Neue Weltordnung, Demokratie und Ideologie

Ob das Bild vom neuen „Eisernen Vorhang“ zutrifft, der sich über Europa herabsenke um den Kontinent zu teilen, ist schwer zu sagen. Denn schließlich besteht die größere Wahrscheinlichkeit nicht in einem neuen „Kalten Krieg“ (zwei Blöcke, jeweils feste Ideologien), sondern in einer Rückkehr zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Mehrere konkurrierende Machtzentren, deren oberflächliche Ideologien die jeweiligen Machtinteressen kaum verhüllten. Das Lawrow’sche Bild vom Eisernen Vorhang beschwört die Rückkehr des Kalten Krieges, aber dafür verfügt Russland lange nicht mehr über das nötige wirtschaftliche und militärische Gewicht. Ein Land, das nach über vier Kriegsmonaten immer noch im Donbass feststeckt, den man überwiegend schon seit Jahren kontrolliert, als die Ukraine sich noch nicht verteidigen konnte, wäre kein Gegner für die NATO – wenn es nicht über Atomwaffen verfügte. Aber Atomwaffen allein machen noch keine Supermacht. Auch Pakistan oder Nordkorea, Großbritannien und Frankreich verfügen darüber. Wenn es wirklich einmal zu einer neuen Bipolarität kommen sollte, dann wäre der Gegenpol zum Westen sicher nicht Russland, sondern China – vielleicht mit einem halbabhängigen Russland im Schlepptau. So wie der irrsinnige Irakkrieg George Bushs letztlich den Irak in den Einflussbereich des Iran geraten ließ, so dürfte die Selbstschwächung Putins durch den Ukrainekrieg letztlich China zugutekommen.

Im Westen ist nun viel die Rede davon, dass uns eine globale Konfrontation zwischen demokratischen und völkerrechtsgemäß handelnden Ländern einerseits und Diktaturen andererseits bevorstehe. Das wäre, in dieser Sichtweise, eine russisch-chinesische Achse gegen den Westen. Hier ist der fromme Selbstbetrug fast so deutlich wie bei Lawrows „Eisernem Vorhang“. Die westliche Achse (also die NATO und einige Partner wie Japan oder Australien) wäre so fragil wie eine römische Vase im Kinderzimmer. Mit Partnern wie Ungarn, Polen oder der Türkei (bzw. deren gegenwärtigen Regerungen) ist Demokratie schlecht zu machen, und zwei dieser drei Freunde finden nichts dabei, mit Herrn Putin zu Kuscheln. In Italien und Frankreich, um nur zwei wichtige Länder zu nennen, gibt es starke Strömungen, die dahinter kaum zurückbleiben. Und der britische Ministerpräsident scheint es weder mit der Demokratie, noch mit dem Völkerrecht, und am wenigsten mit der Wahrheit sehr genau zu nehmen. Auch der Rassismus in manchen EU-Ländern (etwa im Baltikum oder Polen, aber auch Griechenland) ist kein Indiz für die Möglichkeit eines demokratischen oder rechtsstaatlichen Blocks: Wenn Ukrainische Flüchtlinge willkommen sind, syrische oder afghanische aber wie Dreck behandelt werden, ist dies kein Zeichen für Menschlichkeit oder auch nur gute Manieren.

Das zweite Problem besteht darin, dass der Block der Demokratie ohne die USA und deren Führungsrolle wenig erfolgversprechend wäre. Und ausgerechnet dort unterstützen immer noch fast die Hälfte der Bevölkerung eine Figur wie Donald Trump – kein Halbclown wie Boris Johnson, sondern ein in der Wolle gefärbter Antidemokrat, der Rechtsstaatlichkeit nur akzeptiert, wenn sie ihm persönlich zu Diensten ist. Präsident Biden ist politisch bereits so geschwächt, dass die Aussicht auf eine weitere extremistische Präsidentschaft durchaus realistisch ist. Stellen wir uns nur vor, was heute mit und in der Ukraine los wäre, wäre Trump noch Präsident. Schwer vorstellbar, dass unter dem Putin-Bewunderer die Ukraine die notwendige Unterstützung erhalten würde, um sich gegen die russische Aggression verteidigen zu können – eine Annexion des ganzen Landes durch Moskau wäre eine realistische Option, mit den entsprechenden geopolitischen Folgen. Ohne die USA wäre ein Block der rechtsstaatlichen und völkerrechtsgemäß handelnden Demokratien eine Fiktion – und wie lange und wie solide Washington auf der Seite der verbleibenden europäischen Demokratien bleiben wird, ist durchaus offen.

Schließlich wäre auch rätselhaft, wie ein demokratischer Block mit einer ganzen Reihe von unappetitlichen Diktaturen umgehen sollte, von denen man in ähnlicher Weise abhängig ist wie bis vor kurzem von Russland: Saudi Arabien, Qatar, die Arabischen Emirate, Algerien sind Beispiele. Hier besteht ein offensichtliches Dilemma: Einerseits könnte sich ein „demokratischer“ Block kaum eng an solche Diktaturen binden, ohne sich und die vorgeblichen eigenen Ziele zu diskreditieren – andererseits wäre genau dies erforderlich, um in der Konkurrenz zum Block der Diktaturen zu bestehen. Oder möchte man solche Länder China und Russland in die Arme treiben? Aber bereits im Kalten Krieg (und zuvor) wurde dieses prinzipielle Problem pragmatisch gelöst. US Präsident Franklin Delano Roosevelt formulierte in Bezug auf einen lateinamerikanischen Diktator einmal: „He is a son-of-a-bitch, but he is our son-of-a-bitch”. Was natürlich impliziert, dass das moralische Getöse um einen Block der „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ nur solange gültig wäre, wie es nicht in Konflikt zu harten Interessen geriete.

Alles spricht dafür, dass das internationale System sich multipolar auffächert, und dass es in diesem Rahmen zur Bildung von Einflusszonen kommen wird. Aber wie im späten 19. Jahrhundert werden diese regionalen und globalen Konkurrenzen kaum ideologisch getrieben, sondern machtpolitisch. Und so lachhaft gegenwärtig die Versuche Putins sind, sich als „antiimperialistisch“ zu präsentieren und seine Aggressionen auf diese Art zu legitimieren, so hohl dürften die westlichen Versuche sein, sich als „demokratisch“ und Völkerrechtsakzeptierend zu legitimieren. Schon in der Vergangenheit war dies häufig kaum mehr als nach innen (und in geringerem Maße nach außen) gerichtete Propaganda, wenn wir etwa an den „Krieg gegen den Terror“ und die Invasion und Besetzung des Irak denken, die unter fadenscheinigen Vorwänden erfolgten. Bei der inneren Fragmentierung des Westens, bei all den Trumps, Erdogans und Orbans wird diese Fiktion noch schlechter aufrecht zu erhalten sein. Der Kampf um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss zuerst einmal im westlichen Lager geführt und gewonnen werden. Gegen einen skrupellosen Kriegsverbrecher wie Putin vorzugehen ist richtig, aber es macht seine Gegner nicht automatisch zu Engeln, oder auch nur zu Demokraten.

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Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine?

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Umbruch, Zeitenwende in Europa und der Weltpolitik?