Umbruch, Zeitenwende in Europa und der Weltpolitik?

Ja, wir haben schon wieder eine Zeitenwende. Als der Kalte Krieg endete: Zeitenwende. Das war schwer zu bestreiten. 9/11, also die Terrorangriffe Al-Qaidas in den USA: Zeitenwende. „Nichts ist mehr so wie zuvor“, das hörte man an jeder Straßenecke. Man mochte dies einerseits bezweifeln, wenn nämlich die Zahl der Opfer – abgesehen von dem fürchterlichen Anschlag durch entführte Flugzeuge in New York – eher überschaubar blieb. Aber andererseits: Wenn die damals einzige Supermacht immer wieder erklärte, nichts wäre so wie zuvor, und auch Kriege in Afghanistan und dem Irak in diesem Kontext begann – wie wollte man da ein Business as usual unterstellen? Der phänomenale wirtschaftliche, dann auch politische und schließlich militärische Aufstieg Chinas, das zu einem strategischen Widerpart der USA (und des Westens) wurde und die Zeit der Unipolarität mit beendete: Sicher eine Zeitenwende, die die internationale Politik grundlegend neu definierte, auch wenn das erst in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten ganz zum Tragen kommen wird. Insgesamt die Verschiebung der geopolitischen Gewichte vom Atlantik (und Europa) in den Pazifik und nach Asien? Vielleicht noch eine Zeitenwende, oder nur Teil der Machtverschiebung nach China? Das internationale Pandemie-Regime, das Reisen, Lieferketten und alte Gewissheiten stoppte oder aus der Bahn warf, Städte wie Shanghai zum Stillstand brachte und in Europa eine Welle von Querköpfen und Idioten laut und einflussreich werden ließ – war es eine Zeitenwende? Vielleicht, weil schließlich das Denken und Handeln innen- wie außenpolitisch von einer Pandemie geprägt wurden und die internationalen Kräfteverhältnisse davon erkennbar betroffen waren. Andererseits wird die COVID Pandemie in fünf oder zehn Jahren vergessen sein, außer natürlich, eine weitere Pandemie steht uns noch bevor, oder gar eine Epoche der Pandemien.

Und nun eben die Zeitenwende des Ukraine-Krieges. Oder genauer, der völkerrechtswidrige Überfall Putins Russland auf das Nachbarland Ukraine. Was daran genau wäre aber nun eine Zeitenwende? Der Völkerrechtsbruch, die Verlogenheit der russischen Regierung und ihres Präsidenten, oder der zunehmend diktatorische Charakter ihres Regimes – alles das, so ließe sich einwenden, ist eigentlich nichts Besonderes, und in vielen Fällen werden solche Dinge mit bloßem Bedauern, Kopfschütteln, Verständnis oder Desinteresse erledigt. In diesem Fall ist dies grundlegend anders, und die NATO Mitgliedsländer reagieren mit einer Konsequenz, die in der Sache berechtigt, aber trotzdem sehr überraschend ist. Das Besondere am gegenwärtigen Fall einer verlogenen völkerrechtswidrigen Aggression liegt erstens darin, dass sie in Europa stattfindet, und nicht irgendwo hinter der Türkei, wo die Völker aufeinanderschlagen. Und der zweite Aspekt, der den russischen Aggressionskrieg zu etwas Besonderem macht, besteht in der Tatsache, dass Putin den Bogen überspannt und den informellen Deal mit dem Westen gebrochen hat. Er ist von einem etwas schwierigen Partner, vor dem man sich zugleich hüten sollte, zu einem wortbrüchigen Gauner geworden, dem man nicht mehr trauen kann. Er ist als außenpolitischer Partner nicht mehr geschäftsfähig.

Energielieferungen und anderer Wirtschaftsaustausch gegen eine Begrenzung der russischen imperialen Abenteuer, das sollte doch möglich sein, so schien es. Putin ging schon früh dabei ziemlich weit und testete die Grenzen westlicher Toleranz: Der Georgien Krieg, die Marionettenstaaten im Donbass und ein begrenzter Krieg dort, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, und die Geheimdienstmorde und Anschläge in Großbritannien und Berlin waren Fälle, bei denen der Westen bereits erkennbar irritiert war, aber doch davor zurückschreckte, mit Russland grundsätzlich zu brechen. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine, den verschiedene westliche Länder monatelang und bis ganz zuletzt versucht hatten, diplomatisch zu verhindern, machte ein weiteres Durchwursteln dann unmöglich. Ein russischer Sieg hätte die europäische Landkarte neu gezogen, die EU-Länder und die USA als ohnmächtig und hilflos demaskiert, die russischen Nachbarn in Europa und Zentralasien nachhaltig eingeschüchtert und das russische Prestige als wiedererstandene Großmacht massiv gestärkt. Der Westen als Club der Schönwetterakteure, die nicht mehr als wohlklingende Worte zustande bringen, und Russland als dynamische, wenn auch skrupellose Macht, die es dem globalen Hegemon in seinem Vorgarten einmal so richtig besorgt – das war der Kern der globalen Auseinandersetzung aus der Putin’schen Perspektive. Dieses Kalkül galt es offensichtlich zum Scheitern zu bringen, während man die – ebenfalls völkerrechtswidrige - Annexion der Krim 2014 noch nicht als Frontalangriff auf den Westen, sondern eine begrenzte und regionale Erweiterung des russischen Machtbereichs auffasste. Und deshalb stellt der russische Angriff auch tatsächlich eine „Zeitenwende“ dar. Sollte er schließlich nach langem und schwerem Kampf erfolgreich sein, dann wäre dies ein Triumpf des Putin’schen neo-Imperialismus, würde aber zu mindestens einer Generation der erneuten Spaltung Europas führen – Russland und Belarus einerseits, die restlichen europäischen Länder andererseits. Und die Länder des Baltikums, Moldau, Georgien, vermutlich in zweiter Linie Polen, Finnland und Schweden würden sich aus gutem Grund von Russland dauerhaft bedroht fühlen. Ähnliches würde für Kasachstan und andere zentralasiatische Länder gelten.

Sollte Russland den Krieg verlieren, also sich ohne Erreichung seiner Kriegsziele zurückziehen müssen, würde eine Spaltung Europas unter anderen Vorzeichen ebenfalls die Zukunft kennzeichnen, zumindest wenn es in Russland keinen Umsturz oder Regimewechsle gäbe. Russland wäre massiv geschwächt, hätte beträchtliche Verluste an Menschen und Material zu beklagen, ohne dies durch Gelände- oder Prestigegewinn rechtfertigen zu können. Seine Wirtschaft wäre mittel- und längerfristig geschwächt, und seine wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten weit zurückgeworfen. Dies könnte innenpolitisch entweder zur Destabilisierung oder Verhärtung führen, mit oder ohne Putin.

Beide Szenarien, von denen die zweite gegenwärtig etwas wahrscheinlicher erscheint, hätten drei Gemeinsamkeiten: Einmal eine grundlegende Veränderung des politischen Rahmens in Europa, indem Russland von einem potentiellen Wirtschafts- und politischen Partner dauerhaft zu einem politischen und militärischen Gegner oder Feind würde; zweitens, damit verbunden, eine dauerhafte Aufrüstung und Stärkung der NATO; und drittens eine deutliche Abhängigkeit Russlands von China, ohne das eine Kompensation der außenwirtschaftlichen Probleme nicht denkbar wäre. Insgesamt hat die Putin’sche Aggression nicht nur ihr Ziel verfehlt, die NATO in Europa zurückzudrängen und in die Defensive zu bringen, sondern diese massiv gestärkt, indem diese militärisch aufrüstet, ihre Ostflanke deutlich verstärkt, und mit Finnland und Schweden zwei neue und wichtige Mitglieder bekommt. Und statt erneut zu einer Weltmacht zu werden, dürfte Russland in eine Abhängigkeit von China geraten, das sich jede Unterstützung teuer bezahlen lassen wird. Zugleich trägt der Ukrainekrieg direkt und indirekt dazu bei, kooperative Strukturen der internationalen Systems weiter zu schwächen und einer Struktur wie im 19. Jahrhundert Vorschub zu leisten.

Die Zeitenwende eist real, auch wenn sie ganz anders ausfällt, als von Putin erhofft.

Zurück
Zurück

Neue Weltordnung, Demokratie und Ideologie

Weiter
Weiter

Ukraine-Krieg: Waffenlieferungen und EU-Beitritt