Geschwätz hilft nicht gegen Krieg – Ukraine und die „Zeitenwende“ deutscher Außenpolitik

Seit Beginn des Putin‘schen Aggressionskrieges gegen die Ukraine ist an „Zeitenwende“ kein Mangel, und die Moralisierung von Politik macht große Fortschritte, wie so oft in Zeiten des Krieges. Nun wäre es zugleich falsch und herzlos vom Bruch des Völkerrechts durch den Angriffskrieg oder von den offensichtlichen Massakern, von der Zerstörung ganzer Städte nicht zutiefst angewidert zu sein. Sich gegen eine solche Aggression zu verteidigen ist legitim, völkerrechtlich legal, und politisch wie moralisch geboten. Auch an der Lieferung von Waffen an das Opfer, um sich der Aggression zu erwehren, vermag ich nichts Fragwürdiges zu finden. Was wäre das Recht auf Selbstverteidigung, das die UNO Charta garantiert, denn wert, wenn man nicht über die Mittel verfügte, es auch wahrzunehmen? Schließlich halte ich es selbstverständlich für notwendig darüber nachzudenken, was dieser Krieg im Allgemeinen und die russische Aggression im Besonderen denn für die zukünftige deutsche Außenpolitik bedeuten, und was an ihr einer Änderung bedarf – und eine solche dann zügig vorzunehmen. Über all dies sollte es eigentlich kaum Diskussionsbedarf geben, da es sich um Selbstverständlichkeiten handelt oder zumindest handeln sollte

Aber ist es wirklich nötig, jede ernsthafte Debatte über eine neue, zukünftige Sicherheits- und Friedenspolitik in einem Schwall pseudo-moralischer, völlig überzogenerer Rhetorik zu ersticken? Muss es wirklich sein, klugscheisserisch so zu tun, als hätte man „alles schon immer gewusst“ und alle Anderen wären Idioten gewesen, wie es viele Feuilletonisten und der ukrainische Botschafter nun tun, die rückwirkend auch Politiker wie Merkel oder Steinmeier zu faktischen Helfern der Putin’schen Aggressionspolitik machen? Vor allem aber: Sollte man es nicht besser unterlassen, anlässlich der aktuellen Aggression allgemeine politisch-moralische Prinzipien zu formulieren, deren Beachtung schon morgen unmöglich sein wird, und die schon heute zu einer militärischen Eskalation führen können, deren Folgen niemand vorhersagen kann? Und, schließlich, wie sieht es mit den Geltungskriterien solcher wohlfeilen Vorschläge aus? Wollen und sollen wir nun in allen völkerrechtswidrigen oder Aggressionskriegen (und das sind ja fast alle Kriege) eine Flugverbotszone durchsetzen, also die Flugzeuge einer der Kriegsparteien abschießen? Was offensichtlich bedeutete, selbst diese Kriege mit zu führen. Sind solche und ähnliche Forderungen wirklich ernst gemeint?

Wer so etwas vorschlägt sollte zumindest angeben können, was die Kriterien einer Kriegsteilnahme wären. Das völkerrechtswidrige Verhalten Russlands? Bedeutet dies auch, dass wir nächstes Mal die USA militärisch bekämpfen, wenn sie völkerrechtswidrig im Irak (oder Grenada, Panama, oder sonstwo) intervenieren? China bekämpfen, wenn das Land Taiwan besetzen wird? Die Türkei, wenn sie völkerrechtswidrig in Syrien oder dem Irak interveniert? Es ließen sich viele Beispiele vorbringen. Sollten Deutschland oder die NATO in allen diesen Fällen (und vielen anderen, die hier nicht aufzuzählen sind) militärisch eingreifen und gegen die Völkerrechtsverletzer vorgehen? Oder liegt das Kriterium der Militärintervention in der Verhinderung einer humanitären Katastrophe? Dann würden wir sicher zuerst einmal Saudi Arabischen und die Arabischen Emirate (vielleicht auch Ägypten?) militärisch daran hindern, im Yemen verbrannte Erde zu hinterlassen. Warum haben wir dann nicht (völkerrechtswidrig, aber vielleicht sollten wir nicht so pingelig sein?) auch Krieg gegen Saddam Hussein geführt, der sicher noch mehr Gräueltaten zu verantworten hatte als jetzt Putin? Krieg gegen Syrien, weil Asad nicht nur systematisch foltern lässt, sondern auch Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat? Hätten wir nicht vor zwei Jahrzehnten militärisch im Kongo eingreifen müssen, wo zwischen 1 und 5 Millionen Menschen getötet wurden – was uns nicht einmal so interessiert hat, dass wir auch nur die Todeszahlen erhoben hätten? Auch hier ließen sich zahlreiche Beispiele dafür vorbringen, dass wir oft ziemlich gleichgültig oder sogar entspannt die schlimmsten Massaker oder Völkermorde zur Kenntnis nahmen – oder nicht einmal das. Wollen wir zukünftig in allen solchen Fällen unsere gerechten Kriege führen? Alle gleichzeitig, oder nur ein paar, weil die Bundeswehr ja ohnehin nicht in der Lage ist, auch nur ihre eigenen Kasernen selbst zu bewachen? Oder wollen wir nun so weit aufrüsten, dass Deutschland zu einer solchen globalen moralischen Polizeitruppe werden kann? Ist so etwas wirklich ernst gemeint?

Nein, das ist es offensichtlich nicht.

Wann also wollen unsere pseudo-moralischen Eiferer nun in einen Krieg eintreten, und wann nicht? Es scheint noch Kriterien zu geben, die weniger in den Vordergrund gestellt werden, wenn wir uns gegenwärtig so erregen. Zum Beispiel gibt es immer wieder den zutreffenden Hinweis, dass die russische Aggression nicht irgendwo, sondern in Europa den Krieg zurückgebracht hat. Richtig, aber gibt es im Völkerrecht geheime Bestimmungen, nachdem es in manchen Regionen ernstgenommen werden müsste, in anderen nicht? Etwa so, als wären Bankraub und Vergewaltigung in Duisburg verboten, in Oberhausen aber irgendwie nicht so wichtig? Wäre es so, dann würde das Recht seinen Rechtscharakter verlieren – und völkerrechtliche Argumente damit als bloßes Gerede entlarvt. Oder sind humanitäre Katastrophen in Europa als schlimmer zu betrachten als anderswo? Dann würde man allerdings die Menschen in schützenswerte und nicht so schützenswerte einteilen, was vom Rassismus nicht mehr zu unterscheiden wäre. Weiße EuropäerInnen (wie UkrainerInnen) verdienen unseren militärischen Schutz, Menschen aus dem Kongo aber nicht. Ist es das, was wir wollen? Lieber Herr Putin, können Sie bitte Ihre völkerrechtswidrigen Aggressionskriege außerhalb Europas führen? Dort scheint das ja zur Folklore zu gehören, aber wir Europäer möchten mit so etwas lieber nicht behelligt werden.

Oder geht es vielleicht doch darum, unsere Moral militärisch nur gegen unsere Gegner und Feinde einzusetzen, und nur wenn es auch nützlich ist? Also gegen die Taliban, gegen den Kriegsverbrecher Putin, aber nicht gegen unsere Freunde und Partner, auch wenn sie das Völkerrecht brechen oder Massaker anrichten? Also nicht gegen Washington, nicht gegen Riyad, nicht gegen Tel Aviv, oder – rückblickend – nicht gegen Paris, als es seine blutigen Kolonialkriege führte? Würden wir das heute tun und Flugverbotszonen über Algerien und Vietnam durchsetzen, um die kolonial unterworfene Bevölkerung vor überlegener Gewalt zu schützen? Vielleicht wäre das ja eine gute Idee, und moralisch sicher angebracht – aber es bleibt doch sehr schwer vorzustellen.

Drei Dinge liegen hier auf der Hand: Zuerst einmal, dass ein Anspruch der allgemeinen – auch gewaltsamen - Durchsetzung der hohen und lobenswerten moralischen Prinzipien sich nur auf Allmachtsfantasien und Größenwahn gründen kann. Zugleich oder in schneller Folge gegen alle Fälle völkerrechtswidriger Gewalt und humanitäre Katastrophen durch harte Sanktionen und militärische Mittel vorgehen zu wollen, würde jedes Land der Welt hoffnungslos überfordern, und Deutschland erst recht. Wer auch nur halbwegs bei Verstand ist, kann so etwas nicht ernst meinen. Deshalb stellt sich, zweitens, erneut die Frage nach den Kriterien, wann, wo, und unter welchen Umständen man denn wenigstens versuchen möchte, im äußersten Falle zur Kriegspartei zu werden, um Völkerrecht oder Humanität durchzusetzen. Und wann eben nicht. Drittens wird man sich eingestehen müssen, dass diese Kriterien politisch entschieden werden – und entschieden werden müssen. Und eine politische Entscheidung impliziert, dass sehr unterschiedliche Variablen einbezogen werden (und werden müssen), nicht nur die Situation in einem dritten Land oder einer akuten Krise: humanitäre, rechtliche, bündnispolitische, innenpolitische, wirtschaftliche, psychologische, und andere. Man kann der Ukraine sicher nicht vorwerfen, andere Länder dazu zu drängen, sie bis an den Rand der eigenen Kriegführung zu unterstützen, oder sogar darüber hinaus. Die Ukraine kämpft unter schwersten Opfern um ihre Existenz und gegen die Gefahr, durch den russischen Diktator annektiert zu werden. Andere Länder in den Krieg hineinzuziehen, würde ihr militärisch und politisch sicher helfen. Aber zu glauben, dass andere Länder verpflichtet wären oder dass es vernünftig wäre, sich schrittweise in einen Krieg anderer hineinziehen zu lassen (politische und finanzielle Unterstützung, Waffenlieferungen, Flugverbotszone, „humanitäre Truppen“ am Boden zur Absicherung der Waffenlieferungen und humanitären Hilfe, begrenzte Kampfeinsätze, und so weiter) wäre absurd. Wer nur ein wenig von den Dynamiken militärischer Eskalation weiß, dem ist klar, dass solche Eskalationsprozesse nicht einfach nach Belieben wieder gestoppt werden können, sondern leicht außer Kontrolle geraten. Die Verantwortung dafür lässt sich nicht an die ukrainische (oder eine andere) Regierung delegieren, die muss man schon selbst wahrnehmen.

Schließlich muss auch daran erinnert werden, dass eine militärische Eskalation – etwa durch eine Flugverbotszone – keinerlei Garantie auf Erfolg in sich trägt. Eskalation in einem Bereich kann absehbare oder völlig überraschende Ergebnisse (und eben nicht nur eine Antwort der Gegenseite) nach sich ziehen, die zu ganz anderen Ergebnissen führen als zuvor intendiert. So hat die überwältigende Übermacht der USA es weder im Irak noch (gemeinsam mit der NATO) in Afghanistan vermocht, die Kriege zu gewinnen, trotz aller Luftüberlegenheit. Militärische Eskalation kann erfolgreich sein oder scheitern, sie kann entscheidend sein oder in eine Sackgasse führen. Vorsicht dabei zu unterstellen, dass eine bestimmte Eskalationsmaßnahme sicher zum Erfolg führt – sie kann genauso gut andere nach sich ziehen, deren Effekt insgesamt kaum berechnet werden kann. Auch in diesem Fall: Ob ein Land bereit ist, sich anderswo auf solche Risiken einzulassen – das muss es schon selbst (und nach politischen Kriterien) entscheiden und kann es nicht an eine der Kriegsparteien delegieren.

Wenn wir abschließend noch einmal konkret auf den Ukrainekrieg zu sprechen kommen, dann scheint mir folgendes angebracht:

  •          Ein Verzicht auf unbedachtes, sich moralisch gebendes Geschwätz, das die Folgen des eigenen Handelns nicht mitreflektiert. Wer eine Flugverbotszone fordert sollte auch angeben können was zu tun wäre, wenn Russland daraufhin eine Radarstellung oder Militärflugplatz in Polen oder Rumänien angreift. Und die Tatsache früher gemachter politischer Fehler, etwa eine Fehleinschätzung der Putin’schen Politik, ist keine Ausrede für haltloses Gerede heute, etwa über einen „Regime Change“ in Russland. Sondern sollte eher Anlass für Vorsicht und Demut im Urteil sein.

  •          Sanktionen sind gut und richtig, um die Kosten der russischen Aggression zu erhöhen. Harte und schmerzhafte Sanktionen sind noch besser. Aber zugleich müssen sie so angelegt werden, dass sie innen- und außenpolitisch sowie wirtschaftlich über lange Zeit auch durchgehalten werden können. Gegenwärtig trägt die Bevölkerung mehrheitlich harte Sanktionen mit. Das ist schön. Aber was soll werden, wenn ein Erdgasboykott tatsächlich die Energieversorgung ernsthaft beeinträchtigt oder noch mehr der Lieferketten unterbricht (etwa in der chemischen Industrie), die sich noch nicht von der Pandemie erholt haben? Wenn er hunderttausende von Arbeitsplätzen kosten würde und die Inflation sich noch massiv verschärft? Dann würde die Unterstützung schnell in sich zusammenfallen. Daraufhin Sanktionen zurücknehmen zu müssen wäre völlig kontraproduktiv. Man sollte Sanktionen nur dann verhängen, wenn man sicher ist, sie selbst durchhalten zu können.

  •         Eine materielle Unterstützung der Ukraine ist sinnvoll und nötig. Dies bezieht sich nicht allein auf humanitäre und finanzielle Hilfe, sondern auch auf Waffenlieferungen. Dabei scheinen mir schrittweise auch schwerere Waffen durchaus angebracht. Nicht, weil Waffen an sich eine Lösung darstellten, sondern weil die ukrainischen Streitkräfte sie offensichtlich unerwartet wirksam zu nutzen verstehen, um sich der Aggression zu erwehren. Sie könnten mehr davon gut brauchen.

  •          Kein eigenes Eintreten in den Krieg, und keine direkte, personelle Kriegsbeteiligung. Eine Ausweitung oder Eskalation des Krieges wird seine humanitären Folgen nicht vermindern, und wenn auch die Gefahr einer Eskalation über die atomare Schwelle gegenwärtig gering ist, so ist sie doch vorhanden. Ein Krieg zwischen NATO und Russland wäre noch weit schlimmer als der gegenwärtige Aggressionskrieg gegen die Ukraine. Und ein solcher Krieg würde kaum absichtlich begonnen, sondern am ehesten durch eine außer Kontrolle geratene Eskalation.

  •          Eine bessere Ausstattung der Bundeswehr ist vermutlich erforderlich, aber sie sollte von einer realitätstüchtigen neuen Sicherheitsstrategie abhängig gemacht werden. Soll die Bundeswehr sich zukünftig wegen Putin wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren oder darauf beschränken? Oder sollte sie weiterhin Teil von Interventionen weit außerhalb des NATO Bündnisgebietes sein? Warum eigentlich, nach den ernüchternden Erfahrungen in Afghanistan und anderswo? Oder gar beides zugleich? Auf welche Art soll sie ihre neuen Aufgaben erfüllen – und welche Struktur und Ausrüstung braucht sie dazu? Erst wenn diese Fragen geklärt sind lässt sich ernsthaft über den nötigen finanziellen Rahmen sprechen – vorher handelt es sich um politisch demonstrative Akte, die eine Aufrüstung einleiten, ohne wirklich zu wissen wofür. Solche Blankoschecks sind keine Sicherheitspolitik. Soll die Bundeswehr der Zukunft beispielsweise primär die eigene Sicherheit (und die der Bündnispartner) gegen Putin’s Möchtegern-Imperium gewährleisten, dann sollten unsinnige und weitgehend ziellose Einsätze wie in Afghanistan (oder Somalia oder anderswo) ausgeschlossen werden. Gegenwärtig sieht es leider so aus, als wollte sich die Bundesregierung mit sehr viel Geld für Aufrüstung von ihrem schlechten Gewissen gegenüber den Bündnispartnern befreien und eine allgemeine Wende in der Sicherheitspolitik einleiten, ohne angeben zu können, wohin die Reise gehen soll. Das wäre keine gute Idee. „Zeitenwende“ darf nicht bedeuten, die Tradition einer friedensorientierten Sicherheitspolitik vollends aufzugeben und zu einer des 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Friedenspolitik muss neu durchdacht werden, richtig. Aber sie gehört ins Zentrum der Politik, nicht auf den Müllhaufen.

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