Wie weiter im Ukraine-Krieg?

Als Putins Militär am 24. Februar die Ukraine überfiel, gingen fast alle Beobachter von einem erfolgreichen Blitzkrieg aus. Man rechnete oft damit, dass die russischen Truppen die Ukraine nach drei Tagen unter Kontrolle bekommen würden, auch vielen russischen Soldaten erzählten ihre Offiziere, dass sie sich auf drei Tage einstellen sollten. Nun mochte ein solch extrem kurzer Krieg von Anfang an eine Fehleinschätzung gewesen sein, die darauf beruhte, dass die Ukraine den Invasoren keinen Widerstand leisten würde oder dazu nicht in der Lage sei. Aber ein sehr kurzer und wenig intensiver Krieg galten als wahrscheinlich.

Der Zweck des Krieges lag nicht in der bloßen Kontrolle und Annexion des Donbas und angrenzender Regionen, sondern in der Entwaffnung und Unterwerfung der ganzen Ukraine. Dazu diente auch der Versuch zu Beginn, Kiew blitzartig durch eine Luftlandeoperation und Bodentruppen einzunehmen. Anfang März standen die russischen Truppen in den Vororten von Kiew – was sinnlos gewesen wäre, wenn Moskau nur begrenzte Ziele in der Ostukraine verfolgt hätte.

Der ukrainischen Armee gelang es erstaunlich schnell, sich vom Schock des Überfalls zu erholen und eine wirksame Verteidigung zu organisieren, der es vor allem gelang, die Einnahme der Hauptstadt durch Russland zu verhindern. Ende März sah sich das russische Militär gezwungen, sich aus der Region um Kiew zurückzuziehen – die erste schwere Niederlage Russlands. Ende August begann die Ukraine mit Gegenoffensiven im Süden und im Norden, was in der zweiten Septemberwoche zum Zusammenbruch der russischen Front in der Region Charkiw führte. Das war die zweiten wichtige russische Niederlage. Im nächsten Schritt nahm das ukrainische Militär die Städte Isjum und Lyman ein und rückte Anfang Oktober in Richtung Luhansk vor. Sollte diese Offensive erfolgreich weitergeführt werden, wäre das eine weitere, schwere Niederlage des russischen Militärs. Parallel zu den Offensiven im Grenzgebiet von Charkiw und Luhansk drangen ukrainische Truppen im Süden aus nordöstlicher Richtung in Richtung auf Cherson vor und konnten dabei den Ort Dudtschany (120km vor Cherson) erobern. Gemeinsam mit den erfolgreichen Angriffen auf die Logistik der russischen Armee in der Region Cherson (Brücken, Munitionslager, Kommandostellungen, die Brücke auf die Krim) geraten die bis zu 25.000 Besatzungstruppen um Cherson in eine höchst schwierige Lage.

Insgesamt hat sie die russische Hoffnung auf einen erfolgreichen Blitzkrieg gegen einen verteidigungsunfähigen Gegner schnell als Luftnummer erwiesen. Russland befindet sich seit September in einer schwierigen Defensivsituation, die bereits zur „Teilmobilisierung“ russischer Reserven führte.

Im Sommer sah es eine Zeit lang so aus, als würde das russische Militär nach dem Steckenbleiben ihrer Offensiven zu einem Abnutzungskrieg übergehen, um die zahlenmäßige Überlegenheit an Bevölkerung und Militärausrüstung auszunutzen. Inzwischen dürfte die russischen Führung Zweifel bekommen haben, dass eine solche Strategie funktioniert. Umgekehrt wäre es aber voreilig, nun einen Sieg der Ukraine als sicher anzunehmen. Das beträchtliche materielle Potential des russischen Staates könnte durchaus noch eine Wende ermöglichen, weil dieses voll ausgenützt würde. Allerdings wäre eine Wende des Krieges nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich.

Erstens sieht es gegenwärtig nicht so aus, als wären der verbliebene Bestand an Waffen, Munition und militärischer Ausrüstung Russlands so überlegen wie früher angenommen. Tatsächlich deuten die vorliegenden Informationen darauf hin, dass es Russland zunehmend an Waffen, bestimmter Munition und Ausrüstung mangelt. Und die Ukraine hat aufgrund der Lieferungen moderner westlichen Waffen sogar eine deutliche technologische Überlegenheit, während zusätzlich die Ukraine durch Erbeutung großer russischer Waffen- und Ausrüstungsbestände (einschließlich hunderter von Panzern) auch quantitativ weit besser aufgestellt ist als zuvor. Ein Sieg Russlands setzte voraus, dass Russland eine massive Überlegenheit an Waffen, Großgerät und Munition zurückgewinnen müsste.

Zweitens leidet die russische Kriegführung unter schlechter Logistik. Dies scheint einerseits an eigenen Fehlplanungen zu liegen, was inzwischen allerdings weniger häufig vorzukommen scheint, andererseits aber auch an dem beträchtlichen Geschick, mit dem die Ukraine mit den ihr gelieferten Waffen relativ weit hinter der Front gezielt und erfolgreich zentrale Logistikeinrichtungen zerstört hat. Ohne funktionierende Logistik würde es Russland aber nicht einmal viel nutzen, wenn es seinen Waffenbedarf durch Eigenproduktion oder Importe decken könnte: Waffen (und Benzin, Nahrung, medizinische Versorgung), die es nicht rechtzeitig bis zur Front schaffen, sind nutzlos.

Drittens müsste Russland die mittelmäßige oder geringe Qualität ihrer Offiziere schnell verbessern – was bei den hohen Verlusten doppelt dringlich wäre. Die Führungsqualität des ukrainischen Militärs liegt weit über dem des russischen. Wenn Russland nicht bald eine Steigerung der Qualität seines Offizierskorps gelingt, bleibt es weiter weit unter den eigenen prinzipiellen Möglichkeiten.

Viertens sind die Zahl der eingesetzten Soldaten – auch durch die schweren Verluste – und deren Motivation, Ausbildung und Kampfkraft zunehmend unzureichend. Sowohl für eine dynamische Offensiv- wie eine Abnutzungsstrategie wäre eine größere und bessere Truppe erforderlich, die aber nicht in Sicht ist. Wenn Russland nicht einmal in der Lage ist, seine „Teilmobilisierung“ effektiv zu organisieren, wenn die neuen Rekruten zum Teil keine oder kaum funktionsfähige Waffen erhalten und sich selbst Campingausrüstung kaufen sollen, um so ins Gefecht zu ziehen, dann wird das die Kampfkraft des Militärs – und seine „Moral“ - eher schwächen als stärken. Und wenn Russland schon versucht, Gefängnisinsassen, Kranke oder militärisch Unerfahrene zu rekrutieren, dann wirkt das eher als Zeichen der Verzweiflung.

Schließlich hängen die militärischen Möglichkeiten Russlands noch davon ab, ob es Präsident Putin gelingen wird, die Stabilität seines Regimes aufrechtzuerhalten. Die Niederlagen der letzten Wochen und die resultierende Teilmobilmachung haben erste Haarrisse im Putinschen Machtsystem sichtbar werden lassen. Widersprüche aus Kreisen, die sich als noch nationalistischer als Putin selbst gerieren, und Ängste und Bedenken aus der Gesellschaft, die durch die Mobilisierung gelernt haben, dass der Krieg auch sie betrifft, sind bisher vom Regime noch zu kontrollieren – aber ob dies so bliebe, wenn weitere Niederlagen und größere Verluste eintreten sollten, ist durchaus fraglich. Eine erfolgreiche Kriegführung Russlands würde aber neben den erwähnten militärischen Bedingungen auch voraussetzen, dass das Land stabil bleibt und den Krieg zumindest toleriert. Sollte sich ein relevanter Teil der Gesellschaft, auch der Eliten, gegen den Krieg wenden, wäre die Putinsche Diktatur gefährdet und der Krieg nicht auf längere Dauer führbar.

Insgesamt darf man das militärische Potential Russlands auch nach den Niederlagen der letzten Wochen nicht unterschätzen. Allerdings müsste dieses Potential auch wirksam ausgeschöpft werden, um militärisch zum Tragen zu kommen – und danach sieht es gegenwärtig nicht aus. Ohne die vier genannten Probleme zu lösen, wird Russland kaum eine Chance haben das immer wirksamere ukrainische Militär zu schlagen. Auch das ukrainische Militär hat hohe Verluste erlitten und wäre durch eine Abnutzungsstrategie verwundbar – aber im Moment scheint Russland nicht über die Fähigkeit zu verfügen, eine solche durchzuhalten. Die russische Okkupationsarmee ist gegenwärtig zu schwach, um die ihr zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. Dies dürfte zwei Dinge nach sich ziehen: einmal das weitere Sinken von Motivation und Kampfmoral, und zweitens die Brutalisierung des Krieges aufgrund von Frustration und Ohnmachtsgefühl. Die Massengräber in ehemals besetzten Gebieten, aber auch die umfangreichen, aber militärisch weitgehend sinnlosen Luftangriffe (Marschflugkörper, Dronen) auf zivile Einrichtungen in vielen ukrainischen Städten scheinen das zu bestätigen.

Zurück
Zurück

Was bedeuten die Proteste im Iran?

Weiter
Weiter

Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine?