zum Beispiel denkbar, dass verschiedene Fraktionen der Revolutionsgarden sich entweder von der politischen, zivilen Führung lösen, oder gegeneinander in Stellung gehen. Ein solches Szenario erscheint nicht nur hoffnungsfroh: Es könnte durchaus zur Gewalt oder zu einer Militärdiktatur kommen. Seit 2009 wurden die Reformkräfte innerhalb des Regimes völlig marginalisiert, so dass nicht zu erwarten ist, dass diese im Nachfolgekampf eine Rolle spielen werden.

In diesem Kontext spielt die aktuelle Protestwelle eine wichtige Rolle: Einerseits führt sie dazu, dass der Kern der repressiven Reaktionäre verstärkt die Reihen schließt und sich einigelt – sie zeigt aber der Machtelite insgesamt, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Wenn fast die gesamte Gesellschaft nur noch Verachtung für und Hass auf die Diktatur empfindet, dann stellt sich die Frage, ob es nicht doch einen unblutigen Weg aus der Sackgasse gibt. Ohne eine glaubwürdige politische Alternative allerdings sind die Aussichten auf einen grundlegenden Wechsel vorerst gering.

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